Hillevis Kopf fühlte sich schwer an, als sie ihn vom Kissen hob. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit im Raum.
Ein Geräusch hatte sie geweckt.
Eine Tür knarrte, schlug aber nicht zu.
Die Toilettentür. Die ihr kleiner Bruder Sam nie zumachen wollte. Ganz gleich, ob er pinkeln, kacken oder Zähne putzen wollte. Die Toilettentür musste immer angelehnt sein, sogar wenn Hillevi mit ihm aufs Klo ging.
Ein Wasserhahn war zu hören und dann wieder das Knarren der Tür.
Sam war definitiv wach.
Sie setzte sich im Bett auf und horchte in die Dunkelheit. Jetzt knarrte es wieder, aber das klang anders. Dies war der Holzfußboden. Er hatte die Farbe von Sirup und glänzte und machte einfach immer Geräusche, ganz gleich, wie vorsichtig man darüber lief.
Zum Beispiel so vorsichtig wie Sam.
Sam, der nur fünf Jahre alt war, kaum zwanzig Kilo wog und immer auf Zehenspitzen ging.
Sogar wenn er angeschlichen kam, verriet ihn der Boden.
Hillevi zog sich die Decke zum Kinn hoch.
Sie war früh ins Bett gegangen, weil sie so schlimme Kopfschmerzen hatte. Bestimmt ihre Tage.
»Die kann man ja wohl nicht im Kopf haben, du Spinnerin!«, hatte ihre beste Freundin Amanda gesagt.
»Doch«, hatte Hillevi gesagt. »Ich hab immer Kopfschmerzen, wenn ich meine Tage kriege.«
Und dann hatte sie auf einen bestimmten Punkt links auf der Stirn gezeigt.
»Hier. Hier tut es mir immer weh.«
Amanda hatte nur gelacht und sie für verrückt gehalten.
Hillevi schluckte.
Sie vermisste Amanda. Wem sollte sie jetzt all die verrückten Sachen erzählen? Zum Beispiel, dass sie Menstruationsschmerzen im Kopf hatte. Das hatte sie überhaupt nur Amanda erzählt. Mama wusste noch nicht einmal, dass Hillevi ihre Tage hatte. Hillevi war schließlich diejenige, die die Wäsche machte, und sie war es auch, die Binden und so einkaufte. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, ihr Babysittergeld darauf zu verwenden, aber jetzt war es halt so.
Die Tränen brannten in ihren Augen.
Sie vermisste nicht nur Amanda, sondern sogar ihre alte Schule. Und ihr altes Zimmer. Im Grunde vermisste sie alles, was sie in Göteborg hinter sich gelassen hatten.
»Jetzt hör schon auf«, hatte Mama gesagt, als sie ihr das erzählte. »Bis Göteborg sind es doch nur hundertfünfzig Kilometer. Kungshamn wird der perfekte Neustart für uns. Den brauchen wir. Mach jetzt kein Theater.«
Als ob Hillevi diejenige wäre, die Theater machte.
Als ob sie alles ruiniert und sie gezwungen hätte umzuziehen.
Als ob sie einen Neustart brauchen würde.
Das war blödes Gerede vom Feinsten.
Und es tat weh. Es tat so schrecklich weh.
»Ich komm dich besuchen«, hatte Amanda gesagt. »Versprochen! Ich kann jedes Wochenende kommen! Und du kommst zu mir!«
Jetzt wohnten sie schon drei Monate in Kungshamn, und Amanda war null Mal in Kungshamn gewesen. Und Hillevi hatte nur ein einziges Mal in den Weihnachtsferien nach Göteborg fahren dürfen.
»Wie willst du denn hier Freunde finden, wenn du die ganze Zeit nach Göteborg fährst?«, hatte ihre Mutter gesagt.
Als ob Hillevi in Kungshamn irgendwelche Freunde haben wollte, als ob das überhaupt möglich wäre. Hillevi würde sich lieber den Arm abbeißen, als Freunde von der Schule mit nach Hause zu bringen. Da sah es immer noch so aus, als wären sie frisch eingezogen. Hillevi hatte ihre Kartons und die von Sam ausgepackt, aber im Rest der Wohnung herrschte Chaos. Überall Kartons und kein einziges Bild an der Wand. Ola war ein paarmal da gewesen und hatte versucht zu helfen, aber das funktionierte nicht sonderlich gut. Ihre Mutter wurde dann nur wütend und meinte, sie würde sich um alles kümmern, wenn man sie nur ein bisschen ausruhen ließe.
Ein leises Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken.
Dann sah sie, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde.
Sam schob seinen Kopf durch den Türspalt. Hinter ihm war nur Dunkelheit, er hatte nicht wie sonst, wenn er nachts aufwachte, die Lampe im Flur eingeschaltet.
Jede Nacht, dachte Hillevi. Er wacht jede Nacht auf.
»Hallo«, flüsterte sie.
Sam sah sie mit großen, dunklen Augen an. Er hatte seinen Schlafanzug mit den Autos drauf an. Das Oberteil war schmutzig, man konnte sehen, dass Sam gern zum Frühstück Kakao trank.
Ich muss waschen, dachte Hillevi.
Bald würden sie keine sauberen Kleider mehr anzuziehen haben.
Sam floss geradezu ins Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
Hillevi hob die Decke an. Sie verstand, warum er nicht in seinem Zimmer sein wollte. Das war klein wie eine Gefängniszelle und hatte kein Fenster.
»Komm!«
Schnell wie ein Eichhörnchen huschte er durchs Zimmer, immer noch auf Zehenspitzen, und kroch in ihr Bett.
Warm und schwer legte er seinen Kopf auf ihren Arm. Er war heißer als sonst und hustete trocken, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten.
Aber da war noch etwas. Er war so still.
Hillevi machte sich Sorgen.
»Hattest du einen Albtraum?«, fragte sie.
Sam antwortete nicht. Er hustete wieder.
»Ich hole Wasser«, sagte Hillevi und stieg aus dem Bett. »Ich komme gleich wieder!«
Sam sah ihr unglücklich hinterher, als sie aus dem Zimmer ging. Hillevi lief schnell in die Küche und machte einen der Schränke auf. Da standen drei unterschiedliche Gläser und Kaffeetassen ohne Henkel. Die Spülmaschine funktionierte nicht, und ihre Mutter hasste es, von Hand zu spülen.
»Ich mache das einfach nicht«, hatte sie erst vor ungefähr einem Tag gesagt und das schmutzige Geschirr einfach stehen lassen.
Hillevi mochte den Berg von schmutzigen Tellern und Gläsern, die sich in der Spüle türmten, nicht ansehen. Und stinken tat es auch.
Ekelhaft.
Sie füllte ein Glas halb mit Wasser und ging in ihr Zimmer zurück. Auf dem Weg dahin stellte sie fest, dass die Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter offen stand. Seltsam, die war doch sonst immer zu. Ihre Mutter hasste es, bei offener Tür zu schlafen. Der Fußboden knarrte, als Hillevi kehrtmachte und nun zum Zimmer ihrer Mutter ging.
Auf der Schwelle blieb sie stehen.
Mama lag nicht im Bett.
Hillevi trank vom Wasser. Sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter erwähnt hätte, sie würde zu einer Freundin gehen. Sie hatte gesagt, dass sie spät noch einkaufen würde, aber da kam sie dann ja mit dem Essen nach Hause.
Wenn sie nur nicht betrunken war und mit irgendeinem Typen nach Hause kam. Dann war immer alles so furchtbar anstrengend. Hillevi hasste es, wenn das passierte.
Sie ging zu Sam zurück und kroch in ihr Bett.
»Weißt du, wo Mama ist?«, fragte sie.
Er antwortete nicht, trank aber von dem Wasser, das sie ihm reichte.
Dann legte er sich hin und drückte sein Gesicht gegen ihren Brustkorb.
Sie umarmte ihn und strich ihm über sein dickes und lockiges Haar.
»Bester kleiner Bruder der Welt«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Und dann erstarrte sie, als sie merkte, wonach seine Haare rochen.
Rauch.
Wie wenn man in der Nähe von einem Feuer gestanden hat.
Hillevi schnüffelte an der üppige Haarmähne ihres Bruders.
Warum roch Sam nach Rauch?