Ich sah sie an.
»Ich?«
»Ja. Vor Weihnachten hast du herausgefunden, warum deine Mum krank war, oder? Also dachte ich, du könntest vielleicht auch dieses Problem lösen.«
»Ach so. Na ja …« Ich kaute auf meiner Unterlippe. »Hast du es mit dem Flugzeug-Trick versucht? Stefans kleine Tochter isst ihren Brokkoli, wenn man das macht. Aber ich bin nicht sicher, ob das bei jemandem in Nanais Alter funktioniert. Hast du es mit Keksen versucht?«
»Ja.«
»Mit Custard Creams? Die magst du besonders gern, nicht wahr, Nanai?«
»Und Doppelschokokeksen und Vollkornkeksen und Mars-Riegeln und KitKats.«
»WAS?!«
»Ich mein’ doch den Schokoriegel. Aber es ist völlig egal. Sie nimmt einfach nichts. Nur Wasser. Und der Arzt sagt …«
»Was?«
»Du weißt doch. Was sie gesagt hat. Dass sie … na ja … dass sie … Ich fasse es nicht …« Veroniques Stimme klang, als würde sie keine Luft bekommen. Sie hob die Hand zum Gesicht und biss sich auf die Finger, bevor sie Nanai wieder böse anstarrte. »Ich fasse es nicht, dass sie das absichtlich macht.«
Da betrachtete ich Nanai genauer und stellte fest, dass sie wirklich anders aussah. Ihre Arme waren verschränkt, und ihr Gesichtsausdruck war, wie ich jetzt sah, total entschlossen. Sie wirkte verschlossen wie eine Muschel. Da sie ihre Brille nicht aufhatte, entdeckte ich die kleinen braunen Flecken unter ihren Augen und die vielen Hundert feinen Linien, die ihr Gesicht durchfurchten wie durcheinanderliegende Mikadostäbe bei einer Partie, die man unmöglich gewinnen kann. Ohne Brille sah Nanai verletzlich aus, älter und jünger zugleich. Und obwohl ihr Gesicht keine besondere Regung zeigte, wusste man, dass sie aufgebracht war. WIRKLICH aufgebracht. Und ich musste an Mum denken. Vor Weihnachten war sie genauso gewesen: verschlossen. Und das hatte einen speziellen Grund gehabt, deshalb sah ich Nanai in die Augen:
»Ist irgendwas passiert?«, fragte ich.
Zum ersten Mal, seit ich dort war, bewegte sich Nanai. Nur eine kleine Bewegung: Ihr Mund öffnete sich, fast als hätte sie es gar nicht gewollt, bevor sie ihre Lippen wieder zusammenpresste.
»Was meinst du damit, Cymbeline?« Veroniques Dad wandte sich an mich.
»Na ja«, sagte ich, »ich weiß, dass es ziemlich ruhig hier ist. Hier passiert nicht viel, schätze ich. Aber ist irgendwas passiert? Vor vier Tagen? Ist irgendwas passiert, weshalb du aufgehört hast zu essen, Nanai?«
Nanais Mund öffnete sich wieder. Und sie drehte sich, um mich anzuschauen. Ich lächelte, wie ich normalerweise lächelte, aber mein Lächeln fiel auf meinem Gesicht in sich zusammen. Denn Nanais Schultern hoben sich. Und sie sah verärgert aus. Wirklich verärgert, ohne im Geringsten so zu tun, als wäre sie es nicht. Als ob ich etwas Schreckliches gesagt hätte. Es war beängstigend, und dann wurde es noch beängstigender: Ihre gefalteten Hände ballten sich zu Fäusten, und ich dachte, sie würde mich anschreien oder — schlimmer noch — von ihrem Sessel aufspringen und mir eins überziehen! Ich hatte wirklich einen wunden Punkt getroffen. Aber stattdessen wandte sie sich zu dem Beistelltisch um. Zum Kartoffelbrei? Wieder lag ich falsch. Sie griff nach einem der Fotos. Nicht nach dem Foto von ihr und ihrer Schwester, sondern nach dem daneben, mit dem großen Schiff. Sie starrte einen Augenblick darauf und hob es hoch über ihren Kopf.
Und dann schleuderte sie es mit einem Grunzen von sich weg!
Veronique wich aus. Ihr Dad ebenfalls, aber er streckte auch die Hand danach aus — zu spät. Das Foto von dem Schiff drehte sich fast in Zeitlupe in der Luft, und wir alle sahen verwundert zu, wie es — RUMS! — gegen die Wand krachte. Der Rahmen zerbrach. Glas splitterte. Gezackte Scherben prallten zu uns zurück, bevor sie zu Boden fielen, wo sie noch einmal SEHR LAUT in kleinere Stücke zerbrachen und zwischen unsere Füße rutschten. Dann herrschte Stille. Spannungsgeladene Stille. Dröhnende Stille. Sie hielt uns fest, bis Nanai sich in ihrem Sessel bewegte. Ihr Kopf beugte sich, und ihre Stimme klang, als käme sie aus einer Entfernung von tausend Millionen Kilometern, als sie — endlich — zu uns sprach.
»Lasst mich in Ruhe«, sagte sie.