DAS also war die Antwort.
DAS war der Ort, an dem Daisys Vater gewesen war, am Tag, bevor er Nanai besucht hatte. Ich starrte auf die Buchstaben und konnte es kaum glauben. Aber WO war das Pflegeheim Seeblick? Und wer war dort?
»Cymbeline!«, rief Daisys Dad. »Was machst du? Einen Kuchen backen?!«
Ich ließ die Seiten des Planers gegen die Tür fallen und rannte die Treppen hinauf zurück zum Auto.
»Mr Blake«, sagte ich, »noch mal zu Ihrer Arbeit. Wo genau?«
»Los!«, mahnte Daisy aus dem Auto.
Und offenbar wollte sich nicht einmal Daisys Dad mit ihr anlegen, denn er wirbelte herum und nahm eilig auf dem Fahrersitz Platz, ohne mir zu antworten.
Bis zur Heide sind es nur fünf Minuten zu fahren, und Mr Blake verbrachte die ganze Zeit damit, uns noch mehr Ratschläge zu geben. Und als wir ankamen, blieb er sitzen.
»Ich hole mir einen Kaffee«, sagte er. »Aber zum Anstoß bin ich wieder da.«
Seufzend stieg ich aus und sah zu, wie er wegfuhr. Dann betrachtete ich die Szene vor uns, das große Rasenstück, wo ich schon so oft Fußball gespielt hatte. Aber heute war es anders. Da waren Eltern. Autos. All die Kinder aus den anderen Schulen in ihren unterschiedlichen Trikots. Und es gab Spielfelder mit RICHTIGEN Linien statt Hütchen und ECHTE Tore mit ECHTEN Netzen statt Schultaschen oder Pfosten. Daisys Augen leuchteten auf wie Sterne, und meine hätten das auch tun sollen: Seit JAHREN träumte ich von diesem Tag. Aber jetzt erschien er mir irgendwie unwirklich.
Pflegeheim Seeblick?
WO WAR DAS?
Ich musste es herausfinden. Und zwar schnell. An diesem Morgen hatte Mum mit Veroniques Mum telefoniert. Sie hatten geflüstert, und das konnte nichts Gutes bedeuten. Wenn es gute Nachrichten gewesen wären, hätte sie mir davon erzählt. Was konnte ich tun? Vis Dad holte gerade ein paar Bälle heraus, also rannte ich zu ihm hinüber und sagte ihm, ich hätte meine Schienbeinschützer vergessen. Er seufzte und reichte mir sein Handy, damit ich Mum anrufen könnte. Aber ich rief sie nicht an. Stattdessen ging ich ins Internet, ohne wirklich zu erwarten, dass es funktionieren würde. Aber es klappte fast sofort. Und ich googelte »Pflegeheim Seeblick«.
JA!
»Pflegeheim Seeblick, Falmouth«, las ich. Adresse, Website und alles!
Aber wo war Falmouth? War es weit weg? Konnte ich möglichst sofort dorthin gelangen? Ich tippte Vis Dad an, um ihm das Handy zurückzugeben und ihn zu fragen, aber hielt dann inne. Denn unter den Einträgen für das Pflegeheim Seeblick war noch ein anderes Pflegeheim Seeblick. Es war in Cardiff. Und das ist in Wales! Zu welchem war Mr Blake gefahren? Ich wollte gerade darüber nachdenken, als ich noch mehr sah. Es gab ein Pflegeheim Seeblick in Southend, wo auch immer das war. Und auch noch eines in Shoreham und eines in Whitstable, eines in Deal, Aberdeen, Bournemouth und Aberystwyth. Und noch mehr. Welches also war das richtige? Wie konnte ich das ÜBERHAUPT herausfinden? Mr Blake würde es mir nicht sagen. Musste ich sie alle abtelefonieren? Ich wusste es nicht.
Aber ich wusste, wer es wissen würde. Und, wo ich diesen Jemand finden würde.
»Danke«, sagte ich und gab Vis Dad das Handy zurück. Und als er mir den Rücken zuwandte, nahm ich die Beine in die Hand.
Ich hatte Wichtigeres zu tun, als Fußball zu spielen.
Ich sprintete über das Gras. Wo die Straße enger wird, blieb ich stehen, bis eine Frau in einem Mini mich hinübergehen ließ (DANKE!), und rannte dann den Hügel hinunter. Am Fußgängerüberweg vor der Bahnstation Blackheath wartete ich darauf, dass der Charlton-Spieler grün wurde, und rannte dann auf der anderen Seite den Hügel hinauf. Dann bog ich nach links ab und blieb noch einmal stehen.
Vor dem Musikzentrum von Blackheath.
Gerade ging ein Junge hinein. Sein Dad hinter ihm trug eine Gitarre. Ich folgte ihnen, ergriff die schwere Tür, bevor sie sich schloss, und hielt mich auf dem Weg zur Rezeption hinter dem Vater.
Und ich lauschte.
Aus einem Raum zu meiner Linken drang das Quietschen einer Violine. Trommeln waren aus einem Raum rechts von mir zu hören und irgendwo eine Ukulele. Und dann — JA! Ganz schwach, aber vernehmbar: ein Klavier.
Ein Klavier, das FANTASTISCH gespielt wurde.
Ich drehte mich um. Der Klang kam von oben. Die Empfangsdame sprach immer noch mit dem Mann, deshalb stürmte ich die Treppe hinauf. Im ersten Stock gab es noch mehr Violinenklänge und eine Flöte, aber kein Klavier. Ich ging weiter nach oben und dann noch weiter, bis ich in einem kleinen Foyer ankam. Und hier hörte ich es. Laut. Durch eine Tür vor mir, auf die ich starrte, bis ich links eine andere Tür entdeckte, die offen stand und den Blick auf Eltern freigab. Sie unterhielten sich und warteten offenbar auf den Auftritt ihrer Kinder — und Veroniques Mum war eine von ihnen.
Sie unterhielt sich allerdings nicht. Mrs Chang saß einfach da und starrte mit ernstem und schwermütigem Gesicht ins Leere. War es zu spät? Waren all diese Anstrengungen umsonst gewesen? Etwas in meinem Magen schien nach unten zu plumpsen, aber ich kämpfte dagegen an.
Und bevor Mrs Chang mich entdeckte, stürzte ich zu der anderen Tür, ergriff die Klinke und drückte.
»Cymbeline?« Veronique drehte sich auf ihrem Klavierhocker um.
Ihre Augen waren RIESIG. Kit-Kat saß auf ihrer Schulter, und auch er sah überrascht aus, allerdings nicht halb so überrascht wie die Frau, die an einem Tisch gleich hinter ihnen saß. Sie war groß. Ihre grauen Haare waren auf ihrem Kopf aufgetürmt wie ein Schornstein. Und sie war ÜBERHAUPT nicht erfreut.
Sie fragte mich, was um !HIMMELS WILLEN! ich hier machte. Das hier sei ein !VORSPIEL! und ich solle !SOFORT! verschwinden. Aber ich blieb und erzählte Veronique alles — alles, was ich ihr schon längst hätte erzählen sollen. Kit-Kat hob eine Pfote zum Abklatschen, und ich klatschte ihn ab, als ich gerade zu dem Teil mit Daisys Familienplaner gekommen war und der Reise, die Daisys Dad am Tag vor seinem Besuch bei Nanai gemacht hatte.
»Und dorthin ist er gefahren?«, fragte Veronique. »Zu dem Pflegeheim Seeblick?«
»JA! Hast du schon mal davon gehört?«
»Nein«, sagte Veronique.
MIST!
»Und was ist mit der Stadt?«
»Die …?«
»STADT! Es gibt jede MENGE Pflegeheime Seeblick — in Southend, Falmouth, Aberystwyth, Aberdeen — jede Menge Dörfer und Städte überall im ganzen Land. Deshalb dachte ich, dass du vielleicht einen Ort wiedererkennst. Vielleicht hat Nanai ja eine Bemerkung gemacht. Deshalb bin ich hierhergerannt. Und?«
Aber Veronique zuckte die Achseln. »Nein, ich glaube nicht. Allerdings …«
»WAS?«
Mit aufgerissenen Augen sprang Veronique auf. »Seeblick?«, sagte sie.
»Ja.«
»Dann weiß ich, wo wir nachschauen müssen!«
Und Veronique sprang vom Klavier auf, schob mich beiseite und RANNTE!
»WARTE!«, kreischte die Frau mit dem Schornstein auf dem Kopf. »Du hast nur !ZWEI STÜCKE! gespielt. Nicht einmal das !VOM-BLATT-SPIELEN! hast du gemacht.«