Aus dem Krug in der Küche goss Grace sich Eiswasser ein. Sie trank durstig und spritzte sich dann etwas davon in den Nacken. Mitternacht war lange vorüber, aber die Party war noch in vollem Gang, und die Nacht draußen war warm und feucht. Kuba war ein beeindruckendes Erlebnis gewesen, dachte sie. Aber wohin ging man in Havanna, wenn man einfach nachdenken wollte? Sie schlüpfte durch die andere offene Tür, die zu einer kleinen Treppe führte, einen Gang entlang, durch einen anderen Hinterhof und dann auf die Straße. Am Tor stand ein Mann und zuckte zusammen, als sie näher kam.
»Guten Abend«, sagte Grace auf Spanisch. »Tut mir leid, Sie zu stören.« Denn er war offensichtlich tief in Gedanken versunken gewesen.
»Guten Abend.« Er tippte an seinen Hut. »Und Sie stören mich nicht.« Er lächelte.
»Wollen Sie zur Party?« Er sah nicht so aus. Vielleicht wohnte er hier und war herausgekommen, um Luft zu schnappen, oder vielleicht fühlte er sich durch die Party gestört? Es konnte ja nicht jeder in Kuba ein Partylöwe sein.
»Nein«, sagte er. »Und Sie? Sind Sie vielleicht von der Party geflüchtet?« Wieder lächelte er. Sie fand, dass er ein nettes Lächeln hatte.
»Ich bin nur eine Minute nach draußen gegangen, um nachzudenken«, sagte sie. Etwas an diesem Ort, der Dunkelheit der frühen Morgenstunden, der Musik aus dem Hof nebenan und dem Plaudern und dem Gelächter, das in die Nachtluft aufstieg, machte Vertraulichkeiten akzeptabel.
»Verstehe.« Er nickte ernst. »Sie sprechen Spanisch, aber ich nehme an, Sie sind Engländerin?«
»Ja. Ich hab hier zwei Wochen Urlaub gemacht«, erklärte sie. Obwohl es nicht ganz die Art von Urlaub gewesen war, die sie erwartet hatte. Irgendwann hatte sie dabei beide verloren – Elisa und Theo. Von jetzt an würde Grace auf sich gestellt sein. Es würde eine Herausforderung werden, aber sie musste an ihre eigene Kraft glauben.
»Ah, Urlaub. Dann sind Sie Touristin.« Er nickte.
»Irgendwie schon. Ich wohne bei meiner Stiefmutter. Sie lebt hier. Aber ich reise morgen ab.«
In der Dunkelheit war seine Miene nicht zu deuten. »Ihre Stiefmutter, sagen Sie?«
»Ja. Sie heißt Elisa. Vielleicht kennen Sie sie ja?«
»Und was halten Sie von unserem Land?«, fragte er. »Wie finden Sie unsere Stadt, Havanna?«
Sie hörte den Stolz in seiner Stimme.
»Alles ist so lebendig«, sagte sie. »Ich kann verstehen, dass das Leben manchmal schwer ist, aber die Menschen lächeln so viel. Sie sind alle so herzlich und freundlich.«
Er lachte kurz auf. »Das stimmt wohl«, sagte er.
Grace fragte sich, ob sie etwas Falsches gesagt hatte. »Gehen Sie zu der Party?«, fragte sie ihn.
»Das bezweifle ich«, gab er zurück. »Ich bin nicht eingeladen, verstehen Sie?«
»Ach, das macht doch nichts.« Grace zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir sicher, dass Sie willkommen sind, wenn Sie hier aus der Gegend sind.« Sie lachte. »Oder sogar, wenn Sie es nicht sind.«
»Grace …«
Sie hörte, wie jemand ihren Namen rief, und warf einen Blick über die Schulter. Theos Stimme. »Hier draußen«, rief sie. Sie sah den Mann an, mit dem sie geplaudert hatte, und spürte, wie sie rot wurde.
»Dann leben Sie wohl, Grace«, sagte er. »Und gute Heimreise. Hasta luego. Es war schön, Sie kennenzulernen.«
Er streckte die Hand aus, und sie legte ihre hinein. Sie fühlte sich warm und stark an. Und er strahlte etwas Besonderes aus. »Sie sollten zu der Party gehen«, sagte sie. »Vielleicht haben Sie ja Spaß. Man weiß nie.«
Sie sah zu, wie er die Hand zum Gruß hob und davonschlenderte.
»Da bist du ja«, sagte Theo. »Wolltest du weglaufen?« Er blieb neben ihr stehen, dicht neben ihr, so nah, dass sein Arm beinahe ihren berührte, seine Hüfte fast ihre streifte, so nah, dass sie seinen Duft wahrnahm. Er hatte sich nicht verändert. Rote Äpfel und Pfeffer, etwas unbestimmt Karibisches und Teerseife.
»Nein«, sagte sie. Sie sah zu ihm auf. »Ich musste nur einen Moment allein sein.« Einen Moment weg von der Party, weg von den Menschen, einen Moment, um sich zu sammeln und innerlich auf ihre Abreise vorzubereiten.
»Was hast du vor, Grace?«, fragte Theo sie.
Sie spürte, dass er auf ihrer Wellenlänge war. Wahrscheinlich machte er sich jetzt Sorgen um sie und hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sie zurückgewiesen hatte. Sie wusste, dass er sie noch gern mochte. Theo war kein Mann, der derart lieben und dann einfach vergessen konnte. »Du brauchst dir keine Gedanken zu machen«, erklärte sie. »Ich gehe zurück nach Bristol. Baue weiter meine Praxis auf. Mein Leben. Seit Robbie gegangen ist, habe ich schon damit angefangen.«
»Ich weiß.« Seine Stimme war leise. Sie spürte, wie sein Atem über ihre Wange strich.
»Woher weißt du das?«
»Ich hab dich im Auge behalten«, sagte er. »Sieh mich nicht so entsetzt an.«
Tat sie das? Grace dachte an all die Gelegenheiten, bei denen sie geglaubt hatte, ihn zu sehen. »Ich habe keine Angst«, gab sie zurück. Zumindest nicht mehr. »Und was ist mit dir?«, fragte sie. »Was willst du hier machen? Meinst du, du wirst eine Arbeit finden?«
»Ich glaube nicht, dass ich Zeit dazu habe«, erklärte er. Er war ihr noch näher gekommen. Irgendwie hatte er ihre Hand genommen.
Grace war verwirrt. »Warum nicht? Was hast du sonst vor?«
»Ich fliege morgen zurück nach England.«
Morgen. Grace fiel es schwer, das zu begreifen. In dem Hof nebenan hatte der Partylärm kurz nachgelassen, und sie war sich bewusst, dass die Band jetzt langsamer spielte. Aber ihr Herz schlug schnell genug, um das mehr als auszugleichen.
»Komm hier rüber, Grace.« Theo führte sie hinauf zu der kleinen Terrasse des Hauses, wo in der Ecke ein Pfauenstrauch stand. Von hier aus konnten sie die Party und die Musiker im Hof aus der Vogelperspektive beobachten. »Das ist die beste Stelle«, meinte er. »Wir können sie sehen, aber sie uns nicht.«
Einmal Zauberer, immer Zauberer. Grace sah hinunter. Sie konnte Elisa erkennen. In ihrem mimosengelben Kleid, mit der Schmetterlingsblume im Haar, stand sie ein wenig entfernt von den anderen da. Und hinter ihr stand ein Mann – der Mann, mit dem Grace gerade gesprochen hatte. Sie sah, wie er sich nach vorn beugte und etwas zu Elisa sagte. Sie sah, wie Elisa herumfuhr. Sie sah, wie die beiden einander anstarrten. Sie sah, wie sie zu tanzen begannen, sich langsam zum Rhythmus der Musik wiegten und einander tief in die Augen sahen. »Duardo«, murmelte sie.
»Duardo?« Theo runzelte die Stirn.
»Nichts.« Grace schüttelte den Kopf. Sie starrte Theo an. »Also bleibst du doch nicht in Kuba?«
»Nein. Habe ich das je behauptet?« Er nahm ihre Hände in seine. »Wahrscheinlich habe ich gerade noch Zeit, eine Rumba zu tanzen«, sagte er.
»Rumba?« Seine Worte ergaben nicht viel Sinn. Aber Grace machte sich keine Sorgen. Sie fühlte sich ruhiger denn je. Das war Theo, der immer in Rätseln sprach. Die Bedeutung verbarg sich irgendwo. Sie vertraute darauf, dass sie beide sie finden würden.
»Anscheinend kommt es nur auf das Timing an.« Sie standen einander gegenüber. Er legte den rechten Arm um sie und ließ die Handfläche auf ihrem rechten Schulterblatt ruhen.
»Ich glaub schon.« Sie legte die linke Hand auf seine Schulter.
»Und für uns, Grace, war beim ersten Mal das Timing nicht so toll.«
»Nein.« Grace versuchte, sich wieder zu konzentrieren. Sie hörte den Rhythmus des Schlagzeugs. Was meinte er? Was wollte er ihr sagen?
»Aber dieses Mal.« Mit einer fließenden Bewegung zog er ihre andere Hand hoch. »Bist du dir dieses Mal sicher? Weil ich das nämlich nicht noch einmal ertragen könnte. Dich zu verlieren, meine ich.«
»Ich bin mir sicher.« Sie trat so nahe an ihn heran, dass ihr Körper sich fest an seinen schmiegte. Sie mochte dieses Gefühl, immer schon. »Und ich war mir immer sicher, Theo. Das weißt du.« Er war doch der Zauberer, oder? Und Grace hoffte, dass sie die betreffende Dame war.
»Möchtest du tanzen?« Und dann beugte er sich zu ihr herunter, sie reckte sich ihm entgegen, und dann wusste sie nicht, ob sie tanzten und sich dabei küssten oder ob sie sich küssten und dabei tanzten. Aber was immer es war, es war das Schönste überhaupt.