Ich sah ihn groß an. Also ich meine, ich sah ihn WIRKLICH groß an: Jacky Chapman. Mein Held!
Und in diesem Augenblick der Held, den ich wirklich brauchte.
Dann hob ich die Hand.
Jacky Chapman strahlte. »Fantastisch! Hab deinen Brief bekommen. Nehme dich sehr gerne mit! Heute findet zwar kein Spiel statt, aber sollen wir das Trainingsgelände anschauen?«
»Dürfen auch andere mitkommen?«
»Dein Vater oder so? Klar!«
»So ungefähr«, sagte ich.
Veronique stieg als Erste ein. Dann Mum, die gerade angekommen war und mir einen Blick zuwarf, der sagte: WAS ZUR HÖLLE? Aber wegen des lärmenden Hubschraubers war es schwer, sie aufs Laufende zu bringen. Stefan kam als Nächster. Doch seine jüngere Tochter weinte, deshalb stieg er wieder aus und blieb am Boden. Dann kletterte ich hinein (auf den Sitz neben dem Piloten) und dachte, Vis Dad wolle auch mit, weil er zur Tür gerannt kam.
»He, Cymbeline!«, rief er.
»Was?«
»Du bist in der Startaufstellung!«
Ich freute mich. Ich freute mich sogar SEHR. Aber da war nichts zu machen, deshalb entschuldigte ich mich und schlug stattdessen Lizzie Fisher vor. Chapman wollte die Tür schließen — aber Veroniques Mum zog sie wieder auf!
»Veronique!«, sagte sie. »Was zur Hölle …?«
»Steig einfach ein!«, rief Veronique, und Mum half, sie an Bord zu ziehen.
Dann setzten wir alle Kopfhörer auf, und zwei Minuten später waren wir in der Luft. Weitere zwei Minuten später flogen wir über unsere Schule, sodass wir uns bequem ein Bild vom Zustand unseres Dachs machen konnten. Riesige Löcher! Überall fehlten Ziegel. Kein Wunder, dass wir diese Tropfeimer brauchten! Dann stiegen wir höher, bis die Schule nur noch ein Legohaus und ganz Blackheath ein Subbuteo-Spielfeld war.
»So«, sagte Jacky Chapman (der beste Mannschaftskapitän, den Charlton jemals hatte). »Was meinst du?«
Ich taxierte ihn mit zugekniffenen Augen. »Sie sind nicht so groß, wie ich dachte.«
»Oh.«
»Und Sie haben eine EWIGKEIT gebraucht, bis Sie sich bei mir gemeldet haben.«
»Tut mir leid. Ich habe deinen Brief bekommen, aber …«
»Und der Sturm sollte mehr Druck nach vorn machen. Wie Liverpool.«
»Genau. Ich sag’s ihnen. Du kannst es ihnen auch selbst sagen, wenn du magst. Auf dem Trainingsgelände.«
»Nein!«, rief ich.
Und ich erzählte Jacky Chapman von Nanai (ließ allerdings aus, dass ich ihn bei meinem Projekt durch sie ersetzt hatte) und wie wunderbar sie war. Ich erzählte ihm alles, was ich gerade Veronique erzählt hatte, und fügte außerdem hinzu, dass Nanai ein Flüchtling gewesen war und auf einmal nichts mehr aß. Dann berichtete ich von den Wänden im Café Hoa, wo sie wohl etwas gesehen hatte, was sie aufwühlte, oder jemanden, den sie gekannt hatte, oder jemanden, der vielleicht geholfen hatte, sie zu retten. Auch das Foto von dem Schiff erwähnte ich und wie Daisys Dad sie besucht hatte und Daisys Zuckerstange.
Veroniques Mum schnappte laut nach Luft, weil auch sie all das zum ersten Mal hörte.
Jacky Chapman pfiff.
»Und du willst sie retten?«
»JA!«
»Na, dann mal los!«
Und so steuerten wir Brighton an. Wir überflogen Häuser und Felder, Straßen und Hügel: Das Land, in dem ich lebte, mit all den verschiedenen Menschen darin. Die alle einfach irgendwie klarkommen wollten. Und nach einer Weile merkte ich, dass ich weit vor uns das Meer sehen konnte, das Menschen in verschiedenen Teilen der Welt überqueren müssen, um so sicher leben zu können wie wir. Und sie bringen ihre Fähigkeiten und Talente mit, ihre Musik und ihre Speisen. Und ich fragte mich, wer sich dafür entschieden hatte, am Meer zu leben — wen wir im Pflegeheim Seeblick antreffen würden. Vielleicht einen der Seeleute von dem Schiff, das Nanai gerettet hatte? Jemand, der sein ganzes Leben auf dem Meer verbracht und etwas Wunderbares getan hatte: Menschen gerettet und ihnen zu einem neuen Leben verholfen hatte. Menschen wie Nanai, denen nicht mehr viel von diesem Leben geblieben war.
Ich wusste nicht, was uns erwarten würde. Aber wir mussten es versuchen. Für Nanai.
Wir flogen über ein paar große grüne Hügel hinweg und über ein schickes weißes Gebäude, das, wie Veronique sagte, der Royal Pavilion hieß. Dann bewegten wir uns parallel zur Küste, wo dünne braune Finger in das Meer hinausragten. Wir gingen immer weiter in den Sinkflug. Unter uns befand sich ein Park. Jacky Chapman sprach in sein Funkgerät und überprüfte dann sein Satelliten-Navi.
Dann landeten wir in dem Park.
»Da ist es!«, rief Veronique und zeigte auf ein niedriges, modernes Gebäude direkt hinter dem Tor des Parks.
Wir versorgten Kit-Kat mit ein paar Erbsen und kletterten hinaus. Veronique hatte recht. Vor dem Gebäude stand ein Schild:
Seeblick
Pflegeheim
»Kommt!«, rief ich.
Mum war ein bisschen benommen, deshalb blieb sie etwas zurück, während Veronique und ich vorausrannten. Wir liefen durch das offene Tor zu einer Glastür. An der Seite war eine Türklingel, und eine Stimme aus einem Lautsprecher fragte, wen wir besuchen wollten. Ich zuckte die Achseln, bis die Stimme noch einmal fragte.
»Äh, Großvater?«, sagte ich.
Da öffnete sich die Tür mit einem Klicken.
Mum und Veroniques Mum und Jacky Chapman kamen auch, und wir traten alle ein. Die Erwachsenen blieben an der Rezeption stehen, während Veronique und ich daran vorbeihuschten. Niemand hielt uns auf.
Ich war nie zuvor in einem Pflegeheim gewesen, aber es war gemütlich hier — mit breiten Fluren und Bildern an der Wand, einer kleinen Bibliothek zur Linken, wo zwei alte Damen miteinander plauderten. Sie lächelten uns zu, und wir lächelten zurück und gingen weiter, den Blick immer auf die Türen zu beiden Seiten von uns gerichtet. Auf jeder stand ein Name, aber wir wussten ja nicht, nach wem wir suchten!
Was also sollten wir tun?
»Wir müssen zurück zur Rezeption«, schlug Veronique vor. »Und dort alles erklären. Herausfinden, wen Daisys Dad besucht hat.«
»Okay«, sagte ich. Und wollte mich schon auf den Weg dorthin machen, aber dann bogen wir um eine Ecke und standen vor einer offenen Tür, die in einen sehr großen Raum führte — mit Menschen darin. Alten Menschen. Sie saßen überwiegend in bequemen Sesseln, unterhielten sich oder schliefen, einige spielten Karten, andere sahen fern. Wir blieben einen Augenblick stehen und ließen unseren Blick schweifen. Veronique stieß zischend einen Seufzer aus.
»Wir sind so nah dran«, sagte sie. »Aber woher wissen wir, wen wir suchen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht …«
»Was?«
Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht hat er einen Matrosenhut auf?«
»Was?«
»Na ja, was weiß ich denn? Ich hab nur gedacht. Vielleicht hat er auch einen Bart. Seeleute haben das manchmal …«
»Seeleute?«, sagte Veronique. »Was haben Seeleute mit der ganzen Sache zu tun?«
»Ich dachte nur … Vielleicht gehörte die Person, die Nanai suchte, zu den Seeleuten, die sie damals gerettet haben. Jedenfalls sah sie etwas im Café Hoa, und damit fing alles an.«
Veronique blinzelte. »Sie sah irgendetwas, ja. Ich glaube, da hast du recht. Aber wir haben keine Ahnung, was es war. Oder WER.«
Das Herz rutschte mir in die Hose. Sie hatte recht.
Wahrscheinlich ergab es nicht einmal Sinn, dass wir überhaupt hier waren.
Aber dann drehte Veronique den Kopf, und ihre Augen wurden groß. Sie ging weiter, aber ich sah ihr nur nach.
»Wohin willst du?«, fragte ich.
Doch Veronique antwortete nicht. Sie marschierte einfach weiter in den großen Raum hinein, während ich mich noch einmal umsah und die alten Menschen musterte. Matrosenhüte oder -bärte gab es nicht. Wen also hatte Nanai an der Wand des Café Hoa gesehen? Woher sollte ich das wissen? Einige saßen vornübergebeugt in ihren Sesseln, andere aufrecht. Ein Mann verschickte eine Nachricht mit seinem Handy, ein anderer las in einem Buch und lachte. Sollte ich einfach der Reihe nach zu jedem hingehen? Einfach fragen: »Hallo, kannten Sie die Oma meiner Freundin aus Vietnam?«
Vermutlich würde ich das tun müssen, und ich brauchte Veroniques Hilfe dazu, aber sie war auf die andere Seite des Raums geschlendert, wo Musik spielte. Meine Güte! Ja, ich wusste, dass sie Musik mochte, aber das hier war wichtig!
»Veronique!«, zischte ich.
Aber Veronique ignorierte mich. Also folgte ich ihr und wurde immer irritierter, als ich sah, wohin sie ging: Direkt auf eine große, geschlossene Glastür zu, wo ein kleines Radio (die Quelle der Musik) auf einem kleinen Tisch neben einem Sessel mit hoher Lehne stand. Der Sessel war allerdings leer, sodass wir niemanden fragen konnten. Ich wollte gerade darauf hinweisen, als ich merkte, dass nicht die Musik sie angezogen hatte. Sondern der Tisch.
Ein Foto stand darauf. Und auf dem Foto war ein Schiff.
Nanais Schiff.