An diesem Tag holte mich Tante Mill ab. Sie und Mum, was komisch war. Warum waren sie beide da? Aber ich dachte nicht wirklich darüber nach, denn die Sache mit Mrs Martin war zu groß.
Wackelpudding — na und? Aber DAS …?
Als ich in Tante Mills Auto kletterte, sah ich immer noch Mrs Martins Tasche vor mir, bevor sie in die Luft flog, und dann wieder zwanzig Sekunden später, nachdem Jen sie mit einem Feuerlöscher gelöscht hatte. Sie war ganz schwarz und verformt, und in der Seite klaffte ein großes Loch. Und ich sah, wie Mrs Martin nach vorne ging, sie vom Boden aufhob und total geschockt betrachtete, bevor sie sich mit demselben Gesichtsausdruck umdrehte.
Und UNS anstarrte.
Wir alle starrten SCHWEIGEND zurück, bis Mr Baker sich drohend erhob.
»Zurück in die Klassenzimmer!«
Wir marschierten zurück in unsere Klassen, und ich fühlte mich SO schrecklich, dass ich dieses Gefühl bekam, das ihr vielleicht von eurer Schule kennt, wenn jemand etwas ganz Schlimmes getan hat. Es fühlte sich wirklich an, als ob ich selbst es gewesen wäre, der das getan hatte. Und als ich an Mrs Martin vorbeiging, wurde es noch schlimmer. Ich kicherte nicht. Diesmal nicht. Aber ich wurde stattdessen rot. Und Mrs Martin schaute mich die ganze Zeit an. Ich sah sie eigentlich gar nicht, weil ich meine Augen auf Daisy gerichtet hatte, die direkt vor mir ging, aber ich SPÜRTE, dass ihr Blick mir den ganzen Weg in die Schule und die Treppe hinauf folgte, und die Ränder meiner Ohren prickelten vor Hitze, als ich dort ankam.
»Hattest du einen guten Tag?«, fragte Mum, während Tante Mill losfuhr und sich vor den Fiesta von Lance’ Mum drängelte. Ich sagte nichts. Ich wollte nur nach Hause, damit ich allein mit ihr darüber sprechen konnte, was passiert war.
UND SIE DAZU BRINGEN KONNTE, MRS MARTIN ANZURUFEN.
Aber wieder hatte ich keine Gelegenheit dazu.
Ich erwartete, dass Tante Mill an dem kleinen Kreisverkehr nach rechts — zu uns — abbiegen würde. Stattdessen fuhr sie durch Blackheath hindurch zu sich nach Hause. Sie wohnt neben Veronique (Billy Lee wohnt auf der anderen Straßenseite), aber wir nahmen Veronique nicht mit, weil sie noch zum Fechten ging. Das macht meine Cousine Juni zwar auch, aber an ihrer Schule, deshalb musste niemand sie mitnehmen. Warum wir zu Tante Mill fuhren, wusste ich nicht, und ich wollte eigentlich fragen, während Tante Mills neues elektronisches Tor sich öffnete und sie die Alarmanlage ausschaltete. Aber dann gingen wir hinein, und ich dachte eigentlich, ich würde dort Clay (meinen Cousin) treffen, doch er war noch beim Rugbytraining. Deshalb waren wir nur zu dritt, was mir ein bisschen komisch vorkam.
»Was ist los?« Ich fühlte mich klein in ihrem riesigen Wohnzimmer.
Tante Mill hob die Hände und ging weiter durchs Wohnzimmer bis zur Küche, als ob sie meiner Mum sagen wollte, es sei ihre Aufgabe, mir zu antworten. Mum holte Luft. Sie ging hinüber zu einem der Sofas, setzte sich hin und nahm meine Hand.
»Es geht um Stefan«, sagte sie.
Ich runzelte die Stirn. »Geht ihr heute Abend ins Kino? Es ist erst Donnerstag.«
»Ich weiß.« Mum schüttelte den Kopf. »Und nein. Ich bleibe hier.«
»Gut. Aber was dann?«
Sie holte Luft. »Nun, Stefan möchte mehr Zeit mit mir verbringen.«
Ich dachte kurz darüber nach. »Dann vielleicht auch dienstags?«
»Tatsächlich sogar viel mehr.«
»Oh.«
»Und ich habe ihm gesagt, dass ich ein bisschen unsicher bin.«
»Die Anzahl der Filme, die du anschauen kannst, ist ja auch begrenzt, oder?«
»Richtig. Deshalb schlug ich vor, dass wir ihn ein bisschen besser kennenlernen, bevor wir uns darauf festlegen, sehr viel mehr Zeit zusammen zu verbringen. Und dass er auch meine Familie richtig kennenlernt.«
»Und?«
»Er kommt hierher zu Besuch.«
»Hätten nicht auch alle zu uns kommen können?«
»Das habe ich auch gesagt. Aber Mill braucht aus irgendeinem Grund das Internet, und unsere Verbindung ist nicht besonders gut.«
»Aha. Aber sollte Dad nicht auch hier sein, wenn Stefan uns kennenlernen soll?«
»Ach«, sagte Mum. »Nein, ich … ich glaube, dein Dad muss arbeiten.«
Das war schade, aber eigentlich hatten sie sich schon kennengelernt. Als Dad mich einmal nach dem Wochenende nach Hause brachte, war Stefan schon da. Er war total freundlich, aber Dad tat irgendwie so, als wäre er unsichtbar.
»Heute Abend ist also nur Stefan da. Er bleibt zum Abendessen.«
»Gut. Aber … was gibt’s zum Abendessen?«
Der Grund meiner Frage war einfach. Als es Mum vor Weihnachten nicht gut ging, wohnte ich eine Weile bei Tante Mill und wurde in dieser Zeit gewissen Lebensmitteln ausgesetzt. Das Schlimmste waren sogenannte Artischocken, die aus meinem Lieblingsessen (Pizza) eine WIDERWÄRTIGE Mahlzeit machten. Außerdem setzte Tante Mill mir Fisch vor, der tatsächlich ROH war, obwohl die Leute in dem Abholrestaurant versucht hatten, das zu verbergen, indem sie ihn klein schnitten und in Reis einwickelten. Wie faul kann man sein?
Diesmal, antwortete Mum, würde sie kochen. Sie würde etwas Besonderes für Stefan zubereiten, weil er Vegetarier ist. Das klang okay, aber als ich sagte, ich müsse ihr etwas erzählen, meinte Mum, ich solle es für später aufheben, weil sie »in die Puschen kommen« müsse. Ich seufzte und fragte, ob ich fernsehen dürfe. Mum erlaubte es mir, und ich griff nach der Fernbedienung. Ich stellte Tante Mills RIESIGEN Bildschirm an und ging in den iPlayer von BBC. Aber wer immer den Fernseher zuletzt benutzt hatte, hatte die Lautstärke zu hoch gedreht, und Mum kam gleich wieder zurück ins Wohnzimmer gestürmt.
»Netter Versuch!«, sagte sie und schnappte sich die Fernbedienung.
Die TARDIS wirbelte ohne mich davon.
Ich schrieb den Fernseher ab und ging nach draußen. Auf dem Rasen lag Clays Weltmeisterschaftsball 2018, und ich versuchte, meinen Solo-Kopfball-Rekord (vier) einzustellen, gab aber schnell auf, weil ich mich nicht konzentrieren konnte. Das verformte Plastik. Dieser Ausdruck auf Mrs Martins Gesicht. Ich mit meinem ROTEN Kopf … Seufzend ging ich wieder hinein und spielte auf Mums Handy Minecraft, bis der Akku leer war. Ich kramte in ihrer Tasche nach dem Ladegerät, und als ich die Lippenstifte und Skizzenbücher und ihren Kaffeebecher aus Bambus und all die anderen Dinge darin sah, wurde mir klar, warum sie ihre Schlüssel immer nicht findet.
Und dann entdeckte ich eine Schachtel. Klein. Stabil und quadratisch. Auf dem Deckel war ein kleiner goldener Stern befestigt. Als ich ihn sah, fühlte ich mich viel besser. Was hatte Mum mir gekauft? Die Schachtel war wirklich sehr klein. Einen neuen Tischfußballer? Einen Jacky Chapman? Und warum? Weil ich mir wegen Mrs Martin Sorgen machte? Vielleicht hatte sie doch zugehört. Obwohl ich wusste, dass ich eigentlich nicht hineinschauen sollte — aber ganz bestimmt trotzdem hineinschauen würde —, begann ich, die Schachtel zu öffnen. Aber die Türklingel ließ mich zusammenzucken, und Mum rief, ich solle öffnen.
Also schob ich die kleine Schachtel zurück in ihre Tasche.
Vor der Tür stand Stefan, obwohl ich einen Augenblick brauchte, bis ich ihn erkannte. Erstens war es ein bisschen komisch, ihn hier bei Tante Mill zu sehen, und zweitens trug er normalerweise Jeans und einen Kapuzenpullover. Heute hatte er aus irgendeinem Grund ein Jackett an, und er hatte seine Haare nach hinten gekämmt. Außerdem sah er nervös aus. Hatte er von Tante Mills Kochkünsten gehört? Ich wollte ihn gerade beruhigen und ihm sagen, dass Mum heute Abend kochte, aber ich kam gar nicht dazu, denn Tante Mill wuselte geschäftig dazwischen.
»Oh«, sagte sie, »wie reizend!«
Sie streckte die Arme aus, um den Blumenstrauß entgegenzunehmen, den Stefan in der Hand hielt, was ein bisschen peinlich war, denn er erklärte, dass die Blumen eigentlich für Mum wären. Darauf meinte Tante Mill, das wäre schade, denn sie wären wunderschön und sie könne sich nicht erinnern, wann sie zuletzt von irgendjemandem Blumen bekommen hätte. Daraufhin sagte Stefan, das könne er kaum glauben, und Tante Mill wurde rot. Sie sagte, er sei ein echter Charmeur, und berührte ihn am Arm, bevor sie sich die Haare hinter die Ohren strich. Mum kam aus der Küche und schaute böse. Manchmal streiten Mum und Tante Mill, und ich dachte, sie würden vielleicht tatsächlich gleich anfangen, aber da klingelte es wieder an der Tür. Diesmal war es Juni (meine Cousine).
Juni ist ein Jahr älter als ich. Das heißt, dass sie von den meisten Menschen als »SOLCHEN Idioten« spricht, mich komplett ignoriert und geht wie der Glöckner von Notre Dame, weil offenbar irgendjemand ihre Augen mit Klebeband an ihrem Handy befestigt hat. Sie war beim Fechten gewesen. Abgesehen von ihrem Handy ist das ihr Ding, und wenn sie auf unserer Schule gewesen wäre, hätte Mrs Martin einen tollen Fecht-Song für sie gedichtet. Wenn sie gewinnt, ist alles gut, denn dann bricht sie ihre Regel, mich zu ignorieren, um mir davon zu erzählen. Sie beschreibt, wie sie einen Ausfallschritt nach vorn gemacht hat, um einen Gegner niederzustechen, oder wie sie zurückgesprungen ist, um einen anderen Gegner daran zu hindern, sie niederzustechen. Aber an diesem Tag schien sie nicht gewonnen zu haben. Wortlos stapfte sie herein, stieß die Kellertür auf und warf ihre Maske die Treppe hinunter. Ihren Degen schmiss sie gleich hinterher und verkündete dann, dass es auf der GANZEN Welt nur eine Sache gebe, die sie mehr hasste als Fechten.
»Und das ist meine KOMPLETT BLÖDE Mum, weil sie mich dazu zwingt, es zu TUN!«
Dann bemerkte sie Stefan.
»KENNE ich dich?«, sagte sie.
Stefan lächelte und streckte ihr die Hand hin. »Stefan«, sagte er. »Ich glaube, wir haben …«
»Nicht sehr hilfreich«, seufzte Juni. »Was interessiert mich dein Name? Wer bist du?«
»Oh.« Stefan blickte um sich, aber Mum und Tante Mill waren wieder in der Küche. »Ich bin ein Freund von Janet, Cyms Mum? Ich habe …«
»Also, wenn du ihr Freund bist«, sagte Juni und hielt eine Hand hoch, damit er stehen blieb, »warum bist du dann nicht bei ihr zu Hause?«
»Wie bitte?«
»Wenn du ihr Freund bist, was hast du dann hier zu suchen? MUM!«, schrie Juni. »Was macht dieser Freund von Cyms Mum in UNSEREM Haus?«
Da kam Tante Mill zurück und erklärte, Stefan bleibe zum Abendessen. Sie lächelte Juni steif an und fragte, ob sie freundlicherweise hinaufgehen und sich umziehen würde. Dann ging sie zurück in die Küche, während Juni fauchend den Kopf schüttelte, bis sie schließlich mich bemerkte. Ihre Hände wanderten zu ihren Hüften, während sie mich mit ihrem Blick fixierte.
»À point«, sagte sie.
»Wie bitte? ›Ah …‹?« Ich sah sie erstaunt an. Juni geht in eine sehr vornehme Schule, und ich fragte mich, ob das etwas war, was man dort lernte.
Juni schloss die Augen und öffnete sie dann wieder.
»À point. Bitte sag mir nicht, dass du nicht weißt, was das bedeutet.«
Ich dachte heftig nach, musste aber die Achseln zucken.
»Unglaublich! Das ist eine Garstufe beim Steak.«
»Cool. Danke, dass du mir das gesagt hast.«
»Moment. Ich sage das nicht einfach nur so — was bin ich, eine Lehrerin?«
»Dann …?«
»Pass auf. Donnerstag ist Steak-Abend. Sag Mum, dass ich meines à point möchte und dass sie es AUF KEINEN FALL zu lange garen darf. Kann dein kleines Hirn sich das merken?«
Ich wollte das gerade bejahen oder wenigstens sagen, dass ich davon ausginge, als Juni herumwirbelte, durchs Wohnzimmer marschierte und dann die Treppe hinaufstampfte.
Stefan stand mit offenem Mund da. »Ist sie immer so?«
»Sie ist netter, wenn sie gewinnt.«
»Aha.« Stefan bemerkte, dass er seine Hand immer noch ausgestreckt hatte, und zog sie zurück.
»Ich meine, ein bisschen netter.«