Als ich Veroniques Oma kennenlernte, schlief sie in ihrem Sessel. Veronique führte mich hinunter zu ihrem kleinen Holzhäuschen. Wir hatten ihr Tee gebracht, aber statt ihr beim Trinken zuzuschauen, betrachtete ich all die Fotos an der Wand, die sie zusammen mit Veronique zeigten, als Veronique klein war, oder auch ältere, als sie selbst ein Kind war und mit ihrer Mum, ihrem Dad und ihrer Schwester vor ein paar Booten stand.
Ich hätte sie gerne über diese Zeit ausgefragt und überhaupt gerne mit ihr geredet, weil ich selbst keine Großeltern habe und alle sagen, dass Großeltern lustig sind. Angeblich schenken sie einem Süßigkeiten und Ein-Pfund-Münzen UND schlafen beim Fernsehen ein (was bedeutet, dass man nicht aufhören muss). Veroniques Oma machte nichts von alldem, als ich sie damals zum ersten Mal sah, denn sie wachte nicht einmal auf, was mich zu der Frage veranlasste, wozu sie dann überhaupt da war.
Aber beim nächsten Mal war es anders.
»Aha«, sagte sie und sah mich mit zusammengekniffenen Augen durch DICKE Brillengläser hindurch an. »Du bist also der berühmte Cymbeline. Darf ich fragen, was das für ein Name ist?«
»Nanai!«, sagte Veronique.
»Kein Problem. Das ist Shakespeare, Veroniques Oma.«
»Das weiß ich doch! Ich bin nicht komplett gaga, weißt du. Und sag Nanai zu mir. Aber Shakespeare verwendete auch normale Namen, oder? Duncan, Richard, Henry …«
»Aber ich könnte auch Hamlet heißen«, sagte ich. »Oder Romeo.«
»Gut, einigen wir uns darauf, dass es auch schlimmer hätte kommen können.«
Nanai kreuzte die Beine auf dem kleinen Fußschemel, der vor ihrem Sessel stand. »Und was hast du über dich selbst zu sagen, junger Mann?«
Das war eine überraschende Frage, und ich wusste zuerst nicht, wie ich sie beantworten sollte. Aber dann redete ich darüber, dass wir samstags immer auf der Heide Fußball spielen, und dann über Charlton und meine Hoffnung, der Club würde in der Premier League sein, wenn ich für ihn spielte.
»Dann willst du mal Fußballer werden?«
»Ja, klar! Jacky Chapman hat sogar einen eigenen Hubschrauber! Er besitzt einen Pilotenschein und fliegt selbst herum.«
»Jacky …?«
»Chapman. Der Mannschaftskapitän. Ich mache meine Personen-Präsentation über ihn.«
»Deine …?«
»Man muss etwas über eine besondere Person herausfinden«, unterbrach Veronique. (Ich finde, sie macht das ganz schön oft.) »Und dann eine Präsentation darüber halten. Ich stelle einen Wissenschaftler vor.«
»Einstein?«
»Nein. Niels Bohr.«
»Im Leben von Niels Bohr bohren — wie langweilig«, sagte ich. »Jacky Chapman wird mich zu einem Spiel fliegen und dann wieder heimbringen.«
»Wirklich?«
»Na ja, ich habe ihm geschrieben und gefragt, ob er mit seinem Hubschrauber zur Schule fliegen und mich abholen würde. Habe aber bislang noch keine Antwort bekommen.«
»Du scheinst Fußball wirklich zu mögen, Cymbeline.«
»Klar. Hast du mal gespielt?«
Nanai verneinte, und als ich ihr erzählte, dass Daisy und Vi und Vis Schwester Frieda richtig gut sind, drückte sie sich aus ihrem Sessel hoch. Ich holte den Ball, den ich Veronique zu Weihnachten geschenkt hatte (und der verdächtig sauber aussah), und dann spielten wir in ihrem Garten. Nanai hüpfte wie verrückt herum. Defensiv war sie sehr stark (wobei ihr Gehstock half). Auch als angreifende Mittelfeldspielerin schlug sie sich beeindruckend. An Jacky Chapman wäre sie vielleicht nicht vorbeigekommen, aber Veronique tunnelte sie mühelos und schoss ein Tor zwischen zwei Blumenkübeln hindurch. Dann war sie müde, deshalb ließ ich nur zwei Minuten wegen Spielverzögerung nachspielen. Wir halfen ihr in ihren Sessel zurück, und sie strahlte uns beide an. Besonders Veronique.
Veronique setzte sich auf die Kante des Sessels. Nanai nahm ihre Hand und machte dann etwas Merkwürdiges: Sie drückte Veroniques Zeigefinger in ein Dreieck und knabberte ein bisschen daran! Veronique verdrehte die Augen.
»Sie sagt, sie macht das, weil ich so köstlich bin«, erklärte sie. »Als ich ein Baby war, wollte sie mich aufessen.«
Nanai kicherte, und Veronique verdrehte wieder die Augen (obwohl ich wusste, dass es ihr insgeheim gefiel). Und dann erzählte Veronique Nanai das Neueste über ihren Französisch- und Chinesisch-Unterricht, die Fecht-Wettkämpfe, die Geigen-, Klarinetten-, Ukulelen- und Klavierstunden und dass sie neulich angefangen habe, Tolstoi zu lesen.
»In deinem Alter! Magst du Tolstoi, Cymbeline?«
»Ich mag den Film Toy Story. Lance hat einen Buzz Lightyear.«
»Ist das dein Bruder, dieser Lance?«
»Ein Freund. Ich habe keinen Bruder und auch keine Schwester«, fügte ich hinzu, was offenbar ein Fehler war, denn Nanai sah mich ein bisschen verängstigt an, bevor sie sich den Fotos auf dem Tischchen neben ihrem Sessel zuwandte. Eines zeigte ein großes Schiff, auf einem anderen waren Menschen zu sehen, die aussahen, als wären sie ihre Eltern. Aber sie griff nach dem dritten, das nur sie selbst als junge Frau mit einer anderen jungen Frau zeigte, die genauso aussah wie sie.
Nanai drückte das Bild fest an sich, murmelte etwas vor sich hin und schlief ein.
Veronique griff nach Nanais Decke und zog sie ihr über die Knie. »Sie hält es die ganze Nacht lang fest«, sagte sie und deutete auf das Foto.
»Was? Warum?«
»Es ist ein Foto von ihr und Thu«, sagte Veronique
»Thu?«
»Ihre Zwillingsschwester. Ich hatte doch erzählt, dass Nanai ein Flüchtling war?«
Ich erinnerte mich. Das ist einer der Gründe, warum Veronique und ihre Familie SO interessant sind. Nanai gehörte zu den sogenannten vietnamesischen Boat People — Flüchtlinge wie die Menschen, die heute vor schlimmen Dingen fliehen. Sie gehörten dem Volk der Hoa an, das sind Chinesen, die in Vietnam leben. Damals mussten sie aus Vietnam fliehen, weil die Regierung ihre Häuser niederbrannte.
»Aber ihr Boot sank«, erzählte Veronique. »Oder so ähnlich. Ich bin nicht ganz sicher. Nanai wurde gerettet. Ihre Schwester nicht.«
Oh NEIN.
Ich sah auf Nanai hinab, bei diesem zweiten Besuch, und kam mir so BLÖD vor. Da redete ich davon, dass ich keine Schwester hatte! Ich konnte nicht fassen, dass ich das getan hatte.
»Nicht deine Schuld«, sagte Veronique, die ahnte, was ich dachte. »Los, komm.«
Sie zog mich in den Garten hinaus.
»Ich hätte dir von Thu erzählen sollen«, sagte sie. »Ihretwegen dürfen wir Nanai nichts über ihre Flucht fragen. Sie spricht einfach nicht darüber.«
»Verdammt. Und sie waren Zwillinge? Eineiige?«
»Nein. Aber Nanai war die Wilde, sagt sie.«
»Das merkt man am Fußball.«
»Thu dagegen war ruhig und künstlerisch begabt. Musikalisch. Und sehr hübsch. Nanai sagt, daher hätte ich …«
»Was?«
Veronique wurde rot. »Egal. Jedenfalls wünschte ich, ich hätte eine Schwester. Du nicht?«
Ich blinzelte Veronique zu, weil ich nicht wusste, wie ich antworten sollte. Aus irgendeinem Grund fielen mir die beiden kleinen Töchter von Stefan ein, die er am Wochenende manchmal mitbringt. Sie sind okay, und die Kleine ist wirklich süß, um ehrlich zu sein. Sie klettert auf meinen Schoß, wuschelt mir durch die Haare und nennt mich Thimbeline. Und sie malt wirklich saukomische Bilder von mir.
Aber ich zuckte nur die Achseln.
Ich bekam einfach nicht das Bild aus meinem Kopf, wie Nanai das Foto umklammerte, als wäre es ein Schwimmkissen. Etwas, was ihr Sicherheit gab.
Es vermittelte mir das Gefühl, ihr nahe zu sein, und einen Augenblick lang wusste ich nicht, warum. Aber dann fiel es mir ein. Wisst ihr, ich habe auch jemanden verloren. Es geschah aber, als ich sehr klein war, deshalb erinnere ich mich nicht richtig. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es für Nanai wohl gewesen ist, ihre Zwillingsschwester auf diese Weise zu verlieren.
Ich fröstelte, aber dann rief Veroniques Dad uns zum Abendessen hinein. Ich musste die ganze Zeit an das Foto in Nanais Hand denken und wie zerbrechlich und müde sie ausgesehen hatte, als sie es umklammerte.