32. Kapitel

Havanna 2012

Als Duardo an diesem Abend die Wohnung betrat, sah er aus wie ein gebrochener Mann. Rosalyn fuhr hoch – sie hatte am offenen Fenster gesessen, auf Tácitos Lieblingsstuhl. Sie war in der Sonne des späten Nachmittags tatsächlich eingedöst. Tácito hatte den defekten Stuhl selbst repariert, indem er eine neue Sitzfläche aus Schnur gewebt hatte, sodass er wieder brauchbar war. Er hat so vieles in Ordnung gebracht, was an meinem Leben verkehrt war, dachte sie.

»Hallo, mein Sohn.« Wie üblich stand die Tür offen, damit es ein bisschen Durchzug gab, und sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, das schmiedeeiserne Gitter abzuschließen. Schwerfällig setzte sich Rosalyn auf und versuchte, die Mischung aus Träumen und Erinnerungen abzuschütteln, die sie sowohl quälte als auch tröstete.

»Hallo, Mami«, sagte Duardo, aber er sah sie kaum an.

»Möchtest du Kaffee? Ein Bier?« Langsam stand sie auf. Heutzutage konnte sie sich nicht mehr schnell bewegen. Sie konnte kaum glauben, wie flink sie früher in der Wohnung herumgesaust war, um die Hausarbeit zu erledigen. »¿Algo para comer?« Etwas zu essen?

Er brummte. »Nur ein Bier. Ich hol’s mir selbst.«

Behutsam schob sie ihn beiseite und auf den Stuhl zu, den sie gerade geräumt hatte. Es war nicht viel, aber sie wollte noch in der Lage sein, diese Kleinigkeiten für ihn zu tun.

Sie nahm die Dose aus dem laut brummenden russischen Kühlschrank und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie reichte sie ihm.

»Danke.« Er riss die Lasche ab und trank gierig.

Was konnte passiert sein? Rosalyn erinnerte sich an den Entschluss, den sie am Strand von Cayo Levisa gefasst hatte, und an Luis’ schuldbewusste Miene kürzlich beim Abendessen. Sie hatte versucht, zuerst mit Federico und dann mit Benita zu reden, aber beide hatten nicht viel gesagt. Federico hatte wie immer lässig mit den Schultern gezuckt. »Es kommt sowieso bald raus«, hatte er gesagt. »Aber es ist nicht meine Sache, darüber zu reden.«

»Über was denn?«, hatte Rosalyn ihn gefragt. »Worüber willst du nicht reden?« Wieder sein lässiges Schulterzucken, und dann war er weggegangen.

Benita war auch nicht entgegenkommender gewesen. Sie hatte ein Schluchzen unterdrückt und das Gesicht abgewandt. »Das ist der Lauf der Dinge«, hatte sie gesagt. »In dieser modernen Welt.«

Rosalyn war frustriert. Sie hatte immer über alles Bescheid gewusst, was in ihrem Haushalt vorging, und jetzt sah es aus, als entglitten ihr tatsächlich die Zügel. Hatte sie noch die Kraft, sie festzuhalten? Sie fürchtete, nicht. Aber sie spürte, dass sie die Wahrheit nur allzu bald erfahren würde.

Was konnte passiert sein? War etwas mit Federico? Mit Luis? Rosalyn hielt sich an der Tischplatte fest. In dieser Verfassung, mit dieser ausdruckslosen Miene hatte sie Duardo nicht mehr gesehen seit … nun ja, seit dem Tag, an dem er endlich aus den Bergen zurückgekehrt war und festgestellt hatte, dass das Leben, für das er gekämpft hatte, nicht mehr existierte. Elisa Fernández García war fort. Rosalyn hatte sich gewünscht, dass es so ausgehen würde, das konnte sie nicht abstreiten, aber sie würde Elisa nie verzeihen, dass sie so leicht aufgegeben hatte.

»Geht es dir gut, Sohn?« Rosalyn sah sich um, aber Jaquinda war nicht da, und außerdem, was hätte die schon ausrichten können? Sie war immer häufiger nicht zu Hause – Rosalyn wünschte, sie würde ganz ausziehen. Konnte es etwas mit ihr zu tun haben? Aber nein, dazu machte Duardo sich zu wenig aus ihr. »Was ist passiert?« Federico und Benita waren nicht da, und auch Luis nicht. Duardo und sie waren allein.

Duardo trank die letzten Tropfen aus der Bierdose. Er stand auf, stapfte zur Tür und warf die leere Dose ins Küchenspülbecken. Rosalyn zuckte zusammen. Als er sich wieder umdrehte, glühte sein Blick vor Zorn.

»Alles, wofür wir gekämpft haben«, schimpfte er, »alles, wofür ich gearbeitet habe.«

Rosalyn wartete, obwohl sie das Gefühl hatte, sich kaum aufrecht halten zu können. »Was?«, flüsterte sie. Und jetzt war sie froh, dass sie es nicht wusste. Es war schlimmer, als sie befürchtet hatte.

Duardo kam näher. Behutsam legte er die Hände auf ihre Schultern und sah ihr ins Gesicht. »Luis wird mein Geschäft nicht übernehmen, wenn ich aufhöre zu arbeiten«, erklärte er steif. »Er hat kein Interesse daran.« Er ließ sie los und trat ans Fenster.

Rosalyn runzelte die Stirn. Seit wann das denn? Von klein auf hatte Luis seinen abuelo verehrt, war seinem Großvater auf Schritt und Tritt gefolgt und hatte den rot-weißen Chevrolet liebevoll poliert, bis er glänzte. Und dafür hatte Duardo ihn alles gelehrt, was er wusste. Duardo hatte sich das alles natürlich selbst beigebracht. Aber sie wussten beide, dass sein Enkel es noch besser konnte. Er war jung, er war charmant. Was konnte da schiefgegangen sein?

»Was will er denn sonst tun?«, flüsterte Rosalyn. Sie konnte es sich nicht vorstellen.

Duardo ballte die Fäuste. »Er wird uns verlassen, Mami«, sagte er. »Ich dachte, er sei unser leuchtender Stern, aber er wird uns verlassen.« Er sah aus dem Fenster auf die Straße draußen, als sähe er Luis, der schon unterwegs war.

»Uns verlassen?« Was sagte er da? Aber da fiel Rosalyn Benitas unterdrücktes Schluchzen ein.

Duardo richtete sich gerader auf. »Mein Enkel bewirbt sich um ein Visum, um unser Land zu verlassen«, erklärte er. Er drehte sich wieder zu ihr um.

»Oh.« Rosalyn war wie vor den Kopf geschlagen. Viele Jahre lang war es allzu einfach gewesen, aus Kuba auszuwandern – und dann war es unmöglich geworden. Sie wusste, dass es immer noch schwierig war und dass es viel bürokratischen Kram und lange Wartezeiten gab. Raúl Castro hatte die Gesetze allerdings ein wenig gelockert. Und jetzt …

»Aber wohin will er denn?« Was Rosalyn anging, konnte sie nicht verstehen, warum jemand den Wunsch haben sollte, Kuba zu verlassen. Die Zeiten waren schwer – wenn auch nicht so schwer, wie sie früher einmal waren. Aber letzten Endes war es ihre Heimat.

»Spanien.« Duardo spuckte das Wort praktisch aus. Er trat vom Fenster weg und kam wieder auf sie zu.

»Spanien?« Rosalyn wurde schwindlig. Sie streckte den Arm aus und hielt sich an einer Stuhllehne fest. Sie konnte nur noch an ihre Großmutter und die Geschichten denken, die sie über die Plantagen und deren spanische Besitzer erzählt hatte. Zu Anfang hatten in Kuba Indianer gelebt. 1492 war Columbus gekommen und hatte es erobert. Weil aber so viele Indianer im Krieg und an Krankheiten starben, die in ihr Land eingeschleppt wurden, brauchten die Spanier neue Arbeiter – für den Tabak und für den Zucker. Und so sahen sie sich in Afrika um. Rosalyns und Tácitos Familien stammten von den afrikanischen Yoruba ab. Sie waren mit Sklavenschiffen gekommen, auf denen Männer und Frauen angekettet, gefoltert und, wenn sie zu krank wurden, über Bord geworfen wurden. Sie kamen, um für die Spanier zu arbeiten. Es gab gute und schlechte Spanier. Gute und schlechte Herren. Mit der Zeit hatten sich die Rassen vermischt, und heute waren sie alle Kubaner. Das war der Lauf der Welt. Macht. Krieg. Integration. Zuerst Duardo, dachte sie, und jetzt Luis. Aber was sollte er dem Jungen sagen? Er war sein Großvater, und auch er hatte für sein Recht gekämpft, unabhängig zu sein. Dasselbe Recht konnte er Luis nicht absprechen.

»Wie will er denn nach Spanien kommen?«, fragte sie »So einfach ist das immer noch nicht. Er hat kaum Geld. Keinen Job. Seine Arbeit ist hier, bei dir.«

»Jemand hat ihm eine Stelle angeboten«, erklärte Duardo, »jemand, den er in meinem Taxi kennengelernt hat.« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch neben ihnen und fluchte lästerlich.

Rosalyn zuckte nicht mit der Wimper. »Wer?«, fragte sie.

»Spielt das eine Rolle?«, fauchte er. »Der Kerl war beeindruckt von seinem Auftreten – das ich ihm beigebracht habe. Er war von seinen Sprachkenntnissen beeindruckt – die ich gefördert habe. Alles hat ihn beeindruckt – einschließlich meines verdammten Autos.«

»Und deswegen hat er ihm einen Job angeboten? Einfach so?« Die Welt war wirklich seltsam, dachte Rosalyn.

»Er hat dem Jungen Flausen in den Kopf gesetzt.« Duardo seufzte. »Er hat ihm erzählt, als Reiseleiter könne er um die Welt gondeln. Hat ihm gesagt, er würde seine Fähigkeiten vergeuden, wenn er hier bei uns lebt, für mich arbeitet und einen Hungerlohn verdient.« Er schüttelte den Kopf. »Er hat ihm erzählt, wie viel er verdienen, wohin er reisen und was er alles sehen könnte.«

Rosalyn nickte. Jetzt verstand sie. Die Welt veränderte sich, und jetzt war es Duardo, der zurückblieb. Aber Luis war jung, er gehörte in diese neue Welt. »Aber das wäre eine wunderbare Erfahrung für ihn«, sagte sie, fast zu ihrer eigenen Verblüffung.

Duardo starrte sie an. »Was? Was sagst du da?«

Rosalyn strich ihren Rock glatt und reckte sich. Ja, sie hatte ihren Sohn immer unterstützt, aber jetzt fühlte sie sich in ihrer Loyalität hin- und hergerissen. Duardo würde für sie immer an erster Stelle stehen, doch sie war alt genug, um zu erkennen, dass er noch stärker verletzt werden würde, wenn er versuchte, Luis zurückzuhalten, und ihm seinen Segen nicht gab. Luis war ein lieber Junge. Er erinnerte sie so sehr an Duardo. »Du und ich, wir hatten diese Möglichkeit nicht«, sagte sie. »Nicht mal Federico. Aber Luis ist jung. Vielleicht hat er diese Chance verdient.«

Duardo schüttelte seinen grauen Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass du das sagst, Mami.« Und als er sie ansah, hatte sie das Gefühl, ihn verraten zu haben.

Sie breitete die Hände aus. »Ich auch nicht. Ich kann es auch nicht glauben.« Sie lächelte, und einen Moment darauf lächelte Duardo auch. Sie tätschelte ihm die Hand. »Ich weiß, wie du dich fühlst, und es ist schwer. Aber er wird zurückkommen. Wir werden ihn nicht verlieren.« Da war sie sich ganz sicher. »Er trägt Kuba in seiner Seele.«

»Und was wird inzwischen aus dem Geschäft?« Duardo sah immer noch sehr niedergeschlagen aus. »Es war alles für ihn, verstehst du?«

Rosalyn zuckte mit den Schultern. »Wir tun Dinge für unsere Verwandten, ohne vorher zu fragen, ob sie das auch wollen. Deswegen können wir auch nicht immer damit rechnen, dass man es uns dankt, weißt du?«

Duardo warf ihr einen scharfen Blick zu. Sie war sich nicht sicher, was er dachte. Aber er setzte sich an den Tisch, und sie stellte sich neben ihn und strich ihm übers Haar, wie sie es gern getan hätte, als sie in Cayo Levisa gewesen waren, wie sie es so oft getan hatte, als er ein Kind war.

»Wann bist du nur so weise geworden, Mami?«, fragte er sie.

Das war einfacher zu beantworten. »Als ich so alt geworden bin.« Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Du wirst arbeiten, bis du damit aufhörst, und dann wirst du das Auto und das Geschäft verkaufen«, sagte sie. »Du hast dich gut geschlagen im Leben. Ich bin stolz auf dich, und dein Vater wäre es auch. Und du hast Luis den besten Start ermöglicht, den ein Großvater seinem Enkel geben kann. Jetzt kann er die Flügel ausbreiten und fliegen.«

»Was würde ich nur ohne dich anfangen, meine liebe Mami?« Duardos Worte klangen gedämpft durch seine Fäuste. »Du bist die Einzige, die mich nicht verlassen hat.«

Aber darauf gab Rosalyn keine Antwort. Sie hatte das Gefühl, dass es nicht lange dauern würde, bis er es herausfand.