Nach der Begrüßung reichte ein Sklave Rullianus einen Becher mit goldfarbenem Wein, bevor er sich wieder entfernte.
Rullianus machte es sich auf dem Sessel links neben Caius bequem und blickte in sein Glas. Trotz seiner Statur hatte er ein fein geschnittenes Gesicht, das jedoch durch den militärisch kurzen Haarschnitt und einen überheblichen Zug um seine Mundwinkel eine unnahbare Härte bekam. Kurz begegnete Caius seinem abschätzigen Blick.
Dann schauten alle zu Augustus, der jetzt seinen Becher hob, den Gästen zutrank und sofort den Faden der Unterhaltung wieder aufnahm. »Wir sprachen über die Aufgaben, die in Germanien warten«, sagte er sachlich. Rullianus schwieg abwartend, und der Princeps fuhr fort: »Seit ein paar Tagen bekomme ich Nachrichten, dass Krieger einiger suebischer Teilstämme westlich der Albis aufgetaucht sind. Unsere cheruskischen Verbündeten glauben, es könnte sich um Anhänger von Marbod handeln. Sie wollen nicht ausschließen, dass von dieser Seite ein Angriff droht.«
Caius sah aus dem Augenwinkel, wie Rullianus Luft holte und seine Gedanken ordnete. Die Ankunft des Legaten hatte dazu geführt, dass er sich in Gegenwart von Augustus wieder klein und überflüssig vorkam. Er spürte, dass sich die Aufmerksamkeit des Princeps von einem Moment zum anderen vollständig auf die Angelegenheiten in Germanien konzentrierte.
»Ich habe gerade die Berichte der Kundschafter gelesen«, entgegnete Rullianus schließlich. »Marbod hält sich zurzeit am ganz anderen Ende seines Reiches auf.«
»Wie es der Zufall will, habe ich die Berichte auch gelesen«, gab Augustus spöttisch lächelnd zurück. »Marbod selbst wird dort ohnehin nicht angreifen. Vielleicht schickt er seine Freunde vor, um zu zeigen, dass man jederzeit mit ihm rechnen muss.«
Rullianus überlegte wieder. »Ich sehe da noch ein ganz anderes Problem«, sagte er. »Wie lange sind diese Cherusker schon unsere Verbündeten?«
»Spar dir deine rhetorischen Fragen.« Augustus machte eine wegwerfende Handbewegung.
Rullianus überging den Einwurf des Princeps. »Diese Sueben sind nicht nur wegen ihrer eigenen Überfälle ein Risiko. Sie hetzen unsere Verbündeten gegen uns auf.«
»Denen du ohnehin nicht über den Weg traust.«
»Wozu sie uns ja auch keinen Grund liefern. Sie haben in der Vergangenheit oft genug die Seite gewechselt.«
»Ihre Hilfstruppen sind hervorragend«, widersprach ihm Augustus.
»Solange sie für uns kämpfen.«
»Dazu werden sie bald wieder Gelegenheit bekommen.« Der Princeps richtete sich in seinem Sessel auf.
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Rullianus.
»Varus wird in ein paar Wochen zu einer weiteren Inspektionsreise ins Innere der Provinz aufbrechen. Allerdings wird er diesmal statt der üblichen Eskorte drei Legionen der Rheinarmee samt Hilfstruppen mitnehmen. Er hat von mir den Auftrag bekommen, an die Albis zu ziehen, den Strom zu überqueren und diesen Sueben einen Denkzettel zu verpassen. Die XVII. und die XVIII. unter dem Kommando von Caius Numonius Vala sind dabei. Und die XIX. Deine XIX.«
Rullianus zog eine Augenbraue hoch. »Vala und ich. Da werden die Sueben nicht viel zu lachen haben.«
Caius sah, dass Augustus seinem Vater einen kurzen Blick zuwarf, bevor er weitersprach: »Nicht nur die. Wir haben in der Provinz hier und da Probleme mit der Steuereintreibung.«
»Und Varus greift nicht richtig durch«, sagte Rullianus kopfschüttelnd.
»Varus ist ein erstklassiger Statthalter.«
»Aber er ist es gewohnt, Provinzen zu verwalten, in denen die Leute wissen, was Gesetze sind, was Steuern sind und warum man sie bezahlt. Das Problem in Germanien ist grundsätzlicher. Für die Leute dort sind unsere Steuern nichts anderes als Tribute, die der eine Stamm dem anderen so lange abpressen kann, wie das Kriegsglück auf seiner Seite ist. Dass sie mit ihren Steuern eine staatliche Ordnung erhalten, kümmert sie nicht, weil sie mit dieser Art von Ordnung gar nichts anfangen können. Dass unsere Gesetze den Frieden sichern, macht auf sie überhaupt keinen Eindruck, weil Frieden für sie kein erstrebenswerter Zustand ist. Wer Frieden bringt, ist nach ihrer Logik geradezu ein Unruhestifter.«
In diesem Augenblick schaltete sich Quintus ein, der das Gespräch die ganze Zeit aufmerksam, aber schweigend verfolgt hatte. »Da spricht der Soldat«, sagte er ruhig. »Kann es sein, dass Leute wie du und Vala nach all den Jahren bei den Legionen den Frieden selbst als eine Art unnatürlichen Zustand betrachten? Haben wir die meisten unserer Kriege nicht selbst vom Zaun gebrochen oder zumindest provoziert, um anschließend zu behaupten, die anderen hätten uns keine Wahl gelassen?«
Rullianus schien für einen kurzen Moment verunsichert. Offenbar war er Widerspruch nicht gewohnt, zudem strahlte Quintus nicht zuletzt durch sein höheres Alter eine überlegene Gelassenheit aus, auf die er nicht recht zu antworten wusste. »Natürlich haben wir das«, gab er zurück. »Aber alles andere hätte uns über kurz oder lang den nächsten Bürgerkrieg beschert.«
»Dann stimmst du mir zu, dass wir im Grunde nicht besser sind als sie. Wir fallen bei jeder Gelegenheit übereinander her.«
»Legionäre wollen beschäftigt werden.«
»Oder man entlässt sie mit einem Landgut.«
»Und wohin soll man sie entlassen, wenn es bei uns keine Landgüter mehr gibt? Oder willst du dein eigenes zur Verfügung stellen? Wenn man es passend parzelliert, dürfte es doch für ein paar Kohorten reichen!«
»Davon gehe ich aus«, sagte Quintus mit einem süffisanten Lächeln, ohne auf die Provokation einzugehen. »Aber du hättest Verständnis dafür, dass ich mich wehren würde, wenn man mir mein Land wegnehmen wollte?«
Rullianus begriff, dass er in die Falle gegangen war. Er blickte zu Augustus, als erwartete er Unterstützung von dieser Seite.
Doch der Princeps schien den Wortwechsel vor allem unterhaltsam zu finden. Schließlich ergriff er selbst wieder das Wort. »Wir sind bei unserer Ausgangsfrage: unterwerfen oder erziehen? Ich würde sagen, eine entschlossene Kombination aus beidem. Entschlossener als bisher. Härtere Strafen und reizvollere Belohnungen. Sie müssen verstehen, dass es keinen Sinn hat, sich uns zu widersetzen. Und sie müssen verstehen, dass sie aus ihrem Land mehr machen können, wenn sie von uns lernen.«
»In Germanien gibt es nicht viel zu holen«, sagte Rullianus mit abfälligem Unterton.
»Du solltest die Berichte genauer lesen. Unsere Landvermesser entdecken fast jeden Tag neue Hinweise auf Bodenschätze. Und die Äcker sind in weiten Landstrichen weitaus besser, als das Klima vermuten lässt. Ein paar von ihren Anführern haben bereits verstanden, was die neue Zeit ihnen für Möglichkeiten bietet. Ein paar andere beginnen es zu ahnen. Ein paar hundert Personen haben schon das Bürgerrecht. Und es werden mehr.«
»Das Bürgerrecht macht sie noch lange nicht zu Römern«, entgegnete Rullianus.
Augustus zog eine Augenbraue hoch. »Was sind denn Römer anderes als die Nachfahren derer, die irgendwann das Bürgerrecht bekommen haben?«
»Princeps«, sagte Rullianus und sah Augustus eindringlich an, »diese Barbaren werden niemals mit uns auf einer Stufe stehen. Sie kennen keine Loyalität. Sie verstehen nur eine Sprache.«
»Ich glaube, sie verstehen zwei Sprachen. Du sprichst eine davon. Varus spricht die andere. Und so findet jeder einen, der ihn versteht.« Augustus lächelte hintergründig. »Und da es zu einer Provinz Germanien schon wegen der Sicherung der Grenze zu Gallien keine Alternative gibt, müssen wir die Gangart wechseln. Mit dem neuen Feldzug zeigen wir den Einwohnern der Provinz und ihren Nachbarn, wo ihre Grenzen sind. Und zwar in jeder Hinsicht: die Grenzen des Landes und die Grenzen dessen, was wir zu dulden bereit sind. Und um die Zusammenarbeit zwischen Armee und Verwaltung besser zu koordinieren, werde ich einen Sondergesandten mit weitreichenden Befugnissen einsetzen. Jemanden, der keine eigenen Interessen vor Ort hat und weder der Armee noch der Verwaltung verpflichtet ist, aber beide Seiten kennt.«
Rullianus beugte sich vor und blickte wieder auf seinen Becher. Caius sah, wie er versuchte das Misstrauen in seinem Blick wie angestrengtes Nachdenken aussehen zu lassen. Die Idee mit dem Sondergesandten schien ihm nicht zu behagen.
Der Princeps fuhr unbeirrt fort. »Jemanden, dem ich voll und ganz vertrauen kann. Jemanden, der die Interessen des Staates im Auge hat und nicht die seiner eigenen Karriere.« Es klang wie ein Seitenhieb.
»Ich nehme an, du hast schon jemanden dafür ausgesucht«, sagte Rullianus lauernd.
»Das habe ich.«
»Und der Betreffende weiß, was ihn erwartet.«
»Er weiß es. Er weiß nur noch nicht, dass er ausgesucht wurde.«
»Dann wird es wohl auch Zeit, dass Varus davon erfährt.«
»Du willst damit sagen, es wird Zeit, dass du es erfährst.«
Rullianus lachte leise auf. »Ich will mich nicht vordrängeln. Vielleicht sollte dein Auserwählter es erst einmal selbst erfahren.«
Augustus lächelte und der ironische Zug um seine Mundwinkel war unübersehbar. »Es wäre ja auch gar nicht deine Art, dich vorzudrängeln.« Der Princeps machte eine Pause und beugte sich vor, um seinen Becher auf dem kleinen Tisch neben der Karaffe abzustellen. Die Spannung war kaum zu ertragen. Caius hörte, wie sein Vater Luft durch die Nase einzog. Augustus lehnte sich wieder zurück, dann blickte er Quintus gerade in die Augen. »Quintus Cornelius Castor«, sagte er, »mir fällt niemand ein, der für diese Aufgabe besser geeignet ist als du.«
Caius traute seinen Ohren kaum. Sein Vater als Sondergesandter des Princeps in Germanien! Ein Gefühl von Stolz durchflutete ihn wie ein warmer Regen.
»Du hast den besten Ruf in allen maßgeblichen Kreisen. Du kennst dich mit der Verwaltung aus und mit der Armee und hast von beiden den nötigen Abstand. Du hast Augenmaß und diplomatisches Geschick. Du bist ein hervorragender Anwalt. Und genau das brauche ich in Germanien: einen hervorragenden Anwalt.«
»Hervorragende Anwälte gibt es viele in Rom«, erwiderte Quintus.
»Aber keinen, der unbestechlich ist.«
Quintus schob das Kinn vor und lächelte. »Es ehrt mich, was du sagst, Princeps. Und es hätte mich doch sehr gewundert, wenn ich heute ungeschoren davongekommen wäre.«
»Du nimmst an?«
»Ja.«
»Du enttäuschst mich. Ich hatte damit gerechnet, dich lange bitten zu müssen.«
»Die Antwort wäre am Ende dieselbe gewesen.«
Mit welcher lässigen Entschlossenheit sein sonst so besonnener Vater eine Entscheidung fällte, die seinem ganzen Leben und dem seiner Familie eine neue Wendung geben würde, erstaunte Caius. Aus dem Augenwinkel musterte er Rullianus, der nicht recht wusste, wo er hinblicken sollte. Sein dünnes Lächeln kostete ihn einige Anstrengung. Die Idee mit dem Sondergesandten hatte ihm ganz offensichtlich schon nicht gefallen; darüber hinaus schien die Lobeshymne des Princeps auf Quintus seine eigene Eitelkeit zu verletzen.
Augustus beugte sich wieder vor und griff nach seinem Glasbecher. »Auf was trinken wir?«, fragte er.
»Auf die neue Provinz«, sagte Quintus.
»Auf die Rheinarmee«, gab Rullianus zurück.
Der Princeps verzog das Gesicht. »Beides nicht sehr einfallsreich.« Plötzlich wandte er sich an Caius. »Weitere Vorschläge?«, fragte er aufmunternd lächelnd.
»Auf die Unbestechlichkeit?«, schlug Caius vor und war überrascht, wie spontan und selbstbewusst sein Mund Antwort gab.
»Sehr gut«, sagte der Princeps anerkennend. »Auf die Unbestechlichkeit.«
Während sie tranken, spürte Caius erneut den abschätzigen Blick, mit dem Rullianus ihn von der Seite musterte.
In diesem Moment erschien wieder ein Sklave in der Tür. Augustus gab ihm ein Zeichen, und der Sklave nickte und verschwand. Augustus lächelte und sah Quintus an, den Becher immer noch in der Hand. »Da ich von deiner Einwilligung ausgegangen bin, habe ich mir erlaubt einen Brief an Varus vorzubereiten, der ihn über deine Ernennung informiert«, sagte er und fügte augenzwinkernd hinzu: »Jetzt kannst du es dir nicht mehr anders überlegen.«
Der Sklave tauchte mit einer Papyrusrolle in der Hand erneut in der Tür auf.
Auf einen Wink des Princeps trat er ein und überreichte Augustus das Schriftstück. Dieser entrollte und überflog es, dann wandte er sich an den Sklaven. »Hol Philippos«, sagte er knapp. »Philippos ist für Germanien das, was Patroklos für Gallien ist, nämlich der Schnellste«, erklärte er seinen Gästen. »An den Stationen am Rhein kennen sie ihn schon. Wenn Philippos zur Stalltür hereinkommt, ducken sich die Gäule weg, weil sie wissen, dass es nun ernst wird. Ist eine Nachricht wirklich wichtig, dann ist Philippos dafür zuständig.« Augustus drehte sich zu Quintus. »So viel zur Bedeutung deines neuen Postens.«
Caius war überrascht, mit welcher Detailversessenheit der Princeps sich mit Dingen wie dem Nachrichtenwesen beschäftigte. Konnte ein Mann in seiner Stellung sich überhaupt um derart viele Einzelheiten kümmern? Das Erscheinen eines weiteren Sklaven unterbrach ihn in seinen Gedanken.
Auch er hatte eine dieser Lederschatullen mit aufgeprägtem Muster in der Hand, und auch er schob das von Augustus überreichte Schriftstück sorgfältig in das röhrenförmige Futteral. Als er an dem Band zog, bemerkte Caius, dass ihm an der rechten Hand Daumen und Zeigefinger fehlten.
»Die Würfel sind gefallen«, sagte Augustus zu Quintus, während der Bote sich mit seinem Auftrag entfernte. »Philippos holst du nicht ein.«
Sie saßen noch eine Weile da und nippten an ihrem Wein, während das Gespräch zunächst um Belanglosigkeiten kreiste, bis wieder ein Sklave erschien und Augustus ein Zeichen gab. Der Princeps erhob sich und verkündete seinen Gästen, dass man sich zum Essen begeben könne. Quintus, Rullianus und Caius standen ebenfalls auf und folgten ihrem Gastgeber in die Vorhalle.
»Themistoklis zeigt euch den Weg«, sagte Augustus zu Rullianus und Quintus. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit ganz unvermittelt auf Caius. »Du kommst mal mit mir«, forderte er ihn auf. »Ich möchte kurz mit dir reden.«
Caius war völlig verdutzt. Wortlos schloss er sich dem Princeps an, der sich nach links wandte, während der Sklave seinem Vater und Rullianus den Weg in die andere Richtung wies.