Fünf Monate.

Wohin war die Zeit nur verschwunden?

August Strindberg lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken in seinem Bett. Er konnte nicht schlafen. Das Zimmer war dunkel wie eine Grabkammer und kalt wie ein Kühlschrank.

Nicht er wollte das so haben, sondern Maria.

Seine Freundin.

Die jetzt mit dem Kopf auf seiner Brust schlief. Jedes Mal, wenn sie ausatmete, kitzelte es. Das schönste aller Gefühle.

Fünf Monate.

Die Zeit verging so schnell und doch so langsam.

Nur noch ein Monat bis zum Halbjahres-Jubiläum. So nannten das seine neuen Freunde und Nachbarn. Dass er auf ein Jubiläum zuginge. Sie fanden, er hätte etwas zu feiern und sollte ein Fest geben.

»Wir hätten nie gedacht, dass du bleiben würdest«, pflegten die Leute zu sagen. »Nicht nach all dem, was passiert ist.

Nach alldem, was passiert ist.

August vermied daran zu denken, was diese Worte bedeuteten. Er war an die Westküste gezogen, um einen Neuanfang zu machen. Nachdem er fast sein ganzes Leben in Stockholm verbracht hatte, wollte er an einem anderen Ort von Neuem beginnen. Deshalb hatte er seinen Job als Vermögensverwalter aufgegeben und in Kungshamn, drei Kilometer von Hovenäset entfernt, in den alten Räumen des Bestattungsinstituts einen Laden eröffnet. Der Laden hieß Strindbergs Secondhand und half Dingen, die genauso verirrt waren wie er selbst, nach Hause zu finden.

Sein bester Freund Henrik, der immer noch in Stockholm wohnte, beurteilte Augusts Umzug ein wenig anders. Ihm gefiel es nicht, dass August vermied, darüber zu sprechen, wie er seine erste Zeit an der Westküste verlebt hatte.

»Ich kann dir helfen, dich zu erinnern«, pflegte er zu sagen. »Du bist von der königlichen Hauptstadt weggezogen, weil du etwas Neues sehen und tun wolltest. Und dann ist dir das Kunststück gelungen, dich in einem Haus niederzulassen, in dem jemand ermordet worden war. Gleichzeitig hast du einen Laden in einem Haus eröffnet, in dem du bald zwei Leichen finden solltest. Zwei plus eins macht drei. Drei Tote. Und trotzdem bleibst du dort. Wenn Maria dich mal in den Wind schickt, dann kannst du die ganze Sache zu einer perfekten Kontaktannonce zusammenkleben: ›Einsamer, todesverachtender, backender Bücherwurm sucht …‹«

August lächelte in der Dunkelheit.

Henrik war der Einzige, der ihn dazu bringen konnte, über diese schrecklichen Ereignisse zu lachen. Außerdem lag er ganz richtig, wenn er August als einen backenden Bücherwurm beschrieb. Das war sogar eine Beschreibung, die er in vieler Hinsicht mochte, denn August liebte es zu lesen, und er liebte es zu backen. Und seit er an die Westküste gezogen war, hatte er diesen beiden Leidenschaften so gründlich nachgehen können wie nie zuvor.

Doch pflegte er Henrik in einem Punkt zu korrigieren:

Er war nicht in dem Haus geblieben, das er gemietet hatte, als er nach Hovenäset gezogen war. Jenes Haus, das am Kärleksvägen – dem »Liebesweg« – lag und von allen das Eishaus genannt wurde, hatte sich nie wie ein echtes Zuhause angefühlt und schon gar nicht, seit August wusste, was dort passiert war. Eine junge Frau war ermordet und zerstückelt und dann in der Tiefkühltruhe gefunden worden, die im Keller stand.

Inzwischen wohnte August in einem Haus ein Stück die Straße hinunter, das er gekauft hatte und in das er eine Woche vor Weihnachten eingezogen war.

Sein eigenes Haus auf dem Kärleksvägen.

Der schönsten Adresse der Welt.

Nicht nur die Lage fand August einfach zauberhaft, sondern auch das Haus. Es war über hundert Jahre alt, und der vorige Besitzer hatte sein Schmuckstück mit großer Sorgfalt erhalten und gepflegt. Es war aus Holz, weiß gestrichen und mit Schnitzereien in Grün hübsch dekoriert. Das Grundstück drum herum war, genau wie die meisten anderen auf der Halbinsel, sehr klein, aber es gab doch einen großen Sitzplatz mit Abendsonne und eine Veranda mit Blick übers Meer. Dazu auf der einen Seite des Hauses auch einen kleinen Balkon, von dem aus man eine noch bessere Aussicht hatte als von der Veranda. Sowie das Frühjahr und die Wärme kommen würden, wollten August und Maria Frühstück und Abendessen draußen einnehmen.

Das hier wird mein bestes Frühjahr und mein bester Sommer seit Ewigkeiten werden, dachte August.

Er schlug die Augen auf und wartete, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann blinzelte er und sah zur Decke hinauf. Sie schliefen in einem Dachzimmer mit Schrägen auf beiden Seiten. An den Wänden klebten Tapeten mit einem diskreten Muster, und auf dem Fußboden lagen zwei Flickenteppiche, die August als Weihnachtsgeschenk von Maria bekommen hatte. Im ganzen Haus lagen noch die originalen Holzfußböden, und der einzige Raum, in dem er versucht war, sie rauszunehmen, war die Diele, die er gerne mit Klinker auslegen würde.

Doch alle diese Entscheidungen konnten warten. Er wollte es mit dem Renovieren nicht so eilig haben, sondern sich zunächst einmal einwohnen. In einem der Zimmer im Erdgeschoss standen immer noch einige unausgepackte Kartons, und die konnten auch gut noch ein Weilchen dort stehen. Am wichtigsten war, dass er Küche, Schlafzimmer, Badezimmer und das Wohnzimmer in Ordnung gebracht hatte. Und wie gesagt, in diesem Haus musste man sowieso ziemlich wenig tun.

Das war ein großes Glück, denn gleichzeitig lief ja die Arbeit mit dem Aufbau des Geschäfts in Kungshamn. Da hatte er zumindest ordentlich Wind in den Segeln bekommen.

»Dein Leben verläuft wie im Film«, hatte Henrik gesagt, als er Augusts neues Haus besichtigen durfte. »Tod und Bücher und alter Kram in einer seligen Mischung. Und jetzt – plötzlich – eine kleine charmante Villa Kunterbunt für Erwachsene. Wie in einem Gruselfilm mit tragikomischen Zügen.«

»Du hast die Liebe vergessen«, entgegnete August.

Denn nach den Leichen hatte sich zum Glück die Romantik eingestellt.

Maria.

Die in eiskalten Räumen schlief und mit ihrem Körper an dem von August.

Die das Schönste war, was August jemals gesehen hatte.

Maria war Polizistin und liebte Bücher.

Sie fuhr bei jedem Wetter mit dem Fahrrad und hatte kürzlich entdeckt, wie viel Spaß es ihr machte, Blumen zu ziehen.

Wenn sie Essen kochte, gelang es ihr immer, Rezepte mit massenhaft Knoblauch und Zitrone zu finden. Und wenn August den Konditor gab, umarmte sie ihn von hinten und flüsterte ihm ins Ohr, dass sie ihn wunderbar fand.

Außerdem war sie klug, stark, empathisch, spannend. Und zerbrechlich. Das bisherige Leben hatte ihr übel mitgespielt, aber August war sicher, dass das neue, das sie nun zumindest teilweise mit ihm teilte, sie wieder heil machen würde.

Vorsichtig streckte er sich aus. Es war gerade nach ein Uhr.

Bald würde Maria aufwachen und nach Hause gehen. Ganz gleich, wie fest sie schlief, nachdem sie Sex gehabt hatten, erwachte sie trotzdem immer ein paar Stunden später. Und so wie sie wach war, verließ sie ihn.

Wenn sie gegangen war, dann fühlte sich alles leer und kalt an, als wäre sie nie da gewesen. Es war dunkel, wenn sie kam, und ebenso dunkel, wenn sie ging.

Sie hatte gesagt, dass es nicht so schnell gehen dürfe, dass sie mehr Zeit bräuchte. Er hatte erwidert, dass er dafür Verständnis habe. Dennoch war August ein wenig frustriert. Er hatte sich noch nie auf all die Regeln und Prinzipien und Tipps und Tricks in der Liebe verstanden, und jetzt war es wohl höchste Zeit, da etwas aufzuholen.

Warum war es für Maria so wichtig, ihn mitten in der Nacht zu verlassen?

Warum wollte sie nicht, dass die Nachbarn sie kommen und gehen sahen?

Die Einzigen, die von ihrer Beziehung wussten, waren Henrik und Marias Kollege Ray-Ray.

August wandte langsam den Kopf. Ihre Atemzüge waren gleichmäßig und ruhig, fast schwer.

Sie brauchte ihre Ruhe.

So lange war sie gejagt worden.

Doch nun nicht mehr, dachte August. Bald würde es ein Ende haben.

Und vielleicht war das der Moment, in dem ihr wirkliches gemeinsames Leben beginnen konnte.

Er schloss die Augen.

Auch er sollte noch ein paar Stunden Schlaf bekommen, um Kraft für den nächsten Tag zu sammeln. Sein Kalender war in der kommenden Zeit voller spannender Begegnungen mit neuen Kunden. Einige von ihnen würden in seinen Laden kommen, und manche würde er zu Hause besuchen.

Maria bewegte sich im Schlaf.

»Halt mich fest«, murmelte sie.

August zog sie dichter an sich und drückte seinen Körper an ihren.

Ich liebe dich, dachte er.

Noch hat er das nicht laut gesagt, doch bald würde er sich nicht mehr beherrschen können. Leider hatte er den Fehler begangen, Henrik davon zu erzählen.

Der Freund hatte bestürzt reagiert:

»Es ist viel zu früh, so etwas zu sagen«, hatte der entgegnet. »Ihr seid doch erst drei Monate zusammen. Du musst mindestens noch drei weitere warten.«

»Warum denn?«

»Weil sie sonst glaubt, du seist krank und verzweifelt, und das willst du ja wohl nicht, oder?«

August konnte nicht begreifen, warum er Henrik eine derart private Sache erzählt hatte. Jetzt bereute er es, denn Henriks Einwand war zu einem Spuk in seinem Kopf geworden, den er nicht loswerden konnte, obwohl er fest davon überzeugt war, dass drei Monate der Verliebtheit mehr als genug ausreichten. Die Frage war, was Henrik sonst noch für nötig hielt.

August und Maria waren seit knapp hundert Tagen ein Paar und hatten in den drei Monaten unverhältnismäßig viel Zeit auf Abendessen und Weinstündchen und wahnsinnig guten Sex verwandt.

Letzteres hatte er leider auch Henrik erzählt.

Da war es im Telefon ganz still geworden.

»Teufel noch mal«, hatte Hendrik geantwortet. »Jetzt wird es noch schwerer werden, dich wieder nach Hause nach Stockholm zu kriegen.«

Es störte August, dass er immer noch nicht den magischen Satz herausgebracht hatte, denn er war doch schließlich 45 Jahre alt. Da wusste man doch, wenn man jemanden liebte.

»Bleib heute Nacht«, flüsterte er Maria zu. »Die ganze Nacht.«

Sie schüttelte den Kopf.

Dann schlief sie wieder ein.

Was niemals eine Rolle zu spielen schien. Auch wenn sie in seinem Arm wieder einschlief, wachte sie doch nach einer Weile auf und ging nach Hause. Nach Hause, das war in eine Wohnung auf Fisketången in Kungshamn, wo August nur ein paarmal gewesen war, weil sie lieber zu ihm nach Hause kam.

August küsste sie auf den Kopf und atmete den Duft ihrer Haare ein.

Shampoo und salziger Wind.

Das waren Düfte, die ihm Ruhe schenkten. Und mit dem Gefühl im Sinn schlief er ein.

Und erwachte wieder. Jemand bollerte an die Tür. Hart und laut.

August setzte sich im Bett auf. Es war, als wäre er kaum wieder eingeschlafen gewesen.

Zwei Dinge wurden ihm klar.

Zuerst, dass Maria weg war.

Und dann, dass es immer noch Nacht war.

Da begriff er, dass draußen auf der Straße jemand rief.

»Es brennt! Es brennt in Ihrem Bootshaus!«