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Nach dem Anstieg hielten sie mehrmals an. Durch die Vorhänge der Sänfte vernahm Caius undeutliche Worte, die der Führer ihrer Eskorte mit Wachen oder Pförtnern wechselte. Schließlich wurde die Sänfte behutsam abgestellt. Caius zog den Vorhang auf der rechten Seite weg.

Sein Vater war schon ausgestiegen und brachte die Falten seiner Toga in Ordnung. Er lächelte ihm zu. »Wir sind da.«

»Habe ich mir fast gedacht«, gab Caius etwas vorwitzig zurück, um seine erneut aufkommende Nervosität zu überspielen.

Er stieg aus der Sänfte und blickte sich um, während sein Vater immer noch an der Toga zupfte. Sie standen auf einem kleinen Platz, dessen Breitseite von einem gewaltigen Tempel beherrscht wurde. Caius ließ seinen Blick an den Säulen emporwandern. Wenn man es genau nahm, war es eigentlich nur ein mittelgroßer Tempel, aber durch die Enge des Vorplatzes wirkte er auf seinem Sockel fast schon erdrückend. Es war der berühmte Apollotempel, den Augustus dem Gott vor fast vierzig Jahren für seinen Sieg in der Seeschlacht von Actium geweiht hatte. Er bestand vollständig aus weißem Marmor und strahlte in der Sonne des späten Nachmittags, als leuchtete er von innen heraus. Am Ende der Vorhalle im Schatten der Säulen glänzten die Goldbeschläge des von Elfenbeinreliefs eingerahmten Portals, das in das Innerste des Tempels führte.

An den anderen drei Seiten wurde der Vorplatz durch Mauern begrenzt, die ebenfalls mit weißen Marmorplatten verkleidet und mit einer vorgelagerten, umlaufenden Säulenreihe verziert waren. Zwischen den Säulen standen schwarz glänzende Hermen der fünfzig Töchter des Danaos. Der Kontrast zwischen dem dunklen und dem hellen Marmor sah edel, aber auch kühl und irgendwie unerbittlich aus. Caius wurde klar, dass sie nur noch wenige Mauern von dem Mann trennten, der über Millionen von Menschen gebot.

Die Träger hoben die Sänften lautlos an und entfernten sich. Caius hörte Schritte und drehte sich um. In die der Tempelfront gegenüberliegende Wand des Vorplatzes war ein Portal eingelassen, das von zwei Hünen bewacht wurde. Wie in Stein gemeißelt standen sie in der Paradeuniform der Prätorianergarde da und blickten mit blauen Augen ins Leere.

Caius hatte von der geheimnisvollen Leibwache des Princeps gehört, aber noch nie einen ihrer Angehörigen zu Gesicht bekommen. Sie wurden nicht aus den Legionen rekrutiert, sondern irgendwo im Norden bei den Batavern angeworben – Leute, die niemand kannte. Von den anderen Prätorianern wurden sie gehasst. Für sie war es unerträglich, dass der Princeps diesen stummen Barbaren sein Leben anvertraute. Caius musterte die beiden riesigen Männer mit den versteinerten Gesichtern kurz. Unüberwindlich und unbestechlich, dachte er. Bessere Leibwächter konnte es nicht geben.

In diesem Augenblick erschien ein Sklave in einer grünen Tunika im Halbdunkel des Portals. »Dann wollen wir mal«, sagte Quintus und schritt voran, auf den Eingang zu. Caius folgte seinem Vater. Als er zwischen den Batavern durchging, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Die beiden Männer waren mehr als einen Kopf größer als er, und obwohl sie weiterhin bewegungslos dastanden und geradeaus blickten, fühlte er sich von ihnen beobachtet. Kurz rechnete er damit, plötzlich mit eisernem Griff gepackt zu werden, dann war er auch schon vorbei und trat in das schummerige Licht eines Ganges, der nach wenigen Schritten nach rechts abknickte. Der Sklave mit der grünen Tunika trat rückwärts in die Ecke, um sie vorbeizulassen. Caius ging dicht hinter seinem Vater, der dem Sklaven im Vorübergehen lächelnd einen freundschaftlichen Klaps auf den Oberarm gab. »Anaximandros«, sagte er nur. Es hatte nichts Gönnerhaftes. Caius war beeindruckt, mit welcher Selbstverständlichkeit sein Vater sich in den Räumen des mächtigsten Mannes der Welt bewegte. Es schien hier weit weniger förmlich zuzugehen, als er erwartet hatte, und irgendwie beruhigte ihn das. Du wirst dich wundern, was der Princeps für ein Mensch ist, hatte sein Vater gesagt. Na dann.

Ohne Eile schritten sie eine Rampe hinab, die nur von kleinen Feuerschalen erhellt wurde. Danach durchquerten sie einen kleinen Raum mit sehr hoher Decke und reich bemalten Wänden.

Wieder mussten sie an zwei bewegungslosen Leibwächtern vorbei, dann standen sie unter den Säulen eines eleganten Peristyls. Quintus schritt die drei Stufen zum Innenhof hinunter. Einen Augenblick später war Caius neben ihm.

Im Innenhof stand mit dem Rücken zu ihnen ein mittelgroßer grauhaariger Mann mit weißer Toga, der einem Sklaven ein paar Anweisungen gab. Als er fertig war, nickte er aufmunternd und legte kurz die Hand auf die Schulter des Sklaven, der sich sofort entfernte und zwischen den Säulen des Peristyls verschwand. Der Mann mit der Toga schien noch einen kurzen Moment nachzudenken, dann drehte er sich langsam zu Caius und seinem Vater um, als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass sie dort warteten. Der Anflug eines Lächelns streifte sein Gesicht. Es war das Gesicht eines älteren Mannes, doch seine aufmerksamen Augen, die vollen grauen Haare, die seine hohe Stirn einrahmten, und nicht zuletzt der ironische Zug um seinen Mund machten ihn jünger. Während Caius sich noch fragte, wie alt der Mann sein mochte, kam dieser mit ein paar ausladenden Schritten auf sie zu. »Castor«, sagte er und legte Quintus beide Hände auf die Schultern. »Immer wieder eine große Freude, dich hier zu sehen.«

»Und immer wieder eine große Freude, hier zu sein, Princeps.«

Caius durchfuhr es wie ein Blitzschlag, als ihm klar wurde, wen er da vor sich hatte. Wie selbstverständlich war er davon ausgegangen, dass der grauhaarige Mann selbst ein Besucher war, vielleicht ein Legionslegat oder Provinzstatthalter im Ruhestand, der hier wie sie darauf wartete, bei Augustus vorgelassen zu werden, der seinerseits irgendwo in einem Audienzsaal auf einem purpurbezogenen Sessel thronte – riesig, alterslos und unnahbar wie die sitzende Jupiterstatue im Tempel auf dem Kapitol. Dieser Augustus war nicht riesig und nicht alterslos und schon gar nicht unnahbar, als er sich jetzt Caius zuwandte und ihm ebenfalls die Hände auf die Schultern legte. »Du bist Caius«, stellte er fest, dann beugte er sich vertraulich vor. »Dein Vater erzählt viel von dir.« Er richtete sich auf. »Oder sollte ich das nicht sagen?«, fragte er in Richtung Quintus.

»Es wird den letzten Rest von Bescheidenheit in ihm auslöschen«, entgegnete dieser.

»Mit Bescheidenheit sind wir früher auch nicht weitergekommen«, gab der Princeps zurück. Aus seinen Worten sprach ein Standesbewusstsein, das ohne jede Eitelkeit auskam. Augustus wies mit dem Kopf zu der Seite des Säulenumgangs, auf dem die Sonne stand. »Gehen wir doch rein«, sagte er wieder an Quintus gewandt. »Ich habe da ein Tröpfchen aus Hispanien, so was hast du noch nicht getrunken.«

Caius war völlig überrumpelt von der ungezwungenen Natürlichkeit ihres Gastgebers, dem sie nun in den Schatten folgten. Sie durchquerten eine Vorhalle und betraten einen großen Raum, an dessen drei geschlossenen Seiten ein umlaufendes Podium aus Marmor verlief, das rechts und links jeweils über drei Stufen betreten werden konnte.

Oberhalb des Podiums waren die Wände mit perspektivischen Landschaftskulissen dekoriert, unterbrochen von aufgemalten Säulen und dunkelroten Bildfeldern mit feingliedrigen Gestalten aus der griechischen Mythologie. Außer vier Faltsesseln mit Messingbeschlägen und dunkelroter Bespannung war der Raum leer.

Augustus wies seinen Gästen zwei Sessel zu und nahm zwischen ihnen Platz. Augenblicklich erschien ein Sklave in der Tür. »Dann bring uns mal den hispanischen Zaubertrank«, befahl der Princeps gut gelaunt. »Den nehmen wir ausnahmsweise mal unverdünnt.«

Der Sklave verschwand. Hinter der Wand war ein zweimaliges Händeklatschen zu hören, und sofort erschienen zwei weitere Sklaven, die einen kleinen dreibeinigen Tisch hereintrugen, auf dem eine Karaffe und vier sehr schlanke Becher aus Glas standen. Während einer der beiden fast lautlos den strohgelben Wein eingoss, reichte der andere zuerst dem Hausherrn, dann den Gästen die Becher. Anschließend entfernten sich beide wieder.

»Diesen Wein trinken wir mal lieber langsam«, sagte Augustus und lehnte sich behaglich zurück. »Er hat es in sich, aber ich bringe es nicht über mich, ihn mit Wasser zu verpanschen. Das ist, als würde man in eine Linie arabischer Rennpferde auf einmal Esel einkreuzen. Und wir wollen unseren Verstand ja nicht unfruchtbar machen.« Er hob den Becher mit einer lässigen Geste ein Stück an. Der Wein schien gut gekühlt zu sein, denn das dünne Glas war schon beschlagen.

Sie nippten an den Bechern. Der Wein war stark und dennoch sehr fruchtig. Fast sofort spürte Caius, wie er sich im Kopf bemerkbar machte. Seine Anspannung lockerte sich.

Nach einem kurzen genießerischen Schweigen ergriff Augustus wieder das Wort. »Eigentlich gehört es sich nicht, dass man anfängt, bevor alle da sind. Aber Appius Aemilius Rullianus wird sich etwas verspäten. Wie ihr wisst, hat er sich auf eine wichtige Aufgabe vorzubereiten.« Wieder streifte die Lippen des Princeps der Hauch eines ironischen Lächelns. Obwohl Caius keine Ahnung hatte, wovon die Rede war, fühlte er sich geschmeichelt, dass Augustus ihn ganz selbstverständlich als Eingeweihten in den politischen Gedankenaustausch einbezog. Aber von welcher Aufgabe war die Rede?

Als könne er Gedanken lesen, fuhr der Princeps jetzt geschäftsmäßig fort: »Und wenn ihr es noch nicht wisst: Ich habe Rullianus zum Legaten der XIX. Legion ernannt.«

»Das ist mir neu«, sagte Quintus. Caius bewunderte seinen Vater dafür, mit welcher Gelassenheit er seine Unwissenheit einräumte. Anscheinend war es tatsächlich besser, sich vor dem Princeps nicht zu verstellen.

»Ich habe es auch erst vor ein paar Tagen entschieden«, sagte Augustus nachsichtig. »Und es wird nicht die einzige personelle Veränderung bei der Rheinarmee sein. Ich will offen mit dir sprechen. Varus ist jetzt seit zwei Jahren Statthalter in Germanien. Der Aufbau der Provinzverwaltung macht Fortschritte. Ich frage mich allerdings: Ginge es vielleicht schneller?«

»Wäre es denn gesund, wenn es schneller ginge?«, gab Quintus zurück. Er schien sofort im Thema zu sein.

»Eigentlich nicht. Aber haben wir die Zeit zu warten? Unsere ganze Nordgrenze ist ein einziges Risiko. Tiberius ist mit zwölf Legionen in Pannonien und bekommt die Lage nicht unter Kontrolle. Unsere Verluste sind enorm.«

Caius war irritiert. In der Öffentlichkeit war kaum die Rede von drohenden Gefahren, schon gar nicht von Verlusten. Es gab Gerüchte. Aber diese gingen in den pompösen Inszenierungen der Siegesfeiern unter. Wenn man es genau bedachte, dann wusste eigentlich niemand so richtig, was im Norden passierte.

»Und dann die Markomannen«, sprach Augustus weiter. »Wie lange die stillhalten, wissen die unsterblichen Götter. Ich kenne Marbod gut genug. Er hat in seiner Zeit hier in Rom alles erfahren, was man wissen muss, um aus diesem scheinbar unkontrollierbaren Stammeshaufen einen Staat zu schmieden. Diese Barbaren lernen so schnell, dass einem angst und bange werden kann. Schau dir unsere Hilfstruppen an. Dieser Arminius, von dem alle reden. Seine Reiter sind die besten, die wir haben. Und warum? Weil sie ehrgeizig sind. Unsere Leute haben keinen Ehrgeiz mehr, jedenfalls keinen richtigen. Warum auch? Ihre Karriere ist berechenbar. Sie sehen zu, dass sie ein paar Rangstufen aufsteigen, und denken dabei die ganze Zeit an ihren Ruhestand, der eine auf seinem Bauernhof in Umbrien, der andere in seiner Villa in Campanien. Diese Barbaren sind ganz anders. Ihnen steht die Welt offen. Von Kindesbeinen an lernen sie, dass man sich alles nehmen kann, was man will. Dann kommen wir. Wir füttern sie an mit Beute und Titeln und zeigen ihnen, wie man noch mehr zusammenrafft. Wir gießen ihre Rastlosigkeit zu Ehrgeiz um und der Ehrgeiz härtet aus und wird zur Gier. Und dann kommen sie dahinter, dass sie uns eigentlich gar nicht brauchen. Marbod ist gerade dabei, genau das zu begreifen.«

»Marbod schuldet uns sehr viel«, merkte Quintus an.

»Deshalb ist er noch lange nicht dankbar. Ich bin auch niemals dankbar gewesen«, erwiderte Augustus.

»Du hast alles für den Staat getan. Das weißt du genauso gut wie ich.«

»Und Marbod tut alles für seinen«, sagte Augustus.

»Er handelt aus Machtbesessenheit.«

»Auch in der Hinsicht hat er bei uns den letzten Schliff bekommen. Wir nennen es Zielstrebigkeit.« Der ironische Zug um den Mundwinkel des Princeps verbreiterte sich zu einem spöttischen Lächeln. Der kleine Schlagabtausch schien ihm Spaß zu machen. »Das Problem ist aber nicht Marbod allein«, fuhr er fort. »Nehmen wir mal an, so jemand wie Arminius kommt auf die Idee, es wie Marbod zu machen, und bringt diese germanischen Stämme hinter sich. Nehmen wir mal an, da oben entsteht so etwas wie eine Allianz der Stämme unter der Führung von Leuten, die das Talent haben, mehr als ein paar Sippenälteste auf der Stammesversammlung für einen kleinen Beutezug zu den Nachbarn hinter dem nächsten Wald anzustiften. Leute, die rastlos sind und ehrgeizig und gierig. Leute, die wissen, wie man eine Pontonbrücke über den Rhein schlägt. Leute, die mit eigenen Augen gesehen haben, was es in Gallien zu holen gibt, wenn man ein paar Legionslager am Rhein knackt – und die wissen, wie man sie knackt, weil sie selbst solche Lager gebaut haben.«

»Traust du Arminius nicht?«, fragte Quintus.

»Natürlich nicht. Was nicht heißt, dass er nicht verlässlich ist. Ich traue ja noch nicht einmal meinem eigenen Prätorianerpräfekten. Und das weiß er. Und es ist gut, dass er das weiß.« Augustus nippte an seinem Glas und legte in stillem Genuss den Kopf zurück.

»Varus vertraut ihm blindlings«, warf Quintus ein.

»Das kam mir auch zu Ohren. Und ehrlich gesagt: Ich kann es bald nicht mehr hören. Da oben scheint irgendwie jeder diesem Cherusker zu trauen, und genau das will mir nicht so recht gefallen. Aber es geht eigentlich nicht um Arminius. Er könnte auch anders heißen. Er könnte auch noch gar nicht geboren sein. Irgendwann wird er kommen. Und wenn es ihm gelingt, diese Stämme alle zusammen gegen uns aufzuhetzen, dann kann die Luft am Rhein sehr schnell sehr dünn werden.«

»Ich glaube nicht, dass das passieren wird«, erwiderte Quintus. »Dazu sind sie unter sich viel zu zerstritten. Bei jeder Gelegenheit fallen sie übereinander her. Was sollte sie dazu bringen, sich zu einigen?«

»Ah, mein lieber Castor«, gab Augustus zurück. »Du ruhst in dir selbst. Du hast dein Vermögen, deine Ländereien, deine Familie. Du bist zufrieden. Du weißt nicht, was Gier ist.«

»Ich bin zufrieden, weil ich alles habe.«

»Nein. Du bist zufrieden, obwohl du alles hast.«

»Und diese Barbaren? Sind sie gierig, weil sie nichts haben?«

»Nein. Sie werden gierig, weil sie bei uns sehen, was sie alles haben könnten.«

»Rom steht für viel mehr. Rom steht für eine Lebensweise«, sagte Quintus.

»Das stimmt. Aber diese Lebensweise ist kein Mittel gegen die Gier. Wir bilden uns viel ein auf unsere Lebensweise. Und wir behaupten, sie sei auch für andere gut, weil sie uns den Vorwand liefert, ihnen unseren Willen aufzuzwingen.«

»Ich behaupte weiterhin, dass sie auch für andere gut ist.«

Das spöttische Lächeln auf dem Mund des Princeps wurde breiter. »Das mag sein. Aber interessiert es uns, ob sie damit glücklich werden? Natürlich interessiert uns das nicht. Diese Lebensweise, mein lieber Castor, diese Lebensweise leisten wir uns, weil wir uns die Mittel dazu einfach nehmen. Und was treibt uns? Die Gier. Die Gier deines Nachbarn im Senat, der sich den nächsten Posten erschachert, auf den du verzichtest, weil der Klang von Poesie und der Geschmack eines besonders feinen Falerners dir lieber sind als der Klang von prasselnden Goldmünzen und der Geschmack von Macht. Es ehrt dich, dass du glaubst, es sei diese Lebensweise, die die Welt vorantreibt. Doch das ist nur die eine Seite. Die andere heißt nun mal Gier. Rastlose Gier. Und diese Gier ist es, die sie leider noch vor der Lebensweise von uns übernehmen werden. Du glaubst, dass diese Barbaren, die nicht lesen können und Brackwasser trinken, nicht zu derselben Gier imstande sind wie Senatoren und Großgrundbesitzer. Mein lieber Castor! Das ist die wohlwollendste Form der Arroganz, die man sich nur denken kann. Ich sage dir: Die Gier wird sie einen, wenn auch nur für kurze Zeit. Unsere einzige Möglichkeit besteht darin, sie zu Römern zu machen, bevor diese Gier sich gegen uns kehrt. Und deshalb sage ich: Es muss schneller gehen.«

Quintus schwieg für eine Weile und Augustus fuhr fort: »Das schlimmste denkbare Szenario ist eine Allianz zwischen Marbod und den germanischen Stämmen gegen uns. Marbod fällt uns in Pannonien in den Rücken und seine Verbündeten gehen über den Rhein. Wir haben also drei Aufgaben. Erstens: den Aufstand in Pannonien niederschlagen. Zweitens: Marbod in Schach halten. Und drittens: den Aufbau der Provinz Germanien so weit vorantreiben, dass niemand dort oben auf dumme Gedanken kommt. Um Pannonien kümmert sich Tiberius, und wenn zwölf Legionen nicht reichen, dann bekommt er fünfzehn. Marbod ist – noch – ein Fall für die Diplomatie. Und Germanien? Ich wiederhole meine Frage: Ginge es vielleicht schneller?«

»Du glaubst, dass Varus nicht hart genug durchgreift?«, fragte Quintus.

»Durchgreifen ist nicht seine Stärke, aber auch nicht seine Aufgabe. Varus verwaltet. In ihm haben die Willigen jemanden, den sie schätzen können. Aber die Unwilligen brauchen Leute, die sie fürchten können.«

»Leute wie Appius Aemilius Rullianus.«

»Genau. Rullianus besitzt die Rücksichtslosigkeit, die Varus fehlt. Leute wie Varus und Rullianus sind im Zusammenspiel unschlagbar.«

»Solange sie sich nicht ins Gehege kommen.«

In diesem Moment erschien ein Sklave mit einer Papyrusrolle in der Hand in der Tür. Augustus winkte ihn heran. Der Sklave reichte ihm wortlos das Schriftstück, der Princeps entrollte es und überflog den Text. Dann nickte er und blickte zu dem wartenden Sklaven auf. »Das läuft nicht über den normalen Kurier.«

»Patroklos?«, fragte der Sklave.

Der Princeps nickte. »Wenn es geht, sofort.«

Der Sklave verschwand wieder. Eine Weile war es still. Caius ließ seinen Blick über die Wandmalereien schweifen. Apollo und Daphne, die zum Lorbeerbaum wurde. Artemis mit einem Jagdhund, der fragend zu ihr aufschaute. Poseidon, lässig auf den Dreizack gestützt.

Nach wenigen Augenblicken tauchte ein kleiner, drahtiger Sklave mit pechschwarzen, etwas unordentlichen Haaren in der Tür auf. In der Hand hatte er eine runde Schatulle aus Leder, in die ein geometrisches Muster geprägt war.

»Das geht an den Propraetor in der Lugdunensis«, sagte Augustus mit leicht gedämpfter Stimme, während er den Papyrus mit geübten Händen wieder zusammenrollte und dem Sklaven überreichte. »Warte die Antwort ab.«

Der Sklave nickte, schob die Rolle vorsichtig und etwas umständlich in die Lederschatulle, zog an einem Band am oberen Rand des röhrenförmigen Behälters und setzte einen Deckel darauf, auf den eine ähnlich schlichte Verzierung geprägt war wie auf die Schatulle selbst. Dann entfernte er sich.

Augustus blickte auf seinen Becher. »Patroklos ist mein schnellster Bote«, sagte er mit einem anerkennenden Lächeln. »Er hat es mal fertiggebracht, die Strecke von hier nach Lugdunum und zurück in neun Tagen zu reiten. Wie er das geschafft hat, ist mir bis heute ein Rätsel. Seitdem überrascht er mich immer aufs Neue. Auch diese doppelwandige Schatulle ist eine Idee von ihm. Alle meine persönlichen Boten verwenden sie inzwischen für wichtige Nachrichten. Falls sie überfallen werden, findet man nur ein paar belanglose Briefe, in denen von Getreidehandel die Rede ist.« Augustus leerte den Becher mit einem Zug und nahm den Faden des Gesprächs mühelos wieder auf. »Solange sie sich nicht ins Gehege kommen«, rekapitulierte er, und Caius brauchte etwas, um zu begreifen, dass erneut von Varus und Rullianus die Rede war. »Früher oder später werden sie sich ins Gehege kommen. Rullianus ist ehrgeizig. Er wird nach dem Posten des Provinzstatthalters schielen. Das wiederum wird Varus anspornen. Ich denke, es werden noch zehn Jahre ins Land gehen, dann können wir die Lager vom Rhein an die Albis verlegen. Damit wäre die Grenze zu Gallien gesichert. Leider haben wir noch nicht viele genaue Informationen über das Land. Es heißt, vom Rhein bis zur Albis sind es dreitausend Stadien, aber nach neueren Berechnungen scheint es eher etwas weniger zu sein. Wie es weiter im Osten aussieht, darüber wissen wir fast gar nichts. Die Stämme dort sind angeblich noch zügelloser und kriegerischer als die Germanen, mit denen wir zu tun haben. Wenn das stimmt, dann frage ich mich: Kann es Menschen geben, bei denen jeder Versuch aussichtslos ist, sie an unsere Lebensweise zu gewöhnen?«

Quintus schwieg, und Augustus wandte sich völlig unerwartet an Caius und legte ihm die Hand auf den Arm. »Fragen wir doch mal die Jugend. Gibt es Menschen, die sich nicht zähmen lassen?«

Caius war völlig überrumpelt und die Gedanken rasten durch seinen Kopf. Augustus lächelte ihn aufmunternd an. »Sag mir, was du denkst!«

Caius überlegte fieberhaft. »Ja«, antwortete er schließlich. »Ich glaube, dass es solche Menschen gibt.«

Augustus schien mit der Antwort gerechnet zu haben. »Aber haben wir das von den Germanen hinter dem Rhein nicht auch gedacht? Erleben wir mit ihnen nicht gerade genau das Gegenteil – mit Leuten wie Arminius?«

Alles, was Caius dazu einfiel, kam ihm unsagbar dumm vor. Da streifte ihn ein viel grundsätzlicherer Gedanke. Die Stimme seines Vaters klang ihm noch im Ohr: Er liebt es, wenn man ihm widerspricht. Caius nahm seinen Mut zusammen, doch gerade als er antworten wollte, betrat wieder einer der Sklaven den Raum. Die drei blickten auf.

»Appius Aemilius Rullianus ist soeben angekommen«, sagte der Sklave mit einem melodischen Singsang in der Stimme.

»Dann sind wir ja vollzählig«, gab Augustus zurück und erhob sich. Caius und sein Vater standen ebenfalls auf.

Ein paar Augenblicke später erschien ein keine vierzig Jahre alter, großer und massiger Mann mit sehr kurzen schwarzen Haaren im Schatten der Säulen. Er trug eine Feldherrenuniform, an deren Brustharnisch ein weißer Umhang mit Spangen befestigt war. Während der Sklave rückwärtsgehend aus der Tür verschwand, kam von der Seite ein zweiter Sklave, der dem Ankömmling schweigend Mantel, Harnisch und Schwertgehänge abnahm, während ein dritter dem neuen Gast eine Schale mit Wasser reichte. Achtlos tauchte Rullianus seine Hände hinein, rieb nachlässig die nassen Handflächen aneinander und ließ sie sich von einem vierten Sklaven umso ausgiebiger abtrocknen. Anschließend trat er mit einem breiten Lächeln in den Türrahmen.

»Rullianus«, sagte Augustus freundlich. »Deine neue Aufgabe steht dir.« Rullianus verneigte sich leicht. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn und atmete schwer. »Keine Sorge«, setzte Augustus nach, dem nichts entging. Dann lächelte er vieldeutig. »Es wartet Kühlung auf dich.«