Sie war am Ende doch nicht so geheim gewesen.
»Hab ich es …?« Ich betrachtete das Nachtlicht.
»Ja?«
»… in Nanais Häuschen liegen gelassen?«
Mr Chang nickte. »Ich fand es heute Morgen, als ich nach ihr schaute. Ich wollte es dir schon früher sagen, aber ich wollte es nicht in Gegenwart von Veronique tun.«
»Oh«, sagte ich, und das Wort fühlte sich an wie ein scharfkantiger Stein, als ich es aus meiner Kehle hinauspresste. Wie konnte ich nur so blöd gewesen sein? »Und haben Sie …?«
»Ja?«
»Die Croissants gefunden?«
Er nickte. »Wenigstens hat sie ein bisschen was gegessen.«
»Nein«, sagte ich. »Das war Kit-Kat.«
»Oh, dann war er dein Komplize?«
Das Wort »Komplize« schickte eine heiße Woge der Scham durch meinen Körper. Ich war ihr Gast gewesen. Ich war mitten in der Nacht in ihrem Haus herumgeschlichen, und ich hatte Geheimnisse vor ihnen gehabt.
»Es tut mir so leid, Mr Chang.«
»Dass …?«
»Dass ich runtergegangen bin. Ich …«
»Du hättest uns von deinem Verdacht erzählen müssen?«
Ich nickte, und Mr Chang seufzte. »Vielleicht. Aber wir waren alle so froh, nicht wahr? Du hast dir Sorgen gemacht.«
»Ich dachte, Sie würden sich aufregen. Ich musste sicher sein, dass ich recht hatte.«
»Nun, du hattest recht. Ich wollte nach unserer Rückkehr mit Nanai darüber sprechen.«
»Aber sie war krank?«
»Ja.«
»Es tut mir wirklich leid«, sagte ich noch einmal, aber Mr Chang lächelte.
»Es muss dir nicht leidtun.«
Was? »Es muss mir nicht leidtun?«
»Nein.« Er schaute die Station hinunter, in die Richtung, in die Veronique und ihre Mum gegangen waren. »Du sorgst dich um unsere Familie. Sorgst dich um Veronique. Hattest du Angst?«
Der riesige Fuchs kam mir in den Sinn, und ich nickte.
»Dann bewundere ich dich, Cymbeline. Aber wenn es noch etwas gibt, was du mir sagen musst, sag es mir bitte.«
Ich holte Luft. »Haben Sie das Foto gefunden?«
»Das …?«
»In dem Schemel? Von Veronique?«
»Ja«, sagte er, »aber …«
»Haben Sie dieses Foto vorher schon einmal in Nanais Häuschen gesehen?«
»Warum?«
»Das könnte wichtig sein. Bitte, haben Sie?«
Er runzelte die Stirn. »Nein, tatsächlich nicht. Ich meine, ich habe es gesehen. Es stand in unserem Wohnzimmer, aber in einem Rahmen. Außerdem hatte es keine chinesische Schrift auf der Rückseite. Wir bemerkten, dass es vom Regal verschwunden war, aber wir dachten, es wäre irgendwo hinten runtergefallen oder …«
Ich nickte. »Nanai hat einen Privatdetektiv beauftragt«, sagte ich. »Ich glaube, er brachte ihr das Foto. Oder er brachte es ihr zurück«, fügte ich hinzu, weil mir einfiel, dass es ja früher im Wohnzimmer gewesen war. »Letzten Sonntag.«
Diese Worte waren so schockierend für Mr Chang, dass er mich einfach nur anstarrte.
»Einen Privatdetektiv?«, fragte er schließlich.
An der Art und Weise, wie er das Gesicht verzog, erkannte ich, dass er mir nicht glaubte. Deshalb erzählte ich ihm rasch, wie ich Daisys Dad auf Tante Mills Überwachungsvideo gesehen hatte. Er schüttelte den Kopf, betrachtete Nanai und sah dann wieder mich an.
»Sie muss es ihm gegeben haben, und er brachte es wieder zurück«, sagte ich. »Dieses Foto. So muss es gewesen sein. Mit irgendeiner Botschaft, vermute ich. Und deswegen hörte Nanai auf zu essen.«
»Aber warum?« Mr Chang blinzelte heftig und verzog das Gesicht, bevor er sich wieder Nanai zuwandte, die in ihrem großen metallenen Bett immer noch tief und fest schlief.
Als Nanai nicht antwortete, wandte sich Mr Chang wieder an mich und wollte mich noch einmal fragen. Aber da kamen Veronique und ihre Mum zurück. Und dann kam meine Mum. Sie hatte ihren Koffer beim Pförtner am Eingang gelassen, bevor sie zu uns geeilt war. Nachdem sie Mrs Chang und auch Veronique umarmt hatte, seufzte sie in Richtung Mr Chang.
»Wenn ich das gewusst hätte«, sagte sie, »dann hätte ich wirklich niemals …«
»Das ist vollkommen in Ordnung. Wir hatten ja auch keine Ahnung. Und wir hatten Cymbeline wirklich gern bei uns.«
»Nun, das ist eine Erleichterung. War er brav?«
»Überwiegend.« Veroniques Mum drehte sich zu mir, und ihre Miene verhärtete sich. Ich schluckte. Wusste auch sie von meinem mitternächtlichen Ausflug? Und war sie sauer auf mich? »Du darfst meinem Mann nie wieder beim Scrabble helfen, Cymbeline. Versprochen?«
Ich seufzte und sagte, ich würde es nicht wieder tun, und dann war es für Mum und mich Zeit zu gehen.
Ich dankte Veroniques Mum und Dad, vor allem für das Mittagessen. Und dann wandte ich mich an Veronique. Die verloren aussah. Verängstigt. Durchsichtig, als wäre sie aus einem ganz fein gewebten Stoff. Nach einem raschen Blick auf Nanai ging ich die Station hinunter, und als ich mich umdrehte, schenkte Veronique mir ein kaum sichtbares Lächeln, und ihr Blick folgte mir, bis Mum mich hinaus auf den Flur führte.
»Sie wird sich erholen.« Mum wuschelte mir durch die Haare, aber ich schüttelte ihre Hand weg, während mich ein Gefühl gewaltiger Hilflosigkeit beschlich. Ich war nutzlos. Veronique hatte gewollt, dass ich helfe, und ich hatte versagt. Ich wollte zurückgehen und etwas tun. Aber Mum nahm meine Hand und führte mich zum Aufzug, wo sie mir sagte, dass Mr Uber uns wieder nach Hause bringen würde.
Im Auto saß dann aber nicht er, sondern wahrscheinlich sein Bruder.