Thu hatte ein Baby gehabt. Es war ein halbes Jahr vor ihrer Flucht auf die Welt gekommen. Das erzählte sie uns als Erstes (nachdem Nanai sich neben Thu gesetzt hatte). Ich musste schlucken, denn ich erinnerte mich an das Foto — das Lumpenbündel neben der schreienden Frau. Kurz überlegte ich, ob Veronique und ich hören sollten, was dann geschah. Waren wir nicht zu jung dafür? Aber wenn solche Dinge Kindern zustoßen, die jünger sind als wir, warum sollte es dann falsch sein, dass wir von ihnen erfahren? Allerdings hatte ich sowieso nicht die Wahl, denn Thu erzählte weiter. Und sie beschrieb noch einmal den Sturm, doch diesmal verschwieg sie ihr Baby nicht, sondern erzählte, wie es geschrien hatte, wie sie es festgehalten und wie Nanai sich an sie beide geklammert hatte.
»Bis wir anfingen zu streiten«, sagte Nanai und sah Thu an.
»Zu …« Wir alle dachten, wir hätten uns verhört. Veroniques Dad sah sie erstaunt an.
»Ja. Streiten.«
»Aber … warum?«
»Sie schrie«, sagte Thu, »nicht das Baby. Sondern Nanai. Sie schrie! Zuerst verstand ich sie nicht. Ich hörte sie nicht. Es war zu laut. Die Wellen. Das Brüllen des Meeres. Aber dann merkte ich, dass sie nicht einfach schrie wie die andern, sondern sie schrie mich an. Sie schrie mir direkt ins Gesicht. ›Du kannst nicht schwimmen!‹, schrie sie. ›Du kannst nicht SCHWIMMEN!‹ Immer und immer wieder schrie sie es, während das Boot hin und her schlingerte. Bis sie es endlich tat.«
»Sie …?«
»Sie riss mir mein Baby aus den Armen.« Und wieder wandte sich Thu an Veroniques Dad und sagte: »Dich.«
»Was?«
»Dich. Sie nahm dich. Und ich ging unter. Und versank.«
Nanai weinte jetzt. »Es tut mir so leid«, sagte sie. »Es hat mir immer leidgetan.«
»Nein«, sagte Thu und nahm Nanais Hand. »Du hattest recht. Ich konnte nicht schwimmen. Das Baby wäre gestorben.« Sie wandte sich an Veroniques Dad. »Du wärst gestorben. Du warst noch so klein. Aber ich weinte immerzu um dich, mein ganzes Leben lang. Ich kam mir vor wie eine russische Puppe ohne ihren Kern. Weil ich dachte, Nanai wäre tot und du auch. Bis der große Mann zu mir zu Besuch kam. Und da war ich so froh, wirklich.«
»Aber warum hast du ihn dann weggeschickt?«, fragte Mr Chang.
Thu drückte Nanais Hand fester. »Weil! Was wäre, wenn ich zurückkäme? Ich würde nur alles durcheinanderbringen. Ich wusste, dass Nanai dich liebt. Der große Mann erzählte mir alles über dein Leben. Ich wusste, dass Nanai die ganze Zeit deine Mutter gewesen war. Sie hat dich gerettet. Aber dann …«
»Hast du mich gesehen«, vollendete Veronique den Satz.
Und Thu nickte. »Ich sah dich. Leibhaftig. Du warst auf einmal da. Nicht nur ein Foto. Wie ein Wunder. Meine Enkelin. Und du hast mir erzählt, dass meine Schwester krank ist. Und deshalb bin ich hier.«
Und so war es. Und das ist ungefähr das Ende dieser Geschichte. Aber noch nicht ganz. Veroniques Dad war vollkommen überwältigt. Doch dann nahm er Thu wieder in den Arm. Und Nanai. Und alle umarmten einander — auch ich machte diesmal mit. Mr Chang sagte dauernd »Mutter« zu Thu, und Thu nannte ihn »Sohn«. Sie weinten und lachten zugleich — ich auch, bis Mum mich wegzog.
»Das ist jetzt ihre Zeit«, sagte sie.
Und sie hatte recht. Ich hatte gewusst, dass mehr hinter der Geschichte steckte, mehr hinter dem Geheimnis.
Aber jetzt war es Zeit für uns zu gehen. Sie bemerkten es nicht einmal.