Zum Abendessen gab es Gemüselasagne (von Sainsbury’s). Mum hatte sich versichert, dass sie keine E-Nummern enthielt, und meiner Ansicht nach hätte man auch das Gemüse weglassen können. Ich pickte es heraus und dachte an Nanai.
Und an Daisy Blake.
Und an ihren Vater.
Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber das war eine größere Anstrengung für mein Gehirn als Rechtschreibung.
Ich musste mit Veronique sprechen.
Allerdings war es unmöglich, das noch an diesem Abend zu bewerkstelligen. Ich konnte nicht einmal Tante Mill besuchen, weil Onkel Chris heimgekommen war und sie einen Familienabend machten. Könnte ich vielleicht bei Daisy vorbeischauen?
»Zu spät«, sagte Mum. »Du siehst sie doch morgen sowieso.«
Das stimmte. Also seufzte ich nur und versuchte, gegen meine Ungeduld anzukämpfen. Und nett zu Mum zu sein. Sie kam mir traurig vor, sogar während des Films, den wir angemacht hatten (Schwere Colts in zarter Hand, ihr Lieblingsfilm). Dauernd schaute sie auf ihr Handy und legte es dann wieder weg. Nach dem Film guckte sie noch einmal, seufzte und brachte mich ins Bett. Als sie mein Zimmer verlassen hatte, gähnte ich und erinnerte mich an die kleine Schachtel, die ich in ihrer Tasche gesehen hatte, aber jetzt war es zu spät. Vielleicht würde ich sie morgen bekommen.
Am Samstagmorgen darf ich allein zur Heide hinaufgehen. An diesem Morgen war es kalt (vor allem an meinen Ohren — nach dem Haarmassaker). Dicke, niedrige Wolken zogen über den Himmel wie die Büffelherden, die ich in einem Film von David Attenborough gesehen hatte. Irgendwie waren sie ein bisschen furchteinflößend, sodass ich den ganzen Weg rannte. Ich hielt nur an, als ich an unserer Schule vorbeikam, weil dort wieder dieselben Männer waren, die ich nach dem WV (Wackelpudding-Vorfall) gesehen hatte. Diesmal zeigten sie mit Laserpointern auf verschiedene Stellen. Ich fragte mich wieder, ob sie von der Polizei waren, aber sie sahen nicht so aus, und außerdem redete Billy Lees Vater mit ihnen. Ich ließ sie stehen und ging dorthin, wo wir immer spielen.
Und suchte Daisy.
Aber Daisy war noch nicht da. Vi allerdings schon. Sie stand neben ihrem Vater und unserem anderen Trainer Dave, die die Tore aufstellten. Bei Vis Anblick sank mir der Mut. Nicht etwa, weil ich sie nicht mag, aber sie übte Rainbow Flicks, und die waren echt gut. In EINER Woche begann der Lewisham Cup. Wir trainierten seit Jahren dafür, da man erst ab der vierten Klasse mitmachen darf. All die Jahre war ich sicher gewesen, dass ich in der Mannschaft sein würde — aber Vi wird immer besser! Und Daisy auch. Sie ist eine Abwehrspielerin, mit der man sich auf KEINEN FALL anlegen will. Außerdem machen beide etwas, was wir Jungs HASSEN — sie SPIELEN den Ball tatsächlich AB. Vis Dad und Dave klatschen immer heftig, wenn sie das tun, und in letzter Zeit habe ich Zweifel bekommen, ob ich wohl in der Startaufstellung sein würde. AUF KEINEN FALL wollte ich auf der Bank beginnen. Wir haben nicht mal eine Bank, sondern stehen einfach mit übergezogener Jacke an der Mittellinie rum.
Aber ich schüttelte diese Gedanken ab. Von Blackheath Village näherten sich noch mehr Kinder, Billy und dahinter Lance und Darren Cross. Dann kamen noch mehr, nur Daisy nicht. Ich dachte schon, sie würde gar nicht kommen, als sie zusammen mit Elizabeth Fisher, die noch nie dabei gewesen war, aus der anderen Richtung auftauchte. Noch ein Mädchen! Wenn sie den Ball auch abspielte, dann waren wir Jungs erledigt. Ich schüttelte den Kopf und wollte Daisy gerade entgegenrennen, da blieb ich stehen.
Die Mädchen waren nicht allein gekommen.
Die Eltern unterhielten sich alle. Normalerweise bleiben einige während des Trainings da und tun so, als könnten sie es nicht leiden, wenn sie den Ball zu uns zurückkicken müssen. Die meisten setzen ihre Kinder ab, kommen aber dann wieder, um bei den Spielen zuzuschauen. Daisys Vater zum Beispiel macht das, und er war da. Er trug eine neonfarbene Laufmontur, und mir wurde klar, warum ich ihn auf dem Überwachungsvideo nicht erkannt hatte. Ich sehe ihn ausschließlich beim Fußball, und er sah in einem Anzug SO anders aus. Wenn Mum ihn nicht erkannt hätte, wäre ich nie auf ihn gekommen. Mit ihm zu reden wäre sogar noch viel besser, als mit Daisy zu reden, deshalb rannte ich los, bevor ich Schiss bekommen konnte.
»Mr Blake!«, rief ich.
»Ja?« Er drehte sich um und musterte mich stirnrunzelnd, während er gleichzeitig an seiner Uhr herumnestelte. »Cymbeline, richtig? Was kann ich für dich tun, junger Mann?«
Tun? Keine Ahnung. Ich wollte ihn natürlich fragen, was er letzten Sonntag vor Veroniques Haus getan hatte. Aber das konnte ich nicht bringen, oder? »Äh …«
»Spuck’s aus.«
»Also …«
»Um was geht es? Um die Hand meiner Tochter?«
»NEIN!?«
»War natürlich nur ein Spaß. Übrigens würde die Antwort Ja sein. Zu allen. Aber ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.« Er sah von seiner Uhr auf. »Mal sehen, ob ich Seb Coes Meilenrekord brechen kann.«
»Echt?«
»Nein. Ein Spaß. Und?«
»Entschuldigung, es ist nur …«
»Nur?«
»Na ja« — ich holte Luft —, »Sie sind Polizist, oder?«
»Wer hat dich auf diese verrückte Idee gebracht?«
»Daisy. Sie hat es mir gesagt.«
Mr Blake lachte. »Na ja, das ist wie der größte Teil ihrer Hausaufgaben: ungefähr richtig. Warum fragst du?«
Ja, warum fragte ich? »Ich, äh, dachte, dass ich das vielleicht auch werden könnte.«
»Da musst du noch ein bisschen wachsen.«
»Ich meine, wenn ich älter bin.«
»Klar. Nun, ich war Polizist. Habe meine Handschellen an den Nagel gehängt und untersuche die Fälle jetzt selbst. Beantwortet das deine Frage?«
»Nicht ganz. Was für Fälle untersuchen Sie?«
Daisys Vater rieb sich das Kinn. »Scheidungen sind ein großer Teil der Arbeit.«
»Wie bitte?«
»Ach. Wenn ein Ehemann — oder eine Ehefrau — glaubt, dass seine Frau — oder ihr Mann — etwas tut, was er oder sie nicht tun sollte, dann versuche ich das herauszufinden.«
Tat Nanai etwas, was sie nicht tun sollte? Mit dem Mann oder der Frau von irgendjemand? Wahrscheinlich nicht. »Sonst nichts?«
»Nein … Heutzutage geht es auch oft um Online-Sicherheit.«
»Online …?«
»Firewalls aufmöbeln und so was.«
»Sonst noch was?«
»Betrug am Arbeitsplatz.«
»Betrug …?«
»Ein Typ sagt, dass er zu krank ist für einen Tag ehrlicher Arbeit, aber dann finde ich heraus, dass er zum Snowboarden in die französischen Alpen gefahren ist.«
»Das ist alles?«
»Ja, so ungefähr.«
Verflixt. Er konnte Nanai nicht wegen irgendeiner Scheidungssache besucht haben. Sie ist nicht verheiratet. Firewalls? Nanais Häuschen ist aus Holz gebaut. Sie würde niemals so etwas haben. Und ich war sicher, dass Nanai weder in den französischen Alpen noch sonst irgendwo beim Snowboarden war.
Seufzend wollte ich Mr Blake gerade danken, als er sagte: »Manchmal kommen auch interessantere Sachen rein.«
»Was zum Beispiel?«
»Gebäudeüberwachung. Menschen suchen.«
Menschen suchen? »Also, wenn jemand vermisst wird?«
»Nein. Um vermisste Personen kümmert sich die Polizei.«
»Was dann?«
»Nun, wir …« Daisys Vater hielt inne. Und sah ein bisschen traurig aus. »Manche Menschen versuchen, Menschen aus ihrer Vergangenheit ausfindig zu machen.«
»Was sind das für Menschen?«
»Das ist ganz unterschiedlich.« Er zuckte die Achseln. »Jemand hat vielleicht den Kontakt zu einem Freund verloren. Oder zu einem Arbeitskollegen. Oder zu jemandem, der …«
»Ja?«
Wieder hielt er inne, und ich sah ihn an. Er erwiderte meinen Blick und wirkte auf einmal ein bisschen argwöhnisch. »Lassen wir es einfach dabei bewenden, okay?«
»Okay, aber finden Sie sie immer?«
»Traurigerweise nicht. Aber …«
»Ja?«
»Na ja …« Er lächelte in sich hinein und schüttelte den Kopf. »Ob du’s glaubst oder nicht, manchmal ist es schlimmer, Menschen zu finden. Schlimmer, als wenn ich sie nicht gefunden hätte.«
Ich wollte ihn fragen, was er damit meinte, aber er drehte sich um und joggte mit großen Schritten in Richtung Greenwich Park davon.
Ich dachte darüber nach, was er gesagt hatte, aber dann kam Vi angerannt und zeigte mir, wie sie mit dem Ball jonglierte. Sie benutzte BEIDE Füße und schlug meinen aktuellen Rekord um SECHS — aber das würde ich ihr unter keinen Umständen sagen. Ich wollte gerade losgehen, um Daisy zu suchen, da trat sie zu uns. Ihre Zuckerstange war inzwischen ganz spitz, und es war viel Weiß zu sehen, aber sie hatte immer noch ungefähr die Hälfte übrig. Nachdem sie noch einmal daran gelutscht hatte, holte sie sich Vis Ball, köpfte ihn und fing ihn dann mit dem Nacken auf.
Na prima.
Und dann, bevor ich Daisy nach ihrem Vater fragen konnte, riefen uns die Trainer zusammen.
Ich seufzte, konnte aber nichts dagegen tun. Also rannte ich hinter Vi her, während Daisy ihre Zuckerstange wegpackte. Dann (nach den üblichen ECHT WITZIGEN Kommentaren zu meinem Haarschnitt) machten wir unsere TOTAL langweiligen und VOLLKOMMEN sinnlosen Dehnübungen. Ich meine, wenn du während eines Spiels versuchst, deine Zehen zu berühren, macht der Gegner jede Menge Tore, oder? Danach spielten wir zwei gegen zwei, was mehr Spaß machte, auch wenn ich nicht mit Daisy in einem Team war, sodass ich nicht mit ihr sprechen konnte. Und beim Eckball-Training ergab sich auch keine Möglichkeit. Als wir dann sechs gegen sechs spielten, war sie in der gegnerischen Mannschaft. Es hatte keinen Sinn, über Nanai auch nur nachzudenken, also konzentrierte ich mich auf das Spiel und dachte sogar daran, den Ball abzuspielen (zweimal). Das erste Mal war Lance so überrascht, dass der Ball hinter ihm landete. Beim zweiten Mal war ich auf dem Weg zum Tor, aber da es schräg vor mir lag, entschied ich mich gegen den Ruhm und spielte den Ball stattdessen zu Billy Lee in der Mitte. Als er mit diesem ABSOLUT EINFACHEN Abstauber ein Tor schoss, demonstrierte er auf der Stelle, warum wir grundsätzlich nicht abspielen: Bedankte er sich etwa bei mir? Nein — er schlug sich vorn auf sein Hazard-Shirt und wirbelte herum, als wäre alles sein Verdienst. Sein Dad war von der Schule herübergekommen und brüllte »WEITER SO, MEIN SOHN!«, ohne von mir auch nur Notiz zu nehmen. Nicht dass mir das etwas ausgemacht hätte, ich wollte einfach nur, dass der Abpfiff kam. Und als er ertönte, rannte ich endlich rüber zu Daisy.
»Dein Dad«, sagte ich schwer atmend, während Daisy einen Rainbow Flick machte, der genauso gut war wie der von Vi. »Dein Dad!«
»Ich habe ihn schon gefragt.«
»Du hast was?«
»Wegen Mrs Martin. Und er wird gar nichts machen. Er sagt, auch wir sollten die Finger davon lassen. Aus seiner Sicht sollen wir es den Lehrern überlassen.«
»Oh«, sagte ich. »Wie schade. Aber das habe ich nicht gemeint.«
»Was dann?«
Ich zögerte und wollte ihr gerade von Veronique und Nanai erzählen, aber dann erinnerte ich mich daran, wie sie sich am Freitag gegenüber Veronique verhalten hatte. Ich wusste, dass ich wirklich wütend auf sie sein sollte, aber dafür hatte ich keine Zeit.
»Redet er von seiner Arbeit? Über die Fälle, die er gerade untersucht?«
»Machst du Witze? Das ist alles streng geheim. Verschwiegenheitspflicht gegenüber dem Kunden nennt er es. Nicht einmal meiner Mum erzählt er etwas. Und sein Büro in unserem Haus ist immer abgeschlossen, wenn er weg ist.«
Großer Mist.
»Egal«, fuhr Daisy fort, »wir müssen uns einen anderen Plan für Mrs Martin ausdenken! Auch wenn er vermutlich bis Montag warten muss.«
»Muss er das?«
»Wenn du übers Wochenende verreist.«
Das war eine merkwürdige Bemerkung von Daisy, und ich sah sie erstaunt an. »Wenn ich übers Wochenende …?«
»Verreist. Wie Lance.«
Lance fuhr mit seinem Club zum Fahrradfahren, aber warum fragte Daisy, ob ich auch verreisen würde? Die Antwort wurde mir erst klar, als ich merkte, dass sie über meine Schulter hinweg hinter mich schaute. Und ich drehte mich um und sah Mum. Sie kommt immer, um am Ende des Trainings bei den Spielen zuzuschauen und mich abzuholen. Kurz überlegte ich, ob sie meinen Lauf und meinen Pass gesehen hatte, und dann fragte ich mich, ob sie wohl mit Tante Mill darüber gesprochen hatte, dass wir an diesem Tag vorbeikommen wollten.
Aber dann unterbrach ich meine Gedanken, denn ich sah, was Daisy meinte. Und in mir erstarrte alles, als ob mir jemand eine Schüssel Eis die Kehle hinuntergekippt hätte.
Mum stand neben einem Koffer.