Und eine Viertelstunde später lernte Thu das letzte Mitglied unserer Truppe kennen.
»Das ist Kit-Kat.« Veronique schnallte sich an und hielt ihn hoch.
»Er ist ein Hamster«, erklärte Mum. »Obwohl er wirklich sehr groß ist, oder?«
»Isst zu viele Erbsen«, sagte ich.
Es ist verboten, auf dem Dach des Krankenhauses von Lewisham zu landen. Das stellte Jacky Chapman klar, als wir wieder starteten und der Regen gegen die Scheiben des Hubschraubers prasselte.
»Aber wir MÜSSEN!«
»Tut mir leid, das ist nur Rettungshubschraubern erlaubt.«
»Aber wir sind ein Rettungshubschrauber!!«
Jacky Chapman nickte und nahm Funkkontakt zum Krankenhaus auf. Wir alle hörten zu, als er unsere Situation erklärte.
»Okay, aber es tut mir leid«, drang die Stimme knackend aus dem Lautsprecher. »Ich kann das nicht erlauben. Private Hubschrauber dürfen nicht landen.«
»Aber das ist ein Notfall!«, schrie ich.
»Das mag sein, aber Sie dürfen es einfach nicht …«
»WISSEN SIE, WER ICH BIN?«
Eine kurze Pause folgte. »Verzeihung? Ob ich weiß, wer …«
»Ich bin CYMBELINE!«
»Was?!«
»Iglu.«
»Okay, warum hast du das nicht GLEICH gesagt?«, fragte die Stimme.
Und eine halbe Stunde später kamen die Rotorblätter wieder mit einem dumpfen Plopp zum Stillstand.
Ich stieg als Erster aus, und der Regen peitschte mir ins Gesicht. Jacky Chapman folgte mir, und dann kam der Rest.
Bis nur noch die alte Dame im Hubschrauber saß. Jacky Chapman half ihr heraus, und der Mann, mit dem wir gesprochen hatten, führte uns zu einer offenen Tür (nachdem er mir die Hand geschüttelt hatte). Wir eilten in einen Fahrstuhl, fuhren zwei Stockwerke hinunter und traten auf den Flur hinaus, auf dem ich schon vorher gewesen war. Dann bogen wir in die Station ein, wo sich noch mehr alte Menschen befanden — in Sesseln, Betten und Rollstühlen. Auch die alte Frau, die ich zuvor schon gesehen hatte, schlief immer noch mit dem Kopf im Nacken. Aber wo war Nanai? Ich drehte mich um die eigene Achse und entdeckte das Bett, in dem ich sie zuletzt gesehen hatte, und es war, als hätte ich auf einmal keinen Boden mehr unter den Füßen.
Das Bett war leer.
Ich holte Luft und starrte auf die glatten, sauberen Laken, so glatt und so leer, dass die ganze Welt komplett stillzustehen schien.
Bis eine Stimme sagte: »Cymbeline?«
Es war Veroniques Dad. Ich hatte keine Ahnung, was ich ihm sagen sollte. Aber dann sah ich, dass er neben einem Bett auf der anderen Seite der Station stand.
Und in diesem Bett lag Nanai.
Sie schlief hochgelagert auf ein paar Kissen und sah krank aus. SEHR krank mit eingefallenem Gesicht und schlaffen Armen. Schon bei meinem letzten Besuch hatte sie sehr alt ausgesehen, aber jetzt sah sie noch viel älter aus als alt. Mr Chang stand neben ihr und blickte uns erstaunt an, mit Augen, so groß wie Teller, während wir auf ihn zugingen.
»Aber …«, sagte er.
»Ja?«
»Aber das ist …«
»Ja?«
»Jacky Chapman!«
»Ich weiß. Und das …« Ich trat beiseite. »Das ist Thu, Nanai! Das ist Thu! Das ist deine Schwester, Nanai.«
Veroniques Dad fragte, wie das möglich wäre, aber Veroniques Mum hob die Hand und führte die alte Dame Thu zu einem Sessel. Und Thu setzte sich, sah zu ihrer Schwester hinunter, und ihre Hände fanden sofort eine Hand Nanais. Sie ergriff sie, während ich die beiden betrachtete und mich erst umsah, als eine Schwester zu uns trat. Sie wollte wissen, was hier los sei und wer wir alle wären. Dann sagte sie uns, dass wir zu viele seien und still sein müssten, weil es Nanai sehr schlecht gehe.
Aber dann hielt sie mitten im Satz inne. Thu hob ihre Hand, wandte den Blick aber nicht von Nanai ab, während ich mich fragte, ob das alles gewesen war? Ob das das Einzige war, was sie noch tun könnte; einfach ihre Schwester anschauen, die sie so lange nicht gesehen hatte? Würde sie keine Gelegenheit mehr haben, mit Nanai zu sprechen und mit ihr zu lachen, niemals wieder wirklich mit ihr zusammen sein? Thu hatte offenbar denselben Gedanken, denn sie rang nach Luft, und auf ihren Zügen lag ein Schmerz, der mir sagte, dass das hier noch schlimmer für sie war, als Nanai überhaupt nicht zu sehen. Aber dann veränderten sich ihre Gesichtszüge. Ihre Augen öffneten sich, als ob sie sich an etwas erinnerte. Etwas, was sehr lange her war, was sie einer Vergangenheit entreißen musste, die sie verloren geglaubt hatte.
Und sie sah auf die Hand hinunter, die sie hielt, und dann nahm sie ganz sachte Nanais Zeigefinger und drückte ihn in ein kleines Dreieck.
Und dann knabberte sie daran.
Und sie knabberte noch einmal daran.
Und da schlug Nanai die Augen auf.
Es herrschte Stille. Thu zog sich ein bisschen zurück, als Nanai blinzelte, während sich ihr Brustkorb mit Luft füllte und sich ihr Mund vor Schreck öffnete. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten, die sie an ihre Wangen drückte, und ihre Arme begannen zu zittern. Aber dann bewegte sie ihre Hände nach vorn und streckte sie aus. Sie streckte sie aus, und sie hingen in der Luft, bis Thu sie ergriff. Und dann hielten die beiden sich, wiegten sich in ihren Armen, als wären sie auf einem Boot. Beide weinten, während Veroniques Dad bloß zusehen konnte. Schließlich lösten sie sich voneinander.
»Was geht hier vor?«, fragte Mr Chang.
»Das Café«, antwortete Nanai. »In das du mich mitgenommen hast.«
»Café Hoa?«
»Ja.« Nanai wandte den Blick nicht von Thu ab. »Und da sah ich dich. Ich dachte, du wärst tot. Ich dachte, ich hätte gesehen, wie du ertrinkst. Aber du warst auf dem Foto an der Wand. In einer Menschenmenge auf einem anderen Boot.«
»Und du hast den großen Mann angeheuert, den Privatdetektiv«, sagte Thu.
»Aber er fand dich nicht. Ewig lange nicht. Ich hatte gedacht, ich hätte mich vielleicht geirrt und mir das alles nur eingebildet. Aber dann fand er dich DOCH.«
»Und jetzt habe ich dich gefunden!«, fügte Thu hinzu. Sie drehte sich zu Veroniques Dad und zog ihn zu sich heran, sodass die drei einander in den Armen lagen, so eng verbunden, dass sie aussahen wie eine einzige Person. Keine Frage von einem von uns hätte sie voneinander trennen können. Aber ich hatte immer noch Fragen, viele Fragen, und die wichtigsten lauteten: Warum hatte Nanai aufgehört zu essen, nachdem Daisys Dad Thu gefunden hatte? Und was bedeutete das Foto von Veronique mit der Schrift? All das verstand ich immer noch nicht.
Der Rest von uns lehnte sich zurück und sah zu, bis die Krankenschwester wieder das Wort ergriff. Sie wollte immer noch wissen, was hier los sei und wer wir wären, also erklärte Mrs Chang ihr alles.
»Wow!«, sagt die Krankenschwester. »Das ist ja wundervoll! Aber ich hole euch erst ein paar Handtücher. Ihr seid ja klatschnass!«
Sie hatte recht — die Regentropfen waren mein Gesicht und meinen Hals hinuntergelaufen, und Veroniques Haare glänzten noch mehr als sonst.
»Gute Sache, dass sie hier nicht so ein Dach haben wie unsere Schule«, sagte Veronique, nachdem die Schwester die Handtücher gebracht hatte.
Mum drehte sich zu ihr. »Was ist mit dem Dach eurer Schule?«
»Es hat große Löcher«, sagte ich. »Die Hälfte der Dachziegel fehlt. Hast du’s nicht gesehen? Vom Hubschrauber aus?«
Mum runzelte die Stirn. »Ich hatte die Augen geschlossen. Du weißt, wie sehr ich mich manchmal fürchte.«
»Und ich war damit beschäftigt, dir zuzuhören«, sagte Veroniques Mum. »Aber hast du Löcher gesagt? Im Dach der Schule?«
Ich nickte. »Jede Menge. Das ganze Dach ist wie ein Sieb. Weil die Ziegel fehlen.«
»Ziegel?« Veronique wirbelte zu mir herum. »Hast du ZIEGEL gesagt?«
»Ja. Aber was ist damit?«
»Na ja, in Billys Garten lagen Ziegel«, sagte sie, »oder nicht? Ein ganzer Stapel.«
Sie hatte recht.
»Und da waren Männer«, sagte Mum. »Erinnerst du dich, als ich dich abgeholt habe, Cym? Da waren Männer auf dem Dach der Schule!«
»Aber waren sie nicht dort oben, um das Dach zu reparieren?«
»Wie kann das sein, wenn das Dach immer noch so viele Löcher hat?«
»Ich … ich hab keine Ahnung.«
»Nun, ich frage mich schon, warum Mrs Martin zusammen mit dem Förderverein nichts dagegen unternommen hat«, sagte Mum.
Und ich erstarrte. Weil ich mir vorkam wie Nanai — als hätte ich einen Geist gesehen. Einen Augenblick lang dachte ich, ich würde Mrs Martin sehen. Eine Schwester weiter unten auf der Station redete mit einem der alten Menschen. Ihr Lachen klang warm, und sie lächelte breit. Allerdings war es nicht Mrs Martin, sondern ihre Schwester, doch sie zu sehen war, als würde ich wieder einen Schlag abkriegen.
Denn auf einmal war alles so offensichtlich.
Mrs Martin hätte etwas dagegen unternommen. Das war der Punkt. Sie hätte NIEMALS zugelassen, dass unsere Schule so herunterkommt. Sie hätte Alarm geschlagen, hätte die Eltern dazu gebracht, Briefe an den Beirat zu schreiben und zu protestieren — WENN sie da gewesen wäre. Aber Mrs Martin WAR NICHT da gewesen. Und sie war deshalb nicht da, weil jemand ihr so schreckliche Dinge angetan hatte. Dieser Jemand war nicht ich. Und er war ganz sicher auch nicht Veronique.
Ich schüttelte den Kopf und hielt wieder inne. Weil ich mich auf einmal zurück in Mr Bakers Büro befand, und er telefonierte.
»Mum«, sagte ich. »Ich brauche dein Handy. BITTE.«
Und ich wählte eine Nummer, die ich auswendig wusste aus der Zeit, als diese Person und ich Freunde gewesen waren.
»Billy«, fauchte ich.
»Ah, Cym«, flüsterte er. »Du MUSST kommen.«
»Warte. Billy …« Ich holte Luft. »… Du musst die Wahrheit sagen. Hast du Mrs Martin diese Dinge angetan?«
»Nein!«
»Wirklich nicht?«
»EHRENWORT.«
»Aber …« — ich holte noch einmal Luft —, »du weißt, WER es getan hat, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Billy. »Und es tut mir SO leid. Ich wollte es sagen, wirklich. Aber es wird zu spät sein. Du musst KOMMEN.«
»Wohin?«
»Du weißt wohin.«
»Billy!«
»Zur Schule«, sagte Billy. »Die Versammlung fängt gleich an, Cym!«
Vor meinem geistigen Auge sah ich den Brief, den Mum achselzuckend auf ihren Nachttisch geworfen hatte.
»Cym? Was ist los, Liebes? Was ist?«, fragte sie. Sie packte meine Handgelenke und starrte mich an. Auch Veronique starrte mich an und ihre Mum und ihr Dad. Sogar Jacky Chapman starrte mich an, und ich erwiderte seinen Blick, obwohl ich ihn in Wirklichkeit gar nicht richtig sehen konnte. Ich sah nur die Pläne, die auf Mr Bakers Schreibtisch ausgebreitet lagen.
»Sie wollen unsere Schule abreißen«, sagte ich.