3. Kapitel

»Na, Theo«, sagte Elisa, »wo hast du dich versteckt?«

»Versteckt?« Einen Moment lang lag in seinen dunklen Augen ein Ausdruck, den sie nicht deuten konnte, dann setzte er sein strahlendes Lächeln auf, und der Eindruck war verschwunden. »Du weißt doch, was man so sagt, Elisa.«

»Nein, das weiß ich ganz bestimmt nicht.« Bei diesen Worten lächelte, winkte und nickte Elisa weiter, um die Gruppenmitglieder zu verabschieden. Sie vermutete, dass Theo ebenfalls auf dem Sprung war, aber woran hätte sie das erkennen können? Er war schon immer ein unruhiger Geist gewesen.

Er beugte sich näher zu ihr. »Man sagt, dass Zauberer sich besser als andere darauf verstehen, etwas zu verstecken.«

Hm. Sie verstanden sich jedenfalls gut darauf, rätselhaft zu erscheinen, und waren nicht weniger exzellent darin, zu verhindern, dass man wusste, was sie dachten. Das waren keine kubanischen Charakterzüge, also konnte sie nur annehmen, dass sie wirklich ins Reich der Magie gehörten. Sie beschränkte sich darauf zu sagen: »Ich hab dich einfach eine Weile nicht gesehen.« Er kam und ging, aber Elisa hatte sich Theo immer besonders verbunden gefühlt. Teils, weil sie aus demselben Land stammten, teils, weil er so gut mit ihrer Stieftochter und Robbie befreundet war, aber auch, weil Elisa ihn gern mochte. Theo war ein junger Mann, der andere gern auf den Arm nahm, aber sie spürte, dass er das Herz auf dem rechten Fleck hatte.

»Hast mich wohl vermisst, was?« Und da war es wieder, dieses Lächeln.

Elisa schnalzte mit der Zunge. »Natürlich. Du hast immer etwas Interessantes zu den Treffen beizutragen.« Zumindest war er das einzige Gruppenmitglied, das kubanisches Spanisch mit amerikanischem Akzent sprach.

Er lachte. »Wenn das so ist, werde ich mir Mühe geben, öfter zu kommen.« Er küsste sie leicht auf beide Wangen.

»Hm. Gut. Hasta luego.« Bis bald. Sie sah ihm nach, als er rasch davonging. Er war also nicht mit dem Auto gekommen. Er wandte sich in Richtung Castle Park und hatte einen langen Heimweg vor sich. Aber er war jung, und junge Leute besaßen grenzenlose Energie. Das waren noch Zeiten gewesen, was?

Elisa ging weiter an der imposanten Kirche mit ihrem hohen Turm und den gotischen Fenstern vorbei. Selbst war sie keine Kirchgängerin. Ihre Eltern hatten ihr Leben lang am Katholizismus festgehalten, aber Elisas religiöse Inbrunst war noch nie besonders groß gewesen. Sie war ihr als Teenager in Kuba nach und nach abhandengekommen, und nichts, was sie seitdem gesehen oder erlebt hatte, hatte sie dazu bewogen, zu ihrem Glauben zurückzukehren. Sie ließ den Blick über den goldbraunen Stein des Bauwerks schweifen. Im Vergleich dazu wirkte das kleine Gemeindezentrum, das daran angrenzte, geradezu winzig und bescheiden, aber es diente einem guten Zweck: Es beherbergte nicht nur ihre spanischsprachige Gemeindegruppe, sondern eine Kinderkrippe, eine Mutter-Kind-Gruppe und anderes. Elisa ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie ihren Liebsten vielleicht nicht verloren hätte, wenn es einen Gott gäbe. Konnte das wahr sein? Religiöser Glaube war eine Unterstützung, aber manche Menschen zogen es eben vor, sich allein durchzuschlagen. Es hatte allerdings Zeiten gegeben, da war sie versucht gewesen …

Sie spazierte über das dürre Gras des Kirchhofs und trat auf die Straße. Sie wollte zu Fuß in die King Street zurückgehen, weil es nicht weit war. Es war ein lebhaftes Treffen gewesen. Die Teilnehmer waren anständige Leute, und Elisa betrachtete es als ihre Pflicht, dafür zu sorgen, dass sie sich hier in England heimisch fühlten. Einige von ihnen waren Briten und wollten einfach ihre spanischen Konversationsfähigkeiten auffrischen, aber die meisten waren hergekommen, um in einen Neuanfang zu starten. Genau wie Elisa – damals, als sie erst achtzehn Jahre alt gewesen war. Das war, dachte sie jetzt, während sie den Tower Hill überquerte, so lange her, dass sie sich fast gar nicht mehr daran erinnern konnte. Aber nur fast. Damals hatte sie nicht viel mitzureden gehabt. Und als sie zum ersten Mal einen Fuß auf britischen Boden gesetzt hatte, wäre sie nie auf die Idee gekommen, dass sie jetzt noch hier sein und tun würde, was sie tat. Wirklich nicht. Es war ihr nie wie ein dauerhaftes Arrangement vorgekommen.

Sie ging über die Queen Street und passierte den kleinen Pub an der Ecke. Kurz meinte sie, am Fenster Theos dunklen Kopf zu sehen, aber im nächsten Moment war er verschwunden. Jetzt habe ich schon Halluzinationen, dachte sie. Was kommt als Nächstes? Sie kam an einem Gitarrenladen und einer Sandwich-Bar vorbei und natürlich an Grace’ und Robbies kleines Haus. Sie blieb stehen. Sollte sie an die Tür klopfen und einen Schwatz mit Grace halten? Wenn sie schon hier war, konnte sie auch gleich ihren Laptop abholen. Sie wusste, dass Robbie unterwegs war, bei irgendeiner Konferenz. Aber es brannte kein Licht, also musste Grace ausgegangen sein. Vielleicht sogar zur King Street. Sie beschleunigte ihre Schritte. Es sah mehr und mehr nach Regen aus.

Es war kalt, obwohl angeblich Frühling war. Elisa dachte an die Wärme der kubanischen Sonne. Noch so lange hin … In Bristol würde es bis April oder Mai kalt bleiben, und dann würde der englische Frühling zögernd und unentschieden in einen unruhigen Sommer übergehen: An einem Tag schien die Sonne, und der nächste brachte Wolken und Nieselregen. Bei diesem Wetter wusste man nie, woran man war – kein Wunder, dass die Leute so viel darüber redeten.

Elisa fröstelte trotz des Mantels mit dem Pelzkragen, den sie schon den ganzen Winter über getragen hatte, trotz ihrer Lederhandschuhe und gefütterten Stiefel, die sie noch nicht bis November wegräumen mochte. Mit vorsichtigen Schritten ging sie zum Kai hinunter, dann unter dem Torbogen entlang und beobachtete ein gelbes Fährboot, das gemächlich vorbeituckerte. Sie wurde allmählich alt. Sie spürte die Kälte viel stärker als mit achtzehn. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie könnte sich die Hitze der kubanischen Sonne nicht einmal mehr vorstellen – die Art, wie sie einem die Knochen wärmte, die Muskeln entspannte und das Herz erhellte. Und dann wieder war es, als sei das alles – Kuba, Duardo, das letzte Mal, als sie in Havanna Rumba mit ihm getanzt hatte – erst gestern geschehen.

Nach jener ersten Rumba mit Duardo im La Cueva, damals mit fünfzehn, war Elisa wie in einem Traum nach Hause gegangen. Sie hatte in ihrem schmalen Bett in der überfüllten Wohnung, in der die ganze Familie lebte, gelegen, die wackligen Fensterläden aufgestoßen, die Sterne am Nachthimmel betrachtet und jeden Moment des Tanzes noch einmal erlebt. Wieder hatte sie die Musik gehört, die in ihrem Kopf pulsierte, wieder Duardos Körper gespürt, der sich an sie drückte, und war fast in diesen eindringlichen Augen ertrunken. Und am nächsten Tag hatte er sie aufgespürt.

Von da an trafen sie sich regelmäßig. Damals, Ende der 1950er-Jahre, war das in Kuba kein Problem. Die Menschen machten sich größere Sorgen darum, dass sie genug zu essen hatten, als darum, was ihre Kinder trieben. Elisa und Duardo spazierten in dieser Zeit zwischen Hausierern, Karren und Straßenhändlern durch die halbe Stadt. Nicht durch ihr eigenes Viertel, sondern weiter draußen, wo sie niemand erkennen und Fragen stellen würde. Und sie verbrachten Stunden am Malecón – der Uferpromenade –, saßen nebeneinander am Strand, steckten die Köpfe zusammen oder beobachteten die braunen Pelikane, die in das aufgewühlte Meer tauchten. Dort hatte er sie zum ersten Mal geküsst – sanft am Anfang, forschend, und dann fordernder, und die Leidenschaft war über die beiden hereingebrochen wie die Brandung ans Ufer.

Bei der Erinnerung erschauerte Elisa. Das mochte zwar viele Jahre her sein, aber manchmal stand es ihr klarer vor Augen als der gestrige Tag. Dort hatte Duardo ihr auch von all seinen Träumen und Zielen erzählt. Wie sie gleich vermutet hatte, war er kein gewöhnlicher Junge. Er glaubte an die kubanische Revolution und an den Kampf ihres Landes um wahre Unabhängigkeit.

»Wusstest du«, hatte er Elisa eines Tages gefragt, und seine dunklen Augen glühten, »dass an dem Tag im Jahr 1898, als Spanien Kuba die Unabhängigkeit gewährte und der Vertrag von Paris unterzeichnet wurde, über Havanna die US-Flagge und nicht die kubanische Fahne wehte?« Er trug seinen Hut gewöhnlich schief aufgesetzt, sodass ein Teil seines Gesichts immer im Schatten lag.

Sie schüttelte den Kopf und traute sich nicht, etwas zu dieser Tatsache zu sagen, die ihn so erzürnte. Aber sie wusste schon, dass Duardo sich nichts mehr wünschte, als mit den Rebellen zu kämpfen, an der Seite von Che Guevara und Fidel Castro. Er war bereit, sich für die Sache zu opfern. Das hatte er ihr gesagt.

»Und was dann?«, fragte Elisa ihn. Damals hatte sie wenig Interesse an Politik gehabt. Sie war fünfzehn Jahre alt und zum ersten Mal bis über beide Ohren verliebt. Sie wollte etwas über Liebe und Romantik hören. Was empfand er für sie? Das wollte sie wissen.

»Dann wird unser Leben besser werden«, erklärte Duardo. Er streckte die Beine aus, nahm einen Kieselstein und warf ihn in Richtung Wasser.

»Du meinst, wir haben dann mehr zu essen?« Elisa konnte nicht weit darüber hinausdenken. Sie schlang die Arme um die Knie und sah zum purpurn angehauchten Horizont hinaus. Ihre Familie, die Fernández García, war einmal relativ wohlhabend gewesen – ihr Vater sprach immer noch oft davon. Elisas Vorfahren hatten östlich von Havanna auf dem Land eine Zuckerrohrplantage betrieben, bis die Amerikaner mit ihren teuren Maschinen und ihren neumodischen Ideen herübergekommen waren und sie mehr oder weniger gezwungen hatten, ihnen das Land zu überlassen, indem sie sie langsam vom Markt verdrängten. Elisas Familie konnte einfach nicht mithalten. Die Branche war im Umbruch, und sie konnten unmöglich mit den US-amerikanischen Plantagenbesitzern konkurrieren. Elisas Vater – der sonst wohl die Plantage geerbt hätte – war stattdessen Page in einem protzigen Hotel in Havanna geworden und hatte die Amerikaner bedient, die sie alle hassten. Das musste eine schreckliche Demütigung für ihn gewesen sein. Aber so war nun einmal ihr Leben, und Elisa hatte nie etwas anderes gekannt. Wenigstens hatte ihr Vater – anders als so viele andere – eine Anstellung. Wenigstens hatten sie ein richtiges Dach über dem Kopf. Wenigstens hatten sie zu essen.

»Mehr zu essen, ja. Aber noch wichtiger … Freiheit«, sagte Duardo. Er warf noch einen Kieselstein und sah zu, wie er über die Wellen hüpfte. »Wir werden frei sein, Elisa, denk doch. Wir werden frei sein.«

»Und werden wir auch frei sein, um zusammen zu sein?«, fragte sie ihn schüchtern. Sie beschattete ihre Augen gegen die Sonne und sah ihn an, seine wie gemeißelten afrikanischen Züge, seine sinnlichen, vollen Lippen, die kleine Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. Sie war noch jung, aber das wünschte sie sich mehr als alles andere.

»Oh ja«, sagte er und richtete diese intensive Aufmerksamkeit, die sie liebte, wieder auf sie. Er umfasste ihre Schultern und küsste sie hart auf den Mund, bis sie das Gefühl hatte, sich gleich hier auf den Kieselsteinen aufzulösen und mit der Flut davongeschwemmt zu werden. Schließlich hatte er sich von ihr gelöst. »Wir werden zusammen sein, Elisa, darauf kannst du dich verlassen.«

Aber so einfach war das nicht gewesen, dachte Elisa jetzt, während sie in Richtung Castle Park ging. Vor ihnen lagen viele Hindernisse, und damals kannten sie nicht einmal die Hälfte davon. Sie waren nur ein Junge und ein Mädchen mit vollkommen verschiedenem Hintergrund, die Kubaner und frei sein wollten. Ein Junge und ein Mädchen, die verliebt waren. Betrübt schüttelte Elisa den Kopf. Mehr waren sie nicht gewesen.

Im Castle Park vor ihr erhob sich eine weitere Kirche – St. Peter’s –, die heutzutage verfallen war. In Bristol gab es so viele Kirchen, es grenzte an ein Wunder, dass sie alle voll waren – falls sie es denn waren. Elisa nickte einem Passanten grüßend zu und tätschelte den Golden Retriever, der neben ihm hersprang. Sie war immer noch fröhlich. Jedes der Treffen mit ihrer spanischen Gemeinde machten ihr Freude, und mittlerweile war es natürlich auch eine Erleichterung, aus dem Haus zu kommen. Ihre Miene veränderte sich, und sie wusste, dass ihr Lächeln verblasst war. Sie schlug den kürzeren Weg am Wasser entlang ein.

Philips Zustand verschlechterte sich, daran bestand kein Zweifel. Dieser dunkle Vorhang zeigte keine Anzeichen, sich zu heben. Aber abgesehen von ihrem Bedürfnis, aus dem Haus zu kommen, waren diese Treffen auch eine Art, die Verbindung aufrechtzuerhalten – nicht nur mit der spanischen Sprache, ihren Eigenarten, ihren Rhythmen und ihrem Tonfall, sondern auch mit dem kleinen Kreis spanisch sprechender Menschen, die hier lebten.

Elisa ließ den Blick über das Ufer schweifen und dachte wieder an all diese Hindernisse. Ihre unterschiedliche Herkunft war nur die erste Hürde gewesen, die Duardo und sie hatten überwinden müssen.

Als eine Tante ihm verriet, mit wem sich seine Tochter traf, war ihr Vater nicht einverstanden gewesen, und auch ihre Mutter hatte ihr Vorwürfe gemacht. »Es geht nicht darum, wer er ist«, hatte sie beharrlich behauptet, »sondern, dass ihr so jung seid.« Aber das war noch gar nichts gegen die Reaktion von Duardos Mutter gewesen, als die Wahrheit herauskam.

Elisa schüttelte den Kopf. Es war die Ironie des Schicksals, dass sie jetzt, nach allem, was geschehen war, in Bristol lebte. Bristol war eine Hafenstadt mit einer langen, historischen Verbindung zu allen Handelsgeschäften, in denen Kuba sich hervorgetan hatte, und es war eine kosmopolitische Stadt. Ja, viele Kaufleute hatten von hier aus Sklavenschiffe losgeschickt – Himmel, irgendwann war Bristol anscheinend der geschäftsträchtigste Hafen Großbritanniens gewesen, zumindest was Rum, Zucker und Sklaven betraf. Und man brauchte nur durch die Altstadt zu spazieren, um auf die Gebäude zu stoßen, die mit den Gewinnen aus diesem Handel erbaut worden waren. Aber Elisa war überzeugt davon, dass man alles in seinem Zusammenhang betrachten musste. Auch ihre Familie hatte einst eine Zuckerplantage in Kuba besessen, auch ihre Familie hatte früher Sklaven gehalten. Sie war nicht stolz darauf. Aber die Sklaverei – so brutal und unmenschlich sie auch gewesen war – war ein Teil ihrer Geschichte. Und der von Duardo. Doch die Welt hatte sich weiterentwickelt, zumindest wollte Elisa das gerne glauben.

Sie wandte sich in Richtung Hauptstraße und Bristol Bridge, und der Wind peitschte auf ihren Pelzkragen. Duardos Mutter hatte nicht geglaubt, dass die Welt sich weiterentwickelt hatte. Sie hatte alles getan, was sie konnte, um die Beziehung zu zerstören – und eine Zeit lang hatte sie Erfolg gehabt. Aber … Elisa lächelte in sich hinein. Wenn sie an Duardo dachte, würde es immer ein »Aber« geben. Sie hatten dieses Hindernis überwunden und getan, was unzählige Verliebte vor ihnen getan hatten, wenn ihre Eltern gegen ihre Beziehung gewesen waren: Sie waren zusammen davongelaufen.

Elisa ging weiter. Heute hätte sie nicht einmal rennen können, wenn sie es versucht hätte. Auf den Wegen im Castle Park schlenderten immer viele Menschen umher. Sie tranken Kaffee an dem kleinen Verkaufsstand auf dem Platz vor der Kirche, saßen auf den blauen Bänken und genossen die Aussicht auf das Wasser, die alten Lagerhäuser und die Brauerei dahinter. Natürlich fühlten sich die Menschen, die heutzutage aus dem Ausland hierherzogen, bis zu einem gewissen Grad fremd, genau wie es Elisa ergangen war und immer noch ab und zu erging, sogar nach all den Jahren. Spanisch zu sprechen sorgte dafür, dass sie lebendig blieb, die Sprache war ein Faden, der Elisa mit ihrem Heimatland verband. Es war ein schweres Leben gewesen, aber in vieler Hinsicht auch ein gutes.

Ihre spanischsprachige Gemeindegruppe hielt auch außer der Reihe kleine Treffen am Nachmittag ab. Manchmal sprachen sie über Politik, oft tranken sie starken Kaffee oder sogar englischen Tee, oder jemand brachte ein Instrument mit – eine spanische Gitarre, eine Conga-Trommel und ein paar maracas, Rumbarasseln –, und dann sangen sie auf Spanisch und lächelten sich an, denn Musik war ein direkter Zugang zur Seele und nährte sie wie nichts anderes auf Erden. Es war eine seltsame Mischung aus englischen, spanischen, kubanischen und südamerikanischen Bräuchen, dachte Elisa jetzt, als sie die Straße in Richtung Welsh Back am Hafen überquerte. Heute hatte eine junge Spanierin, die Flamenco unterrichtete, Tapas mitgebracht und jemand anderer einen weichen Rioja, und sie hatten beieinandergesessen, den schweren, im Eichenfass gereiften Wein getrunken und über Essen geredet. Sie lächelte. Es war ein angenehmer Nachmittag gewesen.

In Bristol sollte ein neues kubanisches Restaurant eröffnen. Sie hatten darüber spekuliert, wie erfolgreich es sein und wie wohlschmeckend und authentisch das Essen sein würde. Elisa fand, dass die kubanische Küche stark unterschätzt wurde. Briten, die auf die Insel gereist waren, klagten bei ihrer Rückkehr über das Essen in den Hotels, über die mangelnde Auswahl, die Einfachheit der Gerichte. Elisa runzelte die Stirn. So etwas machte sie wütend, denn es stimmte einfach nicht. Die Kubaner kamen mit wenig aus – was eine Kunst für sich war –, aber was sie nicht alles aus einer Handvoll Reis, ein paar Kichererbsen, einem Freiland-Huhn und ein paar schwarzen Bohnen zaubern konnten … Sie selbst bereitete immer noch viele der Gerichte zu, die Mami vor ihrem Tod gekocht hatte.

Ihre Mutter hatte, glaubte Elisa, immer der kubanischen Hitze nachgetrauert, dem Verlust ihrer Familie und eines Lebens, das nie das gewesen war, das sie erwartet oder sich gewünscht hatte. Qué frío, hatte sie gemurmelt, als sie zum ersten Mal einen Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte. Wie kalt … Und qué frío hatte sie immer wieder gemurmelt, bis zu dem Tag, an dem sie starb.

Papi hatte unermüdlich weitergekämpft und nie zugegeben, dass er enttäuscht von ihrem neuen Leben war – falls es denn so gewesen war. Er hatte mit der englischen Sprache gerungen, sie aber ausreichend gemeistert, um eine Anstellung als Schaffner bei der Eisenbahn zu finden, und darauf war er stolz. Es war nicht ganz das, was er vorausgesagt hatte, aber es war ein anständiger Job mit einer angemessenen Bezahlung. Hier in Bristol gab es jedenfalls mehr Arbeit, obwohl ein großer Teil davon Jobs für ungelernte Arbeiter waren, was lange Arbeitszeiten bedeutete. Auch aus anderen Ländern kamen Einwanderer nach Großbritannien, erfuhr Elisa – ihr Vater war mit seinen Ambitionen nicht der Einzige gewesen. Hier war der Lebensstandard höher. Im Vereinigten Königreich waren sich die Leute in der Regierung offenbar der Probleme bewusst, die durch mangelhafte Sozialwohnungen entstehen konnten, und sie wollten keine Gettos oder Abgrenzungen fördern. Doch der Kapitalismus erwies sich als Teil einer komplexeren Welt, und Elisa sah, wie ihr Vater darum kämpfte, die Konkurrenzaspekte dieses neuen Lebens in den Griff zu bekommen: die Bürokratie, die Tatsache, dass man sich hier nicht an den Staat wenden konnte – jeder war für seine eigene Zukunft und die seiner Familie selbst verantwortlich.

Er hatte es versucht. Aber nach Mamis Tod war der arme Papi in seinem neuen Leben nicht mehr mit dem Herzen dabei gewesen. Auch er war früh gestorben und hatte Elisa, als sie nur wenig jünger war als Grace heute, allein hier in Bristol zurückgelassen. Elisa hatte sich schon vor ihrer Zeit alt gefühlt. War es möglich, dass die eigene Jugend für immer an dem Ort gefangen war, den man zurückgelassen hatte?

Das war eine äußerst schwierige Zeit gewesen. Sollte sie zurückkehren? Darüber nachgedacht hatte sie auf jeden Fall. Sie hatte noch Verwandte in Kuba – die Schwester ihrer Mutter, ihre Tante Beatriz und einige Cousins und Cousinen. Freunde hatte sie bestimmt auch noch, obwohl sie einander aus den Augen verloren hatten.

Aber unterdessen hatte sich Elisa in England ein Leben aufgebaut. Sie hatte die englische Sprache erlernt, hier das College besucht und eine Lehrerausbildung absolviert. Sie hatte sowohl an Schulen als auch privat Spanisch unterrichtet, und ihr Einkommen war akzeptabel. Sie hatte auch Freunde gehabt – obwohl keiner von ihnen Duardo das Wasser reichen konnte –, und sie hatte ihre spanischsprachige Gruppe aus Freunden und Landsleuten. Sie hielt sich über die Ereignisse in Kuba auf dem Laufenden, war sich aber nicht sicher, ob sie zurückkehren sollte. Dort würde das Leben viel schwerer sein. Wenn sie ehrlich war, lag für sie immer noch Duardos Schatten über Havanna. Es hieß, die Stadt, in der man sich zum ersten Mal verliebe, habe einen für immer in der Hand … Sie war sich nicht sicher, ob sie je frei von ihm sein würde, wenn sie nach Kuba zurückginge.

Was für eine Ironie – nach allem, was bald danach geschehen war. Die bloße Anstrengung des Gehens ließ Elisa aufstöhnen. Der Fußweg vom Gemeindesaal in die King Street dauerte zwar nur eine Viertelstunde, aber sie war fast den ganzen Tag über auf den Beinen gewesen und wurde jetzt müde. Früher hatte sie den ganzen Tag gearbeitet und den ganzen Abend gekocht und geputzt, früher hatte sie mit Duardo im La Cueva die Nacht durchgetanzt … Aber die Zeiten, in denen sie getanzt hatte, waren vorüber. Das war ihr jetzt klar. Ja, sie wurde allmählich alt.

Sie überlegte, ob sie Philip überreden könnte, das neue kubanische Restaurant auszuprobieren. Vielleicht. Aber konnte sie es überhaupt riskieren, mit ihm auszugehen? Sein Alkoholkonsum stieg unkontrollierbar und zog ihn immer tiefer herunter. Inzwischen wusste sie nie, wann er gereizt oder ärgerlich werden würde, wann er in Tränen ausbrechen oder sich einfach auf eine Art, die Elisa hasste, furchtbar und abstoßend betrinken würde. Sie versuchte, Mitleid mit ihm zu haben, aber ihr Mitgefühl hatte sich abgenutzt. Was immer er nach dem Tod seiner ersten Frau empfunden haben mochte, es war zu lange her, um zu rechtfertigen, wie er sein Leben zerstörte – und ihres. Kurz blieb sie auf der anderen Straßenseite stehen und sah auf den Fluss hinaus, auf die Hausboote, die dort lagen, die Restaurantschiffe und in der Ferne die in Pastelltönen gestrichenen Häuser, die das Ufer säumten.

Er hatte sie hinters Licht geführt. Vor Jahren, nicht lange nach dem Tod von Elisas Vater, als sie Philip Hendon kennenlernte, als er seine Tochter Grace zu ihr brachte, damit sie Spanisch lernte, da hatte er sie getäuscht. Er hatte sie in seine Welt gezogen, und ehe sie sich’s versah, hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, und sie saß in der Falle. Ach, Philip. Du hättest mich in Ruhe lassen sollen, dachte sie. Aber dann wäre sie natürlich nie wieder nach Kuba zurückgekehrt. Und sie war nicht schuldlos gewesen – ganz und gar nicht.

Elisa ging über das Kopfsteinpflaster von Welsh Back. Sie mochte diese Straße mit ihren hohen Bäumen und schwarzen Geländern, und sie mochte es, dass sie ans Wasser grenzte. Vorsichtig musste man schon wegen des Kopfsteinpflasters sein, das vom Nieselregen, der gerade eingesetzt hatte, rutschig war. Auch wenn manche sagen, alles, wobei man vorsichtig sein musste, sei der Mühe nicht wert. Sie lächelte in sich hinein. Duardo hätte das gesagt. Bei der Rumba war jedenfalls kein Platz für Vorsicht.

Ach, Duardo. Elisa bog in die King Street ein. Wie oft sie immer noch an ihn dachte … Sie ging an dem cremefarben und grün gestrichenen Almshouse-Wohnkomplex vorbei, am Theater und den Pubs. Und ja, ihr Haus – Philips Haus – war eine dieser Villen aus georgianischer Zeit, die mit den Gewinnen aus dem Zuckerhandel errichtet worden waren. Philip hatte es schon gehört, als sie ihn kennenlernte. Es war seit Generationen im Besitz seiner Familie. Dort hatte er schon vor dem schrecklichen Unfall, der seine Familie auseinandergerissen hatte, mit Grace gelebt – und mit Nancy.

Elisa schloss die Haustür auf. »Hallo ….« So begrüßte sie ihr Haus immer. Ein Zuhause, das sich nie ganz wie ihr Heim angefühlt hatte, denn dort lebte noch Nancys Geist. Was meinte sie damit? Hallo, bitte lass mich ein, lass mich bitte hierhergehören?

Zuerst hatte sie hierhergehören wollen. Wahrscheinlich war sie auf der Suche gewesen. Vielleicht nach jemandem, der sie brauchte, nachdem ihre Familie nicht mehr existierte? Sie war geradewegs in diese Welt hineinmarschiert und hatte sich von ihrer Dunkelheit einhüllen lassen. Sie hatte geglaubt, helfen zu können, vielleicht ein paar Fenster zu öffnen und etwas Licht hereinzulassen. Sie hatte gedacht, sie könnte dafür sorgen, dass alles gut würde. Philip hatte ihr von Anfang an klar gesagt, dass er nicht vorhabe, das Haus zu verkaufen. Es sei schon zu lange in der Familie, sagte er. Aber sie änderte, was sie konnte. Doch das Herz des Hauses hatte sich nicht verändert – das ging viel zu tief.

Philip saß an dem Esszimmertisch aus Mahagoni und stützte den Kopf in die Hände. Auf dem Tisch stand sein Whiskyglas – leer, wie sie sah – und daneben die Flasche mit Jack Daniels. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie in seiner Jackentasche zu verstecken, was er normalerweise tat.

»Was ist los?«, fragte sie ihn.

Er sah auf, seine Augen waren trübe. »Grace war da.«

»Aha.« Elisa erspähte den Laptop. »Ist sie geblieben?«

»Nicht lange.« Er zuckte mit den Schultern.

»Habt ihr euch gestritten?« Während sie mit ihm sprach, zog Elisa ihren Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe in der Diele, neben Philips dunklen Überzieher.

»Nicht wirklich.«

Was »ja« bedeutete. »Worüber?«

»Nichts. Oh …« Er seufzte. »Ich habe vielleicht was dazu gesagt.«

»Wozu?« Elisa sank das Herz. Sie war müde. Sie musste noch das Abendessen kochen, denn Philip hatte sicher nichts vorbereitet. Hatte sie wirklich noch die Energie, dieser Sache auf den Grund zu gehen?

»Ihren Job«, knurrte er.

»Ach, Philip.«

»Na, ich halte eben nichts davon.«

Also ehrlich. »Was stellst du dir vor, was sie tut?« Elisa stemmte die Hände in die Hüften. Sie wusste, dass sie ziemlich heftig werden konnte, wenn sie sich darauf konzentrierte. Manchmal hatte es sein müssen. Sie liebte Philip auf ihre eigene Art. Aber er war ihr gegenüber nicht fair gewesen, und das wusste er. Ja, sie lebte in seinem eleganten georgianischen Haus. Aber sie hatte auch verhindert, dass seine und Grace’ Welt auseinanderbrach – öfter, als sie sich eingestehen mochte.

»Was sie tut?«, wiederholte er.

»Massage.« Elisa trat hinter ihn und begann seine Schultern zu kneten. Sie hatte ihn schon lange nicht mehr so berührt. Unter ihren Fingern fühlten sich seine Schultern knochig und verletzlich an. »Massage lockert schmerzende Muskeln, löst steife Gelenke und hilft, sich zu entspannen.«

Er fuhr mit den Fingern durch sein schütter gewordenes goldgraues Haar. »Ja, das sagt sie. Aber wenn ich früher, bevor ich Nancy kennengelernt habe, nach London gefahren bin …«

»Ich weiß.« Elisa tätschelte seine Schulter und trat zurück. »Du warst einsam, und du hast Karten in Telefonzellen gefunden, auf denen Frauen Massagen anboten, was Sex bedeutete.« In Kuba wurde man dazu erzogen, zu sagen, was man meinte. Mit Sex wurde offen umgegangen. Die Menschen schämten sich nicht dafür, und dadurch wurde die ganze Sache irgendwie ehrlicher.

Er starrte sie an. Wahrscheinlich, dachte sie, hatte er immer noch nicht begriffen, dass sie ihn in- und auswendig kannte. Manchmal wusste sie, was er dachte. Oft konnte sie voraussehen, was er im nächsten Moment tun oder sagen würde. Doch hin und wieder überraschte er sie.

»So ist das heute nicht mehr«, erklärte sie ihm, als wäre sie Expertin für die Londoner Prostituiertenszene. »In mancherlei Hinsicht ist alles transparenter. In der Packung Massagetherapie ist nur das drin, was draufsteht.«

»Du guckst zu viel Werbung«, meinte Philip mit einem Abglanz seines alten Humors.

Sie lächelte. »Massage ist eher so was wie Physiotherapie. Nur nicht so technisch.«

»Aber Grace …«

»… weiß, was sie tut.«

»Vielleicht.«

Er ließ den Kopf hängen, und er tat ihr wieder leid, so wie schon immer. Er hatte eine Art, die ihr zu Herzen ging.

»Aber ich kann nicht anders, Elisa, Schatz. Ich sehe sie an, und sie ist so distanziert. Sie kommt all ihren Kunden näher als mir – sie kommt mir inzwischen überhaupt nicht mehr nahe. Alles ist so anders, als ich es mir vorgestellt habe. Dabei waren wir früher so eng verbunden. Ich mache mir Sorgen um sie, und dann kommt alles falsch heraus.«

Der Alkohol sorgte dafür, dass es falsch herauskam, dachte Elisa, sprach es aber nicht aus. Sie wusste, dass Grace ihrem Vater die Schuld am Tod ihrer Mutter gab – aber warum tat sie das? Sie hatte nie darüber gesprochen. Und es war so lange her. War es nicht Zeit, ihm zu verzeihen?

»Hast du sie aufgeregt?«, fragte Elisa ihn.

»Wahrscheinlich.«

»Ich sollte bei ihr vorbeigehen.«

»Warum solltest du?« Trotzig füllte er sein Glas nach. »Ich bin derjenige, der schuld ist. Ich bin derjenige, der immer das Falsche sagt. Sieh mich an. Ich bin eine Katastrophe.«

Und sie war diejenige, die immer die Trümmer auflas, dachte Elisa. »Du bist in keinem Zustand dazu«, sagte sie stattdessen, warf einen vielsagenden Blick auf die Whiskyflasche und weigerte sich, auf sein Selbstmitleid einzugehen, das sie so schrecklich aufbrachte. Deswegen war er eine Katastrophe.

»Sie ist eine erwachsene Frau. Sie ist verheiratet. Sie wird drüber wegkommen.«

Aber Robbie war nicht zu Hause, und Elisa wusste, wie verletzlich Grace war, was ihren Vater anging.

»Vielleicht geh ich bei ihr vorbei«, sagte sie. »Nur für eine halbe Stunde.« Aber sie war so müde. Und sie konnte ihn nicht bitten, sie zu fahren – dazu war er nicht in der Lage.

»Lass sie doch.« Philip kam unbeholfen auf die Füße, verlor das Gleichgewicht, fand es wieder und warf dabei den Stuhl um, der hinter ihm auf den Boden krachte. »Lass sie, Elisa.«

Elisa zögerte. Sie sah ihm nach, als er ins Wohnzimmer wankte. Dort würde er in einen Sessel sacken, in fünf Minuten einschlafen und laut schnarchen, noch lange, nachdem es Zeit gewesen wäre, zu Bett zu gehen. Das war ihr Leben, dachte sie. Das war aus ihr geworden.

Ein Kompromiss. Darauf verstand Elisa sich gut. Sie ging in die Diele, griff nach dem Telefon und tippte Grace’ Nummer ein. Es klingelte und klingelte, und dann sprang der Anrufbeantworter an. Entweder war Grace noch nicht zu Hause, oder sie wollte mit niemandem sprechen.

Elisa hinterließ eine kurze Nachricht. »Hallo, Schatz. Wenn du reden willst, ruf mich zurück.« Das war so etwas wie ein Code zwischen ihnen beiden. Dann nahm sie ihren Laptop und trug ihn hinauf in ihr Zimmer – das Zimmer im ersten Stock, das sie ihr Eigen nennen konnte. Angefangen hatte es als Büro und Arbeitszimmer, und inzwischen gab es dort auch ein schmales Bett und einen Sessel. Sie würde sich nicht die Mühe machen, ein Abendessen für einen Betrunkenen zu kochen, den sie nicht wachbekommen würde, und sie hatte am Nachmittag so viele Tapas gegessen, dass es sich für sie selbst auch nicht lohnte.

Sie klappte den Laptop auf, schaltete ihn ein und fand das Dokument sofort. Nein, dachte sie. Das hier war ihr Leben. Es war die Geschichte eines jungen Mädchens, das seine Heimat verlassen hatte und mit seinen Eltern nach Großbritannien gezogen war. Eines Mädchens, das sich in Bristol niedergelassen hatte, sich aber oft danach sehnte, nach Kuba zurückzukehren. Und einmal hätte sie es fast getan. Elisa wischte sich eine Träne aus dem Auge und setzte sich zum Schreiben hin. Die Geschichte hieß: »Der letzte Tanz in Havanna«.