Ich will das erklären.
Ich meine, ich mochte Jacky Chapman immer noch sehr, und NATÜRLICH wünschte ich mir immer noch, dass er mit seinem Hubschrauber zu unserer Schule fliegt und mich zu einem Spiel abholt.
Aber ich MUSSTE mir auch etwas einfallen lassen, wie ich mit Nanai sprechen könnte. Ich hatte nicht vor, sie zu verärgern, sondern wollte sie nur etwas fragen: Hatte sie vor vier, nein, inzwischen vor fünf Tagen einen Brief bekommen? Einen Brief, der sie aus irgendeinem Grund aufgeregt hatte?
Das war mein Gedanke, und je mehr ich über ihn nachdachte, desto überzeugter war ich, dass es so gewesen sein musste. Was hätte sonst passiert sein sollen? Sie hatte kein Telefon und kein Internet. Wenn jemand zu Besuch gekommen wäre, wüssten Veronique oder ihre Eltern davon. Es musste ein Brief sein — NICHTS ANDERES ergab einen Sinn.
Allerdings konnte ich Mum auf keinen Fall bitten, mich dorthin zu bringen. Veroniques Mum hatte vorhin SO sauer ausgesehen. Bestimmt hatte Veronique Hausarrest. Aber vielleicht würde Mum mich wieder zu Tante Mill bringen? Dann könnte ich im Garten Fußball spielen und durch den Zaun hindurchklettern oder vielleicht sogar von Tante Mills Gästezimmer aus etwas gegen Veroniques Fenster werfen und auf ihrer Dachbodenleiter hinüberkrabbeln.
Aber Mum sagte Nein.
Die Schule war schon vorbei. Wir waren draußen auf der Heide, und alle spielten Fußball oder standen am Eiswagen an oder flitzten auf Fahrrädern herum. Alle, weil es — JA — Freitag war. Aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich kreuzte die Finger hinter dem Rücken und fragte Mum wegen Tante Mill.
Aber sie schüttelte den Kopf.
»Und warum nicht?«, nölte ich.
Mum zuckte die Achseln. »Mill antwortet nicht auf meine Nachrichten. Wahrscheinlich ist sie sauer wegen des Abendessens. Ehrlich, meine Schwester ist SO empfindlich.«
»Aber kannst du dich nicht einfach entschuldigen?«
Mum sah mich an. »Ich!? Wofür?«
»Äh, weil du ihr gesagt hast, wie sie ihre Kinder erziehen soll? Weil du ihr Haus mit Dal versaut hast? Ganz zu schweigen von ihrem iPad?«
»Sehe nicht ein, dass das meine Schuld war, nicht, solange sie es nicht schafft, ihr Haus nagetierfrei zu halten. Das iPad wollte ich allerdings reparieren lassen. Warum willst du überhaupt dorthin?«
»Um Nanai zu besuchen.«
»Wirklich? Warum?«
Ich wollte es ihr erklären, aber es war zu kompliziert. »Ähm, Clays Drohne«, sagte ich. »Er hat mir schon vor einer Ewigkeit einen Probeflug versprochen.«
»Na ja, vielleicht ist das iPad ja schon repariert. Lass uns nachfragen, ob es fertig ist, ja?«
Das war das Beste, was ich bekommen konnte, deshalb willigte ich ein. Ich hoffte einfach, dass das iPad repariert wäre und Mum es zurückbringen könnte. Eigentlich dachte ich, sie wolle dazu einfach schnell nach Blackheath Village reinfahren, aber als ich merkte, was sie wirklich gemeint hatte, stöhnte ich auf.
Wir fuhren zum Einkaufszentrum Lewisham.
Und das Problem mit Einkaufszentren ist natürlich, dass es dort Läden zum Einkaufen gibt. Ohne sie wären die Einkaufszentren gute Orte, wo man bei Regen Skateboard fahren oder Nerf-Schlachten austragen konnte. Ein oder zwei Läden wären ja okay, aber es gibt dort SO viele, und Eltern NUTZEN DAS AUS. Ein Beispiel: Bei Argos das Geburtstagsgeschenk für Lance zu kaufen hätte fünf Minuten dauern sollen.
Und es dauerte fünf Minuten.
Aber dann sagte Mum, wir müssten nur noch »kurz« bei WHSmith nach Tinte schauen, im 1-Euro-Laden nach Teelichtern, bei TK Maxx, ob es Turnschuhe gibt, und dann nur noch einen Blick in M&S werfen. Dieser Blick dauerte, wie sich herausstellte, Stunden, weil sie mich zwang, Kleidung anzuprobieren (sowieso eine völlig sinnlose Übung, weil sie sie immer SEHR GROSS kauft. Offenbar ist es ihr egal, dass ich zwei Jahre lang wie ein Gartenzwerg aussehe, bis ich hineingewachsen bin). DANACH musste ich noch länger warten, weil sie selbst etwas anprobierte, was WIRKLICH peinlich war, denn es waren BHs. »Keine Ahnung, welcher der schönste ist!«, sagte ich nach dem sechsten. »Und du trägst sie doch unter anderen Kleidern, was spielt es für eine Rolle, wie sie aussehen?«
Aber diesmal war es noch schlimmer.
Ich dachte, wir könnten einfach das iPad abholen und es bei Tante Mill vorbeibringen. Aber der Mann in der Reparaturwerkstatt sagte, das iPad wäre noch nicht ganz fertig und wir sollten später noch mal vorbeikommen. Das führte dazu, dass Mum mich von oben bis unten musterte. Und dann wieder oben anfing. Danach wollte sie mir, wie sie sagte, einen »HaarSCHNITT« verpassen lassen, was sich allerdings als »HaarMASSAKER« herausstellte. Dann wurde ich gezwungen, mit juckendem Nacken zu Sainsbury’s zu gehen, was noch länger dauerte als sonst, weil Mum bei jedem einzelnen Produkt die E-Nummern kontrollierte (ihr neuestes Hobby).
Bald fühlte es sich an, als krabbelten rote Ameisen in meinem Kragen. Um sie zur Eile anzutreiben, sagte ich: »Musst du dich nicht fertig machen?«
»Wofür?«
»Fürs Kino?«
»Oh«, sagte Mum, schluckte und sah weg. »Nein. Ich … ich glaube nicht, dass ich heute gehe.«
»Aber es ist Freitag. Läuft nichts, was du sehen möchtest?«
»Nein … Eigentlich nicht. Möchte viel lieber bei dir bleiben, Cym.«
Mum lächelte mir kurz zu, zog dann aber ihr Handy heraus und warf einen Blick auf den Bildschirm, bevor sie es wieder in die Tasche schob.
Endlich konnten wir auch das iPad abholen.
»Und was war das für ein Zeug?«, fragte der Mann.
Er wollte, dass Mum überprüfte, ob die Apps funktionierten, aber wir hatten Tante Mills Passwort nicht. Mum rief sie an, und nachdem sie eine Nachricht hinterlassen hatte, rief Tante Mill tatsächlich zurück. Mum entsperrte das iPad, und alles schien zu funktionieren. Mum sprach weiter mit ihr, während sie bezahlte. Zuerst wirkte sie verärgert, aber dann sah es so aus, als würden sie und Tante Mill sich wieder vertragen. Sie lachte, und ich war froh, denn das bedeutete, dass ich vielleicht dorthin kommen würde. Mum lachte noch mehr.
»Es ist Onkel Chris«, sagte sie, nachdem sie Mill gebeten hatte, einen Augenblick zu warten. »Als er ›Ratte‹ gerufen hatte, meinten die Gäste im Steakhaus, das Tier wäre dort. Und es gab eine panische Flucht zur Tür! Jetzt hat er lebenslang Hausverbot!«
Ich fand das ziemlich lustig. Mum dagegen sah wieder ein bisschen ernster aus und sagte, nachdem sie sich von mir abgewandt hatte, zu Tante Mill, dass jemand sie den ganzen Tag nicht angerufen habe. Ich war frustriert, weil ich ja nur wissen wollte, ob ich kurz zu Tante Mill kommen darf. Aber da ich gerade nichts tun konnte, suchte ich auf dem iPad nach Minecraft. Tante Mill hatte es nicht installiert (manche Leute sind schon komisch), aber dafür gab es Flow Free. Ich ging hinaus in das Shoppingzentrum und setzte mich auf eine Bank. Gerade als ich meinen Finger bewegte, um das Flow-Free-Icon anzuklicken, erregte etwas meine Aufmerksamkeit. Ein Ordner, ein paar Icons weiter, oben in der linken Ecke des Bildschirms:
Ich wusste, dass Tante Mill eine CCTV-Videoüberwachung besaß. Nachdem Einbrecher versucht hatten, ins Haus einzudringen, hatte Onkel Chris darauf bestanden, die Überwachung selbst zu installieren. Er liebte solche technischen Spielereien. Da Juni und Clay sich nicht dafür interessierten, zeigte er mir, wie die Überwachung funktionierte. Die Kamera war über ihrer Eingangstür angebracht und sandte Bilder an ihr iPad, wo sie gespeichert wurden. Onkel Chris bat mich, so zu tun, als wäre ich ein Einbrecher, und dann schauten wir uns beide an, wie ich herumgeschlichen war. Die Kamera sprang jedoch erst an, wenn das Licht anging, deshalb installierten sie die automatischen Lampen, die auch gestern aufleuchteten, als ich nach draußen trat. Warum das meine Aufmerksamkeit von Flow Free abgelenkt hatte, weiß ich nicht.
Bis es mir dämmerte.
Wenn Nanai einen Brief bekommen hatte, wegen dem sie jetzt nichts mehr aß, MUSSTE JEMAND IHN GEBRACHT HABEN. Das kann nicht der Postbote gewesen sein, denn Veronique und ihr Vater hätten ihn gesehen. Und keiner von beiden konnte sich an IRGENDETWAS erinnern, das Nanai bekommen haben könnte. Also musste ihn jemand anderes gebracht haben. Wahrscheinlich, als alle anderen außer Haus waren.
Ich warf einen Blick in den Reparaturladen.
Mum redete immer noch.
Also klickte ich auf den CCTV-Ordner.