Nachdem Veroniques Mum uns gesagt hatte, dass Nanai wieder im Krankenhaus war, starrten wir sie nur an. Ich konnte es nicht fassen. Ich musste mit ihr sprechen. Veronique dagegen weigerte sich erst, es zu glauben, denn jetzt aß Nanai doch wieder. Aber als sie es sich eingestanden hatte, begann ihre Unterlippe zu zittern.
»Gut, aber dieses Mal besuche ich sie«, sagte sie. »Und dieses Mal wird mich nichts aufhalten.«
Mrs Chang wollte das zunächst diskutieren, überlegte es sich aber anders. Obwohl es da noch ein Problem gab.
Mich.
»Aber für mich ist das okay«, beharrte ich.
»Tut mir leid, aber wir können dich nicht allein hierlassen.«
»Kit-Kat kann auf mich aufpassen.«
»Das wäre nicht richtig, Cymbeline. Wir schauen mal, wo deine Mum ist, okay?«
Veroniques Mum rief meine Mum an. Sie saß gerade im Eurostar und brauchte ungefähr noch eine Stunde bis London. Veroniques Mum sagte, wir müssten auf sie warten, aber ich schüttelte den Kopf.
»Ich möchte Nanai auch besuchen!«
Schließlich gab sie nach, und wir rannten hinaus zu ihrem Auto.
»In welches Krankenhaus wurde sie denn gebracht?«, fragte Veronique.
Die Antwort lautete: ins Krankenhaus von Lewisham. Bei diesem Namen klingelt es vielleicht bei euch, denn dieses Krankenhaus war früher wirklich OFT in den Nachrichten. Als wir in der dritten Klasse waren, wollte die Regierung es schließen. Aber die Menschen riefen bei Rundfunkstationen an, schrieben wütende Briefe an die Zeitungen und hängten Plakate in ihren Fenstern auf. (Mum sogar zwei, falls eines runterfallen sollte.) Mrs Martin führte dabei Regie, weil ihre Schwester dort als Krankenpflegerin arbeitet. Sie organisierte Versammlungen in der Schule, ließ T-Shirts bedrucken und verteilte Flugblätter, die die Leute unter Türen hindurchschieben konnten. Und all das passierte, weil das Krankenhaus von Lewisham einfach SUPER ist.
Beim ersten Mal war ich dort, als es mich eigentlich noch gar nicht gab, bis es mich dann tatsächlich gab (nach meiner Geburt). Beim zweiten Mal, als Mum dachte, ich hätte Meningitis (sehr schlimm). Ich hatte die Krankheit nicht, aber wenn ich sie gehabt hätte, wäre jedes andere Krankenhaus viel zu weit entfernt gewesen (und das wäre das Ende von Cymbeline gewesen). Die anderen Male, an die ich mich tatsächlich erinnere, hatte ich mir den Arm gebrochen, weil ich bei Tesco von Thomas, der kleinen Lokomotive, runtergefallen war (Lance’ Schuld), oder mir den Finger beim Cluedo-Spielen gebrochen hatte (Marcus Breens Schuld), oder man mir ein kleines pinkes Stück Plastik aus dem Inneren meines linken Ohrs herausholen musste (das Bein von My Little Pony — Junis Schuld).
In allen Fällen wurde ich fantastisch behandelt, was nicht ungewöhnlich ist, denn alle, mit denen man spricht, haben ähnliche Geschichten über großartige Krankenschwestern und fabelhafte Ärzte zu erzählen, sodass die gesamte Kampagne gegen die Schließung in einer GIGANTISCHEN Demonstration vor dem Krankenhaus mündete. Das rettete das Krankenhaus schließlich, und dafür könnt ihr MIR danken.
Mum und ich trafen auf dem Bahnhof von Lewisham nämlich noch andere Familien, die wir aus der Schule kannten. Mrs Martin führte uns die Straße hinunter, wo wir wirklich SEHR laut brüllten, aber das war es nicht, was den Ausschlag gab. Mum übertrieb es ein bisschen mit ihrem »Rettet unser Krankenhaus«-Protestplakat und schlug mich damit k. o.
»Seht mal!«, konnte ich sie schreien hören, als ich wieder zu mir kam. Sie hatte mich aufgehoben und gefolgt von all den Fernsehkameras in die Notaufnahme gebracht. »Was würde ich tun, wenn dieses Krankenhaus geschlossen wäre? Wohin würde ich GEHEN, na?«
Später waren wir in den Nachrichten!
»Nun, Herr Premierminister«, sagte der Moderator, nachdem der Film vorbei war, »was können Sie dieser verzweifelten Mutter sagen? Wie lautet Ihre Antwort auf ihre Frage?«
Am Tag darauf wurde entschieden, das Krankenhaus nicht zu schließen. Und als ich das nächste Mal ins Krankenhaus von Lewisham musste (Lebensmittelvergiftung — Tante Mills Schuld), erkannten mich alle! Die Schwestern störten sich nicht einmal daran, dass ich sie vollkotzte!
Ich wollte nicht, dass Nanai im Krankenhaus war, aber wenn sie schon in einem sein musste, war ich froh, dass sie in dem von Lewisham war. Nachdem wir geparkt hatten, gingen wir zum Haupteingang, wo eine Krankenschwester sagte: »Hallo, Cymbeline!« und mich nach drinnen zog. Zwei Empfangsdamen, ein Pförtner, die Frau vom Blumenstand und drei Ärzte klopften mir alle auf den Rücken und fragten, was passiert sei.
Als ich erklärte, dass wir wegen Veroniques Oma da wären, führte uns die Krankenschwester zu einem großen Aufzug. Ein Pfleger schob noch ein Bett zu uns herein, in dem ein sehr alter Mann lag, dem seine weichen weißen Haare in sein stoppeliges, eingefallenes Gesicht fielen. Er hatte sich mit geschlossenen Augen zusammengerollt wie ein Baby. Offenbar störte ihn der Plastikschlauch, der oben in seine Hand hineinführte, denn er versuchte ihn herauszureißen, aber die Frau neben ihm streichelte seinen Kopf.
»Alles in Ordnung, Dad«, sagte sie. Dann beugte sie sich hinunter und küsste ihn auf die Stirn.
Nachdem das Pling des Aufzugs ertönt war und die Tür sich geöffnet hatte, folgten wir dem Bett einen Flur hinunter auf eine Station. Und sahen noch mehr alte Menschen. Richtig alte Menschen. Eine große Frau ohne Zähne schlief mit geöffnetem Mund, den Kopf im Nacken. Eine andere Frau döste in einem Rollstuhl. Ihr Kopf war übersät mit dunklen Flecken wie das Fell einer Giraffe. Und dann, bevor ich dazu bereit war, schien eine Hand nach meinem Herzen zu greifen.
Denn dort war auch Nanai.
Und sie sah alt aus auf eine Art und Weise, wie es mir vorher nie aufgefallen war. Wir hatten doch erst vor Kurzem Fußball gespielt, gelacht und über Jacky Chapmans Hubschrauber geredet. Jetzt lag sie schlafend in einem Bett, das viel zu groß für sie war, mit metallenen Stäben über ihrem Kopf und einem Schlauch in der Hand, wie der Mann ihn gehabt hatte, und Kabeln, die aus ihrer Brust kamen.
Veronique blieb stehen, als hätte sie einen Schlag erhalten, während ich nur blinzelte, als hätte man mich in einem Theater hinter die Kulissen geführt und die ganze Magie wäre auf einmal verschwunden. Nanai konnte uns nichts mehr vormachen, sie konnte sich nicht mehr zusammenreißen, um total energiegeladen zu erscheinen.
Sie war einfach nur da.
Zuerst hatte ich Veroniques Dad gar nicht gesehen. Er saß neben dem Bett, aber ich bemerkte ihn erst, als er aufstand.
»Hallo«, war alles, was er sagte.
Wir setzten uns. Ich auf einen Stuhl und Veronique auf die Bettkante. Sie hielt die Hand, in der kein Schlauch steckte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also tat ich nichts. Ich redete nicht einmal und wagte kaum zu atmen, denn ich wollte nichts von der Luft wegnehmen, die Nanai vielleicht brauchte.
Im Stillen hoffte ich, dass Mum bald kommen würde, und dann hasste ich mich dafür, dass ich das gedacht hatte. Veroniques Mum und ihr Dad redeten über die Ärzte, die noch nicht wussten, was Nanai fehlte, und einfach abwarten wollten, bis sie aufwachen würde. Ich betrachtete das Laken, das sie bedeckte, wie es sich ein wenig hob und dann wieder senkte, und war jedes Mal froh, wenn es sich bewegte.
»Mum«, sagte Veronique nach einer gefühlten Ewigkeit. »Gibt es hier ein Klo?«
Mrs Chang lächelte und nahm sie an der Hand. Sie gingen hinaus, und irgendwie fühlte ich mich erleichtert. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her und lächelte Mr Chang an, aber mein Lächeln erstarb. Er sah ernst aus. Er schaute Veronique hinterher und nahm dann seinen Rucksack auf die Knie.
»Cymbeline«, sagte er, »ich hab hier was für dich.«
»Ach? Wirklich?«
»Ja«, sagte er.
Und dann zog er mein Nachtlicht heraus.
Einen Augenblick lang verstand ich gar nichts. Und blickte ihn nur an. Mein Nachtlicht? Wie kam er dazu? Ich runzelte die Stirn, aber dann kam es mir. Und ich konnte kaum atmen. Mein Gesicht brannte, und meine Kehle war trocken.
Meine geheime nächtliche Expedition.