Donnerstag: immer noch keine Veronique.
Und immer noch kein Billy.
Ich war verzweifelt. Und bearbeitete Mum so lange, bis sie noch einige Textnachrichten an Veroniques Mum schrieb. In der Antwort hieß es, dass es Nanai schlechter gehe. Sie hatte noch mehr Gewicht verloren und eine Infektion. Wenn sie wach war, wollte sie weder essen noch reden, aber meistens schlief sie sowieso.
Nachdem Mum mir das erzählt hatte, rannte ich wieder hinauf in mein Zimmer. Mum kam hinter mir her und setzte sich neben mich aufs Bett. Es sei schwer, sagte sie, schwer für alle, aber was hier passiere, sei auch ganz normal. Und natürlich.
»Nein!«, sagte ich. »Das verstehst du NICHT. Da ist etwas im Gange!« Ich war verzweifelt. Die Zeit lief davon. Ich spürte es. Und das machte mich so ohnmächtig.
Aber: Ich konnte auch etwas tun.
In der Nacht wartete ich, wie damals bei Veronique, bis Mum schlief. Als es im Haus still war, zog ich mich an und rutschte das Geländer hinunter (unsere Stufen knarren auch). Dann drehte ich den Schlüssel im Schloss um. Ich würde Veronique NICHT im Stich lassen. Ich würde zu ihr gehen. Kieselsteine an ihr Fenster werfen. Zusammen würden wir dann alles herausfinden.
Ich zog die Tür auf, und ein Stoß kalter Luft schnitt mir ins Gesicht. Doch dann blaffte eine noch viel kältere Stimme mich von hinten an.
»WAS ZUM TEUFEL DENKST DU DIR DABEI?«
Mum war SO wütend. Sie zerrte mich ins Wohnzimmer und konnte vor lauter Zittern kaum reden. Schließlich sagte sie: »Du wolltest zu Fuß dorthin gehen? Nachts? ALLEIN? Bist du von allen guten Geistern verlassen?«
Ich sagte Nein. Mir waren Veronique und Nanai einfach wichtig, wenn sie sonst schon niemandem wichtig zu sein schienen. Aber Mum fand, das sei keine Entschuldigung.
»Du kannst so was einfach nicht machen«, sagte sie und ballte die Fäuste vor Sorge und Erleichterung. Dann schloss sie die Haustür zu, zog den Schlüssel ab und steckte ihn in die Tasche ihres Bademantels.
Der nächste Tag war Freitag. Ich war früh in der Schule, aber Veronique war wieder nicht da. Und Billy auch nicht. Vielleicht war er ja wirklich krank. Hoffentlich mit etwas, was sehr WEHTAT, obwohl ich dringend mit ihm reden musste. Ich musste dafür sorgen, dass er ein Geständnis ablegte, damit Veronique zurückkommen konnte: Dann konnten wir über Nanai sprechen, denn was wäre, wenn die Leute recht hatten? Wenn Veronique TATSÄCHLICH von der Schule geworfen worden war? Oder wenn Mr Baker darüber nachdachte, sie hinauszuwerfen? Im Dunkeln zu tappen war SO frustrierend. Deshalb ging ich im Klassenzimmer gleich zum Pult von Miss Phillips.
»Tut mir leid«, sagte sie, »leider kann ich gar nichts sagen. Ich weiß nur, dass die Schulbeiräte am Samstag tagen und ein paar Themen besprechen. Vielleicht reden sie bei dieser Gelegenheit auch darüber.«
»Aber das ist MORGEN!«
»Ja, aber …«
»Das ist nicht fair!«, sagte ich.
»Nun, das tut mir leid«, sagte sie. »Aber jetzt geh bitte und setz dich an deinen Platz.«
Eigentlich wollte ich das gerade tun, aber dann hatte ich eine Idee.
»Nein!«
»Wie bitte?«
»NEIN! DAS WERDE ICH NICHT TUN. Alle denken, dass sie es war, aber sie war es nicht! Sie interessieren sich nicht für sie! Niemand interessiert sich für sie!«
»Cymbeline, geh auf deinen Platz. Bitte.«
»Nein! Und Sie können mich nicht zwingen! Es ist eine Schande! Sie sind schrecklich, alle. Sie sind einfach alle schrecklich. Lassen Sie sich das gesagt sein!«
»Cymbeline«, sagte Miss Phillips drohend, aber ich hörte nicht auf. Während die ganze Klasse mich erstaunt ansah, schrie ich und schrie und SCHRIE!
Und fünf Minuten später stand ich vor der Tür von Mr Bakers Büro.
Die Schule hatte immer noch nicht angefangen. Mr Baker telefonierte. Er winkte Miss Phillips herein, ohne aufzusehen, und sie setzte mich auf den Stuhl gegenüber von seinem Schreibtisch. Er legte die Hand über den Hörer, während sie ihm sehr schnell berichtete, was ich getan hatte. Er nickte und entließ sie mit einer Handbewegung. Während sie hinausging, redete er weiter und ging gleichzeitig Papiere auf seinem Schreibtisch durch. Redete er über Veronique? Mit einem der Schulbeiräte? Überlegten sie, was sie mit ihr machen sollten? Er war so in sein Telefonat vertieft, dass er mich vollkommen vergaß und total erstaunt wirkte, als er fünf Minuten später aufblickte und mich sah.
»Könnten Sie kurz dranbleiben?«, sagte er (in sein Telefon). »Allerdings — eigentlich würde ich Sie lieber zurückrufen.« Er notierte sich eine Nummer, legte auf und sah mich an.
»Also«, sagte er. »Coriolanus?«
»Cymbeline.«
»Ja, sicher. Also, du, äh, du solltest wirklich nicht.«
»Ich sollte nicht …?«
»Nein. Du musst, äh, Miss Phillips gehorchen. Und aufmerksam sein und so weiter. Und definitiv nicht …«
»Ja, Mr Baker?«
»Tun …«
»Ja?«
»Was immer sie mir gerade gesagt hat, was du getan hast. Nicht gut, okay?«
»Okay.«
»Und …«
Aber Mr Bakers Telefon klingelte wieder, bevor er weitersprechen konnte. Er schüttelte den Kopf, nahm ab und legte dann die freie Hand über sein anderes Ohr. Mit einer Bewegung bedeutete er mir, hier zu warten, stand auf, umrundete seinen Schreibtisch und ging hinaus, während er zuhörte und die ganze Zeit nickte.
JA!
Ich stand auf. Mit klopfendem Herzen sah ich aus dem Fenster. Mr Baker ging immer noch telefonierend in Richtung Straße. Ein verspätetes Kind eilte an ihm vorbei in Richtung Schule. So schnell ich konnte, drehte ich mich zu seinem Schreibtisch. Ich ließ den Blick über die Tischplatte wandern und überflog die Papiere, immer auf der Suche nach etwas, irgendetwas über Veronique. Aber da lagen nur Pläne von der Schule, einige sahen ganz normal aus, andere erinnerten irgendwie an unsere Schule, dann aber wieder auch nicht. Ich dachte an den Brief, den ich mit nach Hause genommen hatte, und seufzte. Verflixt! Wahrscheinlich ging es darum, oder Mr Baker wollte die Schule renovieren, damit es nicht mehr reinregnete. Das Einzige, was vielleicht wichtig sein könnte, war die Nummer, die Mr Baker notiert hatte. Sie stand auf einem Notizblock. Ich nahm Mr Bakers Schreibtischtelefon ab und spähte auf den Notizzettel — seine Handschrift war schlimmer als die von Lance. Als es mir gelungen war, sie zu entziffern, wählte ich und hielt mir den Hörer ans Ohr.
»Hallo?«, sagte eine Frauenstimme. »Roger?«
Roger? Über Mr Bakers Schreibtisch hing ein Lehrerdiplom an der Wand. Roger Baker.
»Roger?«, wiederholte die Stimme. »Hörst du mich? Mike ist auf der anderen Leitung. Möchtest du warten? Eigentlich dachte ich, er würde mit dir sprechen! Hallo? Roger?«
Ich legte auf, rannte dann um den Schreibtisch herum und setzte mich wieder hin — genau in dem Moment, als Mr Baker zurückkam.
»Also«, sagte er, »ab mit dir! Und das kommt nicht wieder vor, okay?«
Ich sagte Ja, hätte aber wieder gerne geschrien — denn ich wusste, wer die Frau am anderen Ende der Leitung gewesen war.
Billys Mum.
War sie Schulbeirätin? Oder sein Dad? Veronique war geliefert! Aber statt zu schreien, drehte ich mich einfach um und ging in die Aula — für den unwahrscheinlichen Fall, dass Veronique sich dort aufhielt.
Aber sie war nicht da.
Stattdessen jedoch Billy. Er saß mit gekreuzten Beinen neben Marcus Breen.
Als ich Billy böse anfunkelte, sah er mich an wie ein verschrecktes Kaninchen und wich mir dann den ganzen Tag aus. In der ersten Pause blieb er drinnen, und die Mittagspause verbrachte er bei Mr Ashe in der Bibliothek. Aber in der letzten Pause kriegte ich ihn. Ich ging in die Bibliothek und fragte Mr Ashe mit lauter Stimme, ob ich beim Sortieren der Bücher helfen könnte. Billy hörte mich und ging raus. Und als Mr Ashe einen Augenblick wegsah, schlich ich mich hinaus und folgte Billy.
Der Pausenhof war voll, und meine Mitschüler verhielten sich wie immer. Als ob nichts passiert wäre. Ich schüttelte den Kopf darüber und rannte hinüber zum anderen Ende, wo die üblichen Verdächtigen Fußball spielten. Marcus und Darren Cross waren dort und viele aus der 5s und 3s. Aber Billy merkwürdigerweise nicht. Er war genau genommen nirgends — bis mir einfiel, dass ich hinter dem Schuppen nachschauen könnte.
Und da saß er und starrte auf sein Handy (in der vierten Klasse, ich weiß).
»Cym …« Er schluckte und zuckte zusammen. »Du musst mir glauben.«
»Dir was glauben?«
»Bitte«, sagte er, »du musst.«
»WAS?«
»Ich war es nicht.«
Billy saß auf einem alten Stuhl, und ich überragte ihn. Meine Finger ballten sich zu Fäusten. Das war merkwürdig, denn Billy könnte mir den Kopf einschlagen, wenn er wollte.
Aber er zog den Kopf ein.
»Du lügst.«
»Tu ich nicht!«, sagte er, bevor er etwas tat, was mich umhaute: Er fing an zu weinen. Billy! Er weinte und weinte, das Handy gegen die Stirn gepresst, bis ich — AN DIESEM PUNKT TOTAL AM AUSFLIPPEN — den Rückwärtsgang einlegte und wieder auf den Pausenhof einbog. Dort unterhielt sich Daisy mit Vi. Wie benebelt stolperte ich zu ihnen hinüber und zog sie beiseite.
»Zum Spielen treffen?«, sagte sie, als ich ihr gesagt hatte, was ich wollte. »Heute Abend?«
Ich nickte. »Wir müssen uns treffen.«
»Aber warum?«
Fast hätte ich gesagt wegen Nanai! Wegen Veronique! Aber ich kriegte gerade noch die Kurve. »Der Lewisham Cup. Er beginnt morgen. Wir müssen trainieren. Wenn wir gut sind, sind wir die ganze Saison in der Startaufstellung.«
Daisys Augen leuchteten auf, aber dann seufzte sie. »Freitag ist Familientag. Wir müssen gemeinsam zu Abend essen. Das ist SO langweilig. Komm lieber morgens vorbei, früh. Die Spiele fangen erst um halb elf an, oder?«
Etwas Besseres würde ich nicht bekommen, deshalb ging ich weg und wünschte, ich hätte Daisy nicht anlügen müssen. Aber es war nicht anders gegangen — ich MUSSTE herausfinden, was ihr Dad gemacht hatte, als er Nanai besucht hatte.
Und das würde ich am nächsten Tag tun.