Alles blieb stehen.
Ich war wie vom Schlag getroffen — unfähig, mich zu bewegen — und Veronique ebenfalls.
Wir starrten beide auf das Foto, bis Veronique den Kopf hob und sich im Zimmer umblickte. Dann richtete sie den Blick wieder auf den leeren Sessel, während ich schluckte. Also. Das war es. Wer immer in diesem Sessel gesessen hatte, war die Person, die Nanai auf dem Foto entdeckt hatte.
Hierher war Daisys Dad gekommen — aber der Sessel war leer gewesen. Und deshalb war er zu Nanai zurückgekehrt und hatte ihr das Foto von Veronique gebracht.
Weil er zu spät gekommen war.
Und das bedeutete, dass auch wir zu spät gekommen waren.
Der Gedanke traf mich wie ein Schlag. Ich rührte mich nicht. Ich konnte mich nicht rühren. Ich stand einfach da, mit brennenden Augen, und Veronique bewegte sich ebenfalls nicht. Ihre Schultern fielen nach vorn, und ihre Arme hingen schlaff herunter. Und dann kamen unsere Mums herein und Jacky Chapman. Mum wollte etwas sagen, aber als sie den leeren Sessel erblickte, hielt sie inne. Ich hörte, wie sie tief Luft holte, und spürte dann ihre Hand auf meiner Schulter. Veroniques Mum seufzte, und es hörte sich an, als würde Luft aus einem Luftballon entweichen.
Und dann schwiegen wir alle, bis Licht von draußen mich veranlasste, durch die bodentiefen Fenster zu schauen. Die Sonne war herausgekommen und versprühte wie ein goldener Zauberstab Licht auf dem großen, grauen, donnernden Meer. Und ich fragte mich: Waren jetzt in diesem Augenblick Menschen dort draußen, die froren und Angst hatten und Hilfe brauchten? Ich stellte mir Nanai vor, die aus ihrem kleinen Boot gerettet wird, und ich stellte sie mir vor, wie sie jetzt in ihrem Krankenhausbett lag und wie ich es nicht geschafft hatte, sie zu retten. Weil ich zu spät gekommen war. Deshalb wollte ich gehen. Ich wollte, dass wir alle gehen. Ich hatte Veronique und ihre Mum den ganzen langen Weg hierhergezerrt für nichts. Sie hätten diese Zeit auch mit Nanai verbringen können.
»Kommt«, sagte ich.
Aber Veronique packte mich am Handgelenk. Und drehte mich um.
Damit ich sah, wie jemand auf uns zukam.
Aber es war kein alter Mann. Es war eine alte Dame, eine sehr alte Dame, die die Lehnen der Sessel benutzte, um sich durch den Raum leiten zu lassen.
Ich stand da und beobachtete sie, bis sie aufsah und stehen blieb.
»Wer bist du?«, sagte sie und musterte mich.
»Ich bin Cymbeline.«
»Wirklich?« Die alte Dame runzelte die Stirn, sodass sie aussah wie ein geschlossener Fächer. »Was ist denn das für ein Name?«
»Ach, das ist Shakespeare.«
»Das weiß ich! Ich bin nicht komplett gaga, weißt du. Könnte schlimmer sein, denke ich. Stell dir vor, du würdest Hamlet heißen.«
»Ich weiß. Oder … Romeo.«
»Na dann.« Sie drehte den Kopf. »Und Sie sind?«
»Jacky Chapman« (sagte Jacky Chapman).
»Und Sie?«
»Ich bin seine Mum. Cymbelines.«
»Okay.«
»Und ich bin ihre Mum«, sagte Veroniques Mum.
»Verstehe. Bleibst also nur noch du übrig, junges Fräulein«, sagte sie und wandte sich an Veronique. Sie hielt inne. »Und du bist …?«
Aber die alte Dame redete nicht weiter. Sie erstarrte. Reglos betrachtete sie Veronique — mit Augen, die ich auf einmal erkannte.
Augen, die ich schon einmal gesehen hatte.
Veroniques Augen, aber sie gehörten nicht Veronique, sondern dieser alten Dame. Dieser Dame mit glatten weißen Haaren und Flecken auf dem Gesicht wie Daumenabdrücke, während die restliche Haut von vielen winzigen Linien durchzogen war.
Wie durcheinanderliegende Mikadostäbe bei einer Partie, die man unmöglich gewinnen kann.