Die Puppensammlung befand sich im Wohnzimmer. Zwölf an der Zahl saßen da in der Vitrine. Sämtliche Puppen waren Mädchen oder Frauen, und alle trugen Kleider. Handgefertigt und ganz besonders. Auf den Kragen saß geklöppelte Spitze, und manche hatten handgestrickte kleine Jacken an. Die Schuhe waren aus Leder und die Strumpfhosen aus Seide.
Die Puppensammlung gehörte Ola Thynells Mutter und war ein Erbe von seiner Großmutter.
Ola mochte sie nicht. Und seine Mutter mochte sie auch nicht.
Trotzdem brachte sie es nicht über sich, die Puppen wegzuwerfen. Warum, das konnte Ola nicht begreifen. Es war ja nicht so, dass die Großmutter das irgendwie erfahren würde.
Ola saß in der Küche und trank Kaffee. Von seinem Platz am Küchentisch aus konnte er ins Wohnzimmer sehen, wo die Puppen in der Vitrine saßen und glotzten. Kein feindseliges Gesicht, so weit das Auge reichte, aber ziemlich viel versteinertes Lächeln.
Das war gelinde gesagt unbehaglich.
»Ola?«
Die Stimme seiner Mutter war nur ein heiseres Flüstern, und dennoch schnitt sie ebenso effektiv durch die Stille der Nacht wie ein Schrei.
»Ich komme!«
Er eilte durchs Haus.
Eigentlich lag das Schlafzimmer seiner Mutter im oberen Stockwerk, doch inzwischen schlief sie auf dem Gästebett in ihrem Arbeitszimmer, damit sie nicht die Treppe steigen musste.
Sie sah ihn mit furchtsamen Augen an, als er zu ihr hereinkam.
»Hast du Schmerzen?«, fragte er.
Sie nickte.
»Ich hole Medikamente.«
Ola ging ins Badezimmer und drückte zwei Tabletten aus dem Blister.
Alles hatte sich so schnell verändert.
Im Oktober hatten sie erfahren, dass die Mutter krank war. Ola war mit beim Arzt gewesen, als sie den Bescheid erhielten.
»Es tut mir leid, Mary«, hatte der Arzt gesagt, »das hier sieht verdammt pechschwarz aus.«
Verdammt pechschwarz.
So formulierte man das nur, wenn man seine Patientin sehr gut kannte, und das tat der Arzt, der Mary jahrzehntelang betreut hatte.
Ola hatte wie vom Blitz getroffen dagesessen. Als er sich dann sowohl gegen die Ausdrucksweise als auch gegen die Prognose zu wehren begann, hatte seiner Mutter entgegnet:
»Ich habe die Ärzte gebeten, so aufrichtig wie möglich zu sein. Also lassen wir ihn jetzt mal zu Ende reden.«
Mary hatte Krebs. Die Tumore waren überall. Es würde ihr immer schlechter gehen, und das sehr schnell.
»Wir sprechen von Monaten, nicht von Jahren«, hatte der Arzt gesagt.
»Das ist aber übel«, hatte Mary geantwortet. »Aber schön zu wissen, warum es mir so schlecht ging.«
Ola hatte sie nur angestarrt.
War sie verrückt?
Das war doch so ungefähr das Schlimmste, was ein Mensch zu hören bekommen konnte.
Und trotzdem konnte alles noch schlimmer kommen.
Olas Schwester Patricia hatte entschieden, dass sie Göteborg verlassen und nach Kungshamn ziehen sollte.
»Dann kann ich dir helfen und mich auch um Mama kümmern«, hatte sie gesagt.
Ola hatte seinen Ohren nicht getraut. Patricia konnte sich bisher weder um sich selbst noch um ihre Kinder kümmern. Es würde die Situation nicht im Geringsten erleichtern, wenn sie die Kinder mitten im Jahr aus der Schule riss und mit ihnen an einen Ort zog, an dem sie nie zuvor gewohnt hatten.
»Musst du immer so dramatisch sein?«, hatte Patricia erwidert, als Ola fragte, ob sie sich das denn alles gut überlegt hätte. »Kungshamn ist ja im Grunde genauso wie Hovenäset. Und da bin ich ja wohl ebenso sehr aufgewachsen wie du.«
Dann hatte sie mit ihrer heiseren Raucherstimme gelacht und aufgelegt.
Zwei Wochen später war sie da.
Sie hatte eine Wohnung in Kungshamn gefunden und einen Job im Hafvsbad Smögen, wo es ihr sogar gelungen war, Konferenzbetreuerin zu werden. Es war Ola unbegreiflich, wie das vor sich gegangen sein mochte, aber jetzt gab es Dringenderes, worauf er sich konzentrieren musste.
»Und die Kinder?«, hatte Ola gefragt.
»Man schafft nur eine Sache auf einmal«, hatte Patricia erwidert. »Das mit Schule und Tagesstätte erledige ich dann in der Woche.«
Ola hatte Panik bekommen und alles für sie erledigt.
So war es schon immer gewesen. Patricia hatte einen schrägen oder überstürzten Einfall, und Ola musste hinter ihr aufräumen.
Es machte ihn schon wütend, wenn er nur daran dachte.
Mit den Tabletten in der einen Hand und einem Glas Wasser in der anderen ging er zu seiner Mutter zurück.
»Hier.«
Sie nahm dankbar entgegen, was er brachte.
»Danke«, sagte sie. »Ich komme mir so dumm vor, dass ich dich mitten in der Nacht hierhergerufen habe.«
»Kein Problem.«
»Aber du hast doch deine Arbeit zu machen. Die Leute können ja wohl ihre Schornsteine nicht alleine fegen.«
Ola lächelte.
»Nein, aber ein paar versuchen es.«
Seine Mutter erwiderte sein Lächeln.
»Nächstes Mal rufe ich Patricia an«, sagte sie.
»Nein!«, rief Ola und klang härter als beabsichtigt. »Versprich mir, dass du das nicht tust, Mama.«
Seine Mutter sah wehmütig aus.
»Verurteile sie nicht zu hart«, sagte sie. »Sie tut doch ihr Bestes.«
Ola seufzte.
Es war nach drei Uhr, und er war bald eine Stunde bei seiner Mutter gewesen. Obwohl sie sowohl den Pflegedienst anrufen als auch einen Sicherheitsalarmknopf drücken konnte, meldete sie sich lieber bei Ola, aber das konnte auf Dauer nicht so weitergehen. Sie musste besser mit den Menschen außerhalb der Familie zusammenarbeiten. Im Krankenhaus wollte sie nicht sein, das hatte sie ganz klargemacht, und Ola verstand auch warum. Ihre Tage verliefen immer noch einigermaßen beweglich. Sie schaffte es, wach zu bleiben und fernzusehen und Bücher zu lesen. Manchmal putzte sie sogar. Und jedes Mal, wenn Ola kam, hatte sie irgendetwas anderes gefunden, was sie ihm geben wollte.
Seine Mutter legte sich wieder hin.
»Weißt du«, begann sie, »ich habe an die alte Puppensammlung von Großmutter gedacht.«
Ola erstarrte.
Sie hatte ja wohl nicht vor, ihm ausgerechnet die zu geben, oder?
»Jetzt guck mal nicht so ängstlich«, sagte sie. »Ich habe mir überlegt, ich könnte doch August Strindberg fragen, ob er sie für verkäuflich hält. Ich habe ihn gebeten, hierherzukommen und ein paar Sachen anzuschauen.«
Ola atmete auf.
»Eine ausgezeichnete Idee, August die Puppen zu geben«, erwiderte er. »Das ist super.«
»Ich verspreche nichts«, sagte Mary. »Aber ich habe schon mal daran gedacht.«
»Denk ruhig weiter in die Richtung«, antwortete Ola. »Und jetzt schlaf noch mal. Ich gehe gleich, aber ruf mich an, wenn etwas ist.«
Er machte die Tür zum Arbeitszimmer zu und ging in die Küche zurück. In dem Moment waren auf der Straße draußen Stimmen zu hören. Sie kamen aus dem Nichts und zerschnitten die Stille. Erhitzt und laut, völlig ohne daran zu denken, dass es mitten in der Nacht war und Menschen geweckt werden könnten. Das Haus seiner Mutter war, genau wie viele andere Häuser auf der Halbinsel, sehr hellhörig, aber diese Stimmen hätte man auch bei dickeren Wänden gehört.
Ola schaute hinaus. Da war niemand zu sehen, aber die Stimmen kamen schnell näher. Im Haus auf der anderen Seite der Straße, wo Axel Ehnbom wohnte, war alles dunkel, der gehörte also nicht zu denen, die hier Lärm veranstalteten.
Die Stimmen wurden immer noch lauter, und nun kamen Schatten und dann Personen hinzu. Gunnar Wide – der Vorsitzende der Interessenvereinigung von Hovenäset – und eine weitere Person liefen eilig vorbei.
Strindberg. August Strindberg.
Olas Herz machte einen Satz.
Irgendwas war hier los. Gunnar Wide redete und redete. Ola kannte ihn schon sein ganzes Leben und wusste, dass er sich gerne aufregte. Wenn er die Chance bekam, wütend zu werden, dann ergriff er sie. Doch dann konnte Ola im Licht der Straßenlaternen den Gesichtsausdruck von August erhaschen. Verbissen und verschlossen, überhaupt nicht so offen und harmonisch, wie er sonst immer wirkte. Und da machte er sich Sorgen.
Gunnar gestikulierte und palaverte, und der Stockholmer hörte zu. Beide waren hochgewachsen, aber August war länger. Aus Gunnars Mund rauchte es, als er über die schneebedeckte Straße stiefelte und dabei immer weiterredete.
»Ein reines Glück, dass ich es entdeckt habe«, sagte er mit erregter Stimme. »Jetzt haben wir zumindest eine Chance, dafür zu sorgen, dass sich das Feuer nicht ausbreitet. Und wo zum Teufel bleibt denn die Feuerwehr?«
Die Feuerwehr?
Ola öffnete das Fenster, um zu fragen, was denn passiert sei, doch da waren Gunnar und August schon vorbei. Kalte Luft wallte ins Haus, und es roch nach Rauch.
Ola erstarrte.
Wo brannte es denn?
Gunnar und August gingen eilig hinüber zu Axels Haus.
Ola sah, wie Gunnar die Treppe hinauflief und an Axels Tür bollerte.
»Axel, bist du zu Hause?«
Er benutzte seine lauteste Stimme. So aufgeregt hatte er nicht mehr geklungen, seit er dafür gekämpft hatte, dass Hovenäset eine eigene Postleitzahl bekommen sollte.
August stampfte auf der Stelle. Wahrscheinlich versuchte er, sich in der Kälte warm zu halten.
Ola schloss das Fenster wieder und ging zur Tür. Vielleicht könnte er helfen. Axel jedenfalls hatte wohl nicht die Absicht, seine Besucher einzulassen.
Der Rauchgeruch hing weiterhin im Haus.
»Ola?«
Er öffnete die Tür zum Arbeitszimmer.
»Was ist denn da los?«
Seine Mutter hatte natürlich auch Gunnars aufgeregte Stimme gehört.
»Irgendwo brennt es, ich gehe mal raus und sehe nach.«
Seine Mutter wurde bleich.
»Doch wohl nicht bei Axel?«, sagte sie.
Ola schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er.
»Aber es klingt, als würden sie versuchen, ihn zu erreichen.«
Sie sah ängstlich und besorgt aus. Und etwas benebelt. Das lag an den starken Tabletten.
»Ich gehe raus und sehe mal nach«, sagte Ola.
Seine Mutter kämpfte dagegen an, dass ihr die Augen zufielen. Wie bei einem sehr müden Kind.
»Ola, mach jetzt keine Dummheiten. Pass auf dich auf.«
Ola starrte seine Mutter an.
»Dummheiten?«, fragte er. »Wie sollte das aussehen?«
Er bekam keine Antwort. Seine Mutter war eingeschlafen.
Ola zog sich Schuhe und Jacke an.
Draußen hörte man, wie Gunnar wieder laut an Axels Tür klopfte.
Ola sah seine Mutter ein letztes Mal an, dann ging er.
»Mach dir keine Sorgen«, flüsterte er. »Bestimmt ist alles halb so schlimm.«