Wir verhielten uns an diesem Nachmittag sehr ruhig. Machten einfach mit unserer Arbeit weiter. Oder versuchten es wenigstens. Mir gelang es nicht: Das Wort IDIOT hüpfte in meinem Kopf herum. In der letzten Pause machte ich nicht einmal mit, als Billy Lee seinen Fußball auspackte, und gab keine Expertenmeinung dazu ab, wie viele Tore Jacky Chapman am Samstag für Charlton schießen würde. Ich sah mich einfach auf dem Pausenhof um, wo sich einige aus unserer Klasse wie immer verhielten, während andere darüber sprachen, was geschehen war.
Lance und Vi Delap fanden es einfach blöd, so etwas zu tun, während Marcus Breen sich darüber wunderte, warum jemand total guten Wackelpudding verschwendet hatte. Aber Daisy Blake hättet ihr sehen sollen! Sie LIEBT Mrs Martin. Als Daisys Großvater letztes Jahr starb, war Mrs Martin einfach unglaublich. Sie sagte zu ihr, dass sie ruhig weinen solle, wenn ihr nach Weinen zumute sei, oder eben nicht, wenn sie es nicht wolle. Und sie veränderte Daisys morgendliche Begrüßung und fügte am Schluss eine ganz lange Umarmung hinzu. Und am Ende des Schultags hielt sie Daisys Hand, bis ihre Mum oder ihr Dad kam. Daisy war also total WÜTEND.
»Ach, komm!«, sagte ich, als ich merkte, dass sie mich zornig ansah. »Ich würde doch niemals! Auf keinen Fall!«
Daisy musterte mich und stemmte dann die Hände in die Hüften, während sie sich drehte und den Blick über den Pausenhof schweifen ließ.
»Wer war es dann?«, sagte sie. »Wer hat es getan, Cymbeline?«
Sie war nicht die Einzige, die das wissen wollte.
Mr Baker hielt vor Schulschluss eine SONDERVERSAMMLUNG ab. Nachdem wir alle in die Aula geströmt waren, sah er von der Bühne aus auf uns herab. Er ließ sich über Respekt und Benehmen aus und bat den Übeltäter vorzutreten. Elizabeth Fisher warf mir einen Blick zu, der mich wieder knallrot anlaufen ließ, obwohl ich mich wirklich dagegen wehrte. Hatte Mrs Martin es bemerkt? Ich hielt den Kopf gesenkt und hoffte, dass sie nicht zu mir hersah.
»Nun«, sagte Mr Baker, als niemand gestand. »Man sagte mir, in dieser Schule gebe es lauter freundliche, rücksichtsvolle — und ehrliche — Schüler. Aber offenbar ist dem nicht so.«
Wir bekamen alle einen Umschlag, den wir zu Hause unseren Eltern geben sollten. Dann gingen wir der Reihe nach hinaus. Wieder brannten mein Hals und mein Gesicht, als ich an Mrs Martin vorbeigehen musste. Sie stand neben der Sprossenwand, und ich konnte endlich irgendwie verstehen, wie Daisy sich fühlte. Mrs Martin versuchte, fröhlich auszusehen, als wäre das alles nur ein dummer Scherz.
Aber es wollte ihr nicht recht gelingen.
Ich hielt den Kopf gesenkt und folgte Vi auf den Pausenhof, wo Daisy an einer neuen Zuckerstange lutschte (die sie bestimmt in ihre Schultasche geschmuggelt hatte, denn erlaubt hätten ihre Eltern das NIEMALS). Sie warf den vorbeigehenden Kindern zornige Blicke zu.
»Was guckst du so?«, fragte Billy Lee, als er an der Reihe war.
»Sag du es mir«, sagte Daisy und zeigte mit der Zuckerstange auf ihn. Ich dachte, sie würden tatsächlich Streit anfangen, aber seine Mum war schon da, um ihn abzuholen, sodass er einfach wegging.
Ich wurde nicht abgeholt — zumindest noch nicht. Mittwochs gehe ich nach der Schule in den Computer-Club, weil Mum arbeitet. Ich würde ja lieber Fußball spielen, aber das kostet mehr, und Mum sagt sowieso, dass ich die Zeit nutzen und Hausaufgaben machen soll.
»Besonders Rechtschreibung«, sagt sie.
Ich würde gerne widersprechen, aber das geht eigentlich nicht. Rechtschreibung! Es gibt einfach so viele Buchstaben! Und wie sie dann zusammengehören, die »eu« und »äu« tauschen die Plätze wie Erstklässler, die Mrs Mason ärgern wollen. Außerdem haben wir gerade mit dem Unterschied zwischen »ss« und »ß« angefangen, den ich zuerst nicht verstanden habe.
»Du schreibst ›ss‹ oder ›ß‹, je nachdem, ob ein kurzer oder langer Vokal vorausgeht«, sagte Miss Phillips. »Zum Beispiel: dein Fuuuuußball.« Ich nickte, kapierte es aber immer noch nicht. Jeder weiß, dass es Billys Fußball ist. Und man kann unmöglich wissen, wo »ß« und wo »ss« stehen muss. Da könnte man genauso »Steck dem Esel den Schwanz an« spielen. Ich kann es kaum erwarten, bis ich an einem Computer schreiben darf, weil einem da die roten Wellenlinien helfen. Und ich frage mich: Warum hat noch niemand einen Bleistift erfunden, der so was automatisch macht?
»Hallo, Cym«, sagte Mum später am Tag und streckte den Kopf durch die Tür des Computerraums. »Fertig?«
Ich bejahte, und während sie mich abmeldete, zog ich meine Jacke an. Dann folgte ich ihr auf den Pausenhof und durch das Tor hinaus auf die Straße. Dort standen ein paar Männer mit Klemmbrettern, betrachteten die Schule und machten sich Notizen. Einer mit Helm auf dem Kopf stand sogar auf dem Dach. Polizei …? Mr Baker nahm diesen Wackelpudding-Vorfall wirklich ernst. Ich griff nach Mums Hand und zog sie die Treppe hinauf Richtung Blackheath.
Wenn ich in der Schule etwas getan habe, was ich vielleicht nicht hätte tun sollen, würde ich es normalerweise NICHT meiner Mum erzählen wollen. Aber diesmal wollte ich es ihr unbedingt erzählen, denn Mum kennt Mrs Martin. Sie sind beide im Förderverein, der Geld für die Grundschule St Saviour’s sammelt. Sie bringen zum Beispiel alle dazu, Kuchen zu backen, die sie beim Schulfest dann wieder an sich selbst verkaufen, oder sie bitten die Eltern, den Billigwein zu spenden, den sie beim letzten Schulfest gewonnen, aber nicht getrunken haben. Dasselbe gilt für Spielzeug. In der zweiten Klasse spendete Lance’ Mum, ohne ihm etwas zu sagen, seinen alten Captain Buzz Lightyear für den Weihnachtsmarkt. Darren Cross gewann die Figur in der Tombola. Niemand wusste davon, bis Darrens Mum, ohne ihm etwas zu sagen, Buzz wieder für den Ostermarkt spendete. Und wer zog ihn aus dem Glückstopf? Lance!
»Buzz!«, rief er. »Ich dachte, du wärst nach Gamma Quadrant, Sektor 4 zurückgeflogen!«
Als seine Mum die Figur später zu Hause sah, sagte sie: »Ich glaub, ich spinne!«
Der Grund, warum ich es Mum erzählen wollte, war einfach: Ich musste erklären, warum ich gekichert hatte. Ich wollte, dass sie Mrs Martin sagte, dass es wirklich nur ein Kichern war und dass ICH KEINEN WACKELPUDDING IN IHRE SCHUHE GEFÜLLT HATTE. Die Vorstellung, sie könnte denken, dass ich es getan hatte, war schrecklich — nicht zuletzt, weil sie es Mr Baker erzählen müsste, oder? Ich begann also, Mum die ganze Geschichte zu erzählen, aber sie hörte nicht zu. Zuerst musste sie ihren Autoschlüssel suchen, was immer ewig dauert, weil ihre Tasche wie eine TARDIS ist (diese Raum-Zeit-Maschine aus Doctor Who, also, wahrscheinlich — am besten fragt ihr Lance). Als wir dann endlich im Auto saßen, sagte sie Sachen wie »Ach, du meine Güte« oder »Wie schade«, bevor sie mit etwas absolut ABWEGIGEM rausrückte.
»Cym«, sagte sie und legte die Hand auf meinen Arm. »Du willst doch, dass ich glücklich bin, oder?«
Das war wirklich eine merkwürdige Frage und nicht nur, weil sie REIN GAR NICHTS mit Mrs Martin (oder Wackelpudding) zu tun hatte. Vor Weihnachten war sie überhaupt gar nicht glücklich gewesen, und das war schrecklich gewesen. Hätte sie mich damals gefragt, ob ich will, dass sie glücklich ist, hätte ich natürlich Ja gesagt. Aber jetzt schien sie mir glücklich genug. Und warum auch nicht? Charlton strebte Platz drei an! Und mein letztes Zeugnis war, ich zitiere, »nicht ganz so schlecht wie das davor«.
Außerdem hatte sie einen neuen Job bekommen und unterrichtete Kunst, was bedeutete, dass wir uns jetzt ein Auto leisten konnten, und sie ging neuerdings freitagabends mit ihrem neuen Freund Stefan ins Kino.
»Du meinst, noch glücklicher?«, fragte ich.
»Vielleicht.«
»Wie in dem Film Meine Lieder — meine Träume?«
»Warum nicht?«
»Dann hoffen wir mal, dass Charlton Wigan schlägt. Aber vor meinen Freunden wird nicht gesungen. Warum fragst du?«
Mum wurde rot. »Heute ist etwas passiert.«
»Was?«
»Einfach … etwas, worüber ich nachdenken muss.«
»Aber es ist etwas Gutes?«
»Ich hoffe. Aber ich muss zuerst darüber nachdenken. Am besten vergisst du einfach, dass ich überhaupt etwas gesagt habe, okay?«
Mum steckte den Schlüssel ins Zündschloss, und ich zuckte die Achseln. Ich vergaß es nur zu gerne, denn ich wollte zum Thema Mrs Martin zurückkehren. Jetzt in dieser Minute könnte sich meine Lieblingslehrerin fragen, was sie getan hatte, um mich gegen sich aufzubringen. Aber als ich weitererzählen wollte, wurde Mum wieder abgelenkt. Ich kam gerade zu dem Teil, als wir von der Heide zurückgekommen waren, da klingelte Mums Handy.
»Hallo?«, sagte sie und klang ein bisschen überrascht davon, wer sie anrief. Ich versuchte einfach weiterzureden, aber Mum hob die Hand. Ihr Gesicht wurde ernst, und sie sagte »Natürlich« und »Sofort«, bevor sie auflegte. Sie ließ das Auto an, wendete und eine halbe Minute später schossen wir über den kleinen Kreisverkehr. Ich fragte sie, was los sei.
»War es Mrs Martin?«, fragte ich, und meine Stimme zitterte ein bisschen. »Will sie dich sehen?«
Die Antwort war Nein, denn Mrs Martin lebt in Westcombe Park, und wir hielten drei Minuten später vor einem Haus auf der anderen Seite von Blackheath Village.
Veroniques Haus.
Und in der Garageneinfahrt stand ein Krankenwagen.