Um vier Uhr wurde es bereits dunkel. Kalt war es auch. Hillevi zerrte die Tür zu Sams Kita auf und marschierte geradewegs ins Spielzimmer. Es war zu einer Routine geworden, dass sie Sam abholte, wenn sie aus der Schule kam. Ihre Mutter arbeitete oder schaffte es nicht. Und Hillevi hatte keine Lust zu streiten.

Aber ausgerechnet heute hätte sie gern etwas anderes gemacht. Sie hätte am liebsten geschwänzt und wäre mit Sam zu Hause geblieben, denn er war so verändert. Er redete nicht mehr. Am Morgen zu Hause hatte er kein einziges Wort gesagt.

Und nicht nur das war komisch. Ihre Mutter hatte offensichtlich nicht zu Hause übernachtet. Und jetzt war sie krank. »Ich bin bei einer Freundin in Uddevalla geblieben«, hatte ihre Mutter gesagt, als Hillevi fragte, wo sie denn gewesen sei. »Ich war also in der Nähe.«

Als ob das erklären würde, warum sie nicht angerufen und gesagt hatte, dass sie nicht nach Hause kommen würde. Und als ob Uddevalla mal gerade um die Ecke wäre und nicht einige Kilometer weg.

Beim Abgeben in der Kita hatte Hillevi gesagt, Sams Schweigen hätte mit einem Spiel zu tun, was er unbedingt spielen wollte.

»Sie wissen schon, es heißt Toter Löwe«, hatte sie der Erzieherin erklärt, die ihn empfing.

Man konnte meilenweit erkennen, dass die Erzieherin noch niemals Toter Löwe gespielt hatte. Sie starrte Hillevi und Sam nur an, als wären sie Außerirdische.

Dann hatte Hillevi Ola angerufen, aber der hatte wohl nicht genau begriffen, wie seltsam alles war. Als er etwas später zurückrief, saß Hillevi schon im Unterricht.

Kaum war sie im Spielzimmer, da entdeckte ein Kind sie schon und rief:

»Die Schuhe! Sie hat Schuhe an!«

Hillevi warf dem kleinen Jungen einen Blick zu, der ihn zum Schweigen brachte. Sie hatte lange daran geübt, verrückt auszusehen. Das war die schnellste Methode, kleinen Blagen das Maul zu stopfen, wenn sie zu anstrengend wurden. Aber meistens fand sie kleine Kinder süß.

Eine der Erzieherinnen entdeckte sie.

Oh, nein. Nicht die.

Das war die, deren Namen sich Hillevi einfach nicht merken konnte.

Eva-Lina? Sara-Karin? Irgendwas in der Art. Ein völlig hobbyloser Doppelname.

Die Erzieherin sah Hillevi besorgt an.

»Wir hatten gehofft, eure Mutter würde kommen«, erklärte sie. »Deshalb haben wir sie angerufen.«

Hillevi zuckte mit den Schultern.

»Sie hat es nicht geschafft. Und Sie haben ja mich auch angerufen.«

Es stimmte nur ungefähr, dass ihre Mutter es nicht geschafft hatte, aber man musste ja nicht immer alles geradeheraus sagen. Das hatte Hillevi schon früh gelernt.

Die Erzieherin sah sie stur an.

Verdammte Scheiße.

Das hier würde nicht gut ausgehen, so viel war Hillevi klar. Sie bemühte sich, ruhig zu atmen und versuchte herauszufinden, was für ein Gesicht sie am besten machen sollte. Traurig? Erstaunt? Schockiert? Oder einfach nur besorgt?

Sie kam zu dem Schluss, dass »besorgt« genügte.

»Wo ist er?«, fragte sie.

Die Erzieherin schaute auf ihre Schuhe.

»Bitte sei so gut und zieh die …«

»Wo ist Sam?«

»Er ist in der kleinen Küche und isst eine Zwischenmahlzeit. Bitte sei so gut und zieh die Schuhe aus.«

Hillevi wollte sich weigern. Ihr ganzer Körper wollte sich weigern. Trotzdem zog sie die Stiefel aus und stellte sie in den Vorraum. Dann ging sie in den Raum, der die kleine Küche genannt wurde. Die eigene Ecke des Personals. Hillevi war schon einmal da gewesen. Damals wohnten sie erst eine Woche in Kungshamn, und Sam war gefallen und hatte eine große Beule auf der Stirn. Auch damals hatten sie nach ihrer Mutter gefragt.

Sam saß alleine an einem runden Holztisch mit vier Stühlen. Er stützte den Kopf in die Hände und starrte auf ein Käsebrot, das jemand vor ihn hingestellt hatte.

»Hallöchen, Kleiner«, sagte Hillevi sanft mit einer Stimme, die sie nur benutzte, wenn sie mit ihrem kleinen Bruder sprach.

Amanda hatte sie darauf aufmerksam gemacht, dass sie eine besondere Stimme für Sam hatte.

Hillevi selbst hatte noch nie darüber nachgedacht, aber es gefiel ihr.

Sam sah hoch, und dann stand er so schnell auf, dass der Stuhl hinter ihm umfiel. Zwei Sekunden später hing er wie ein Affenjunges mit den Armen um Hillevis Hals.

Sie umarmte ihn ganz fest und ließ das Gesicht in seinem wilden Haarschopf ruhen, der während der Nacht so sehr nach Rauch gerochen hatte. Sie hatte ihm am Morgen die Haare gewaschen, um den Gestank wegzukriegen. Trotzdem konnte man ihn immer noch ahnen.

Sie spürte Sams Atem an ihrem Hals.

»Wie geht’s?«, flüsterte sie.

Er antwortete nicht.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Erzieherinnen sich bewegten, sodass sie nebeneinanderstanden, als wollten sie die Tür versperren. Sie sahen einander an und dann zu Hillevi. Das sah nicht fröhlich aus. Im Gegenteil. Eher so, als hätten sie bereits das Jugendamt angerufen.

Jetzt schnell abhauen.

Sie ging auf die Tür zu. Sam schlang die Beine fest um ihre Taille.

»Warte kurz«, sagte die Erzieherin, die sie gebeten hatte, die Schuhe auszuziehen.

»Wir müssen nach Hause«, sagte Hillevi, obwohl das der letzte Ort war, wo sie gerne hingehen wollte.

»Das ist so unfair«, sagte die andere Erzieherin. »Verstehst du das nicht, Hillevi? Ich meine, du leistest fantastische Arbeit mit Sam. Aber du bist dreizehn Jahre alt und selbst ein Kind. Eure Mama hätte hierherkommen sollen. So etwas macht man einfach nicht.«

Hillevi wurde wütend.

»Es ist keine Arbeit, sich um Sam zu kümmern«, sagte sie und klang wütender als beabsichtigt. »Das ist einfach etwas, was man tut.«

Die Erzieherin nickte bedächtig. Sie hatte braune, kurz geschnittene Haare, die platt um den Kopf lagen.

»Natürlich«, sagte sie. »Entschuldige, das war dumm formuliert. Aber du verstehst sicher, was ich meine.«

»Nein.«

Die Erzieherin holte Luft.

»Doch, das tust du. Du bist nämlich ein kluges Mädchen, Hillevi. Und das, was heute passiert ist … darüber können wir nicht einfach hinwegsehen. Das musst du verstehen.«

In Hillevis Ohren klingelte es leise.

Lauf, verdammt noch mal, lauf einfach.

Aber die Beine gehorchten nicht, und Sam war zu schwer.

Sie versuchte, sich daran zu erinnern, was die bei ihrem Anruf gesagt hatten. Irgendwas davon, dass Sam den ganzen Tag geschwiegen hätte. Und dann war da noch »eine andere Sache«. Ja, genau, das hatten sie gesagt. »Auch noch eine andere Sache.« Was für eine Sache, das hatten sie immer noch nicht erzählt.

»Sam hat eines der anderen Kinder geschlagen«, erklärte die Erzieherin. »Fest. Mitten ins Gesicht. Sein Vater ist gekommen und hat ihn vor einer Weile abgeholt. Und wir …«

Hillevi unterbrach sie.

»Prügelt sich Sam sonst auch?«

»Entschuldigung?«

»Prügelt sich Sam sonst auch?«

Die Erzieherin sah verwirrt aus.

»Nein«, sagte sie, »das tut er nicht. Das ist auch ein Grund, warum wir darauf so heftig reagiert haben. Das, und dass er den ganzen Tag kein einziges Wort gesagt hat. Er wollte nicht einmal erzählen, worüber er und der andere Junge denn gestritten haben.«

»Aber was sagt denn der andere Junge?«, fragte Hillevi.

»Er sagt, er habe überhaupt nichts gemacht, sondern hätte nur einen Schlag auf den Kopf bekommen.«

Echt jetzt?, dachte Hillevi.

Sam wurde auf ihren Armen immer schwerer. Sie mussten jetzt los. Und Sam musste selbst gehen. Und er musste anfangen zu reden.

»Ich rede mit Mama, wenn wir nach Hause kommen«, sagte sie.

»Das genügt nicht«, beharrte die Erzieherin. »Wir werden sie auch anrufen. Wir möchten, dass sie hierherkommt und wir uns zu einer richtigen Besprechung hinsetzen können, wir Erwachsenen.«

Da war eine Stimme aus der Garderobe zu hören.

»Hallo? Ist hier jemand?«

Eine andere Mutter. Von der Sorte, die ihr Kind nicht abholen können, ohne zuerst eine halbe Ewigkeit lang zu erzählen, wie ihr Tag gewesen war.

Perfekt.

Mit raschen Schritten marschierte Hillevi aus der Küche Richtung Garderobe.

»Ich setzte dich auf den Boden, damit ich dich anziehen kann«, flüsterte sie Sam ins Ohr. »Okay?«

Die Erzieherin kam hinterher.

»Hillevi, sag deiner Mutter, dass sie uns so schnell wie möglich anrufen soll. Sie hat unsere Handynummern, sie kann anrufen, sowie es passt. Hauptsache, wir können mit ihr reden.«

Hillevi nickte, wusste aber genau, wie das laufen würde. Ihre Mutter würde wütend werden und nicht anrufen.

»Mama ist krank«, sagte sie. »Sie ruft an, wenn sie es schafft.«

»Sie scheint ziemlich oft krank zu sein«, sagte die Erzieherin. »Vor einer Weile haben wir versucht, sie auf der Arbeit anzurufen, aber da war sie auch nicht.«

Die Frau, die gekommen war, um ihr Kind zu holen, verfolgte das Drama mit aufgerissenen Augen.

Hillevi konzentrierte sich darauf, Sam Overall, Stiefel, Handschuhe und Mütze anzuziehen. Er leistete nicht den geringsten Widerstand.

Rechter Arm, linker Arm, rechter Fuß, linker Fuß.

Als die Erzieherin sagte, ihre Mutter sei oft krank, reagierte Sam zum ersten Mal. Er sah Hillevi ängstlich an.

»Es geht ihr gut«, flüsterte sie schnell. »Wenn sie sich nur ein bisschen ausruhen kann.«

Ihr wurde ganz anders, wenn sie von der Arbeit ihrer Mutter reden hörte. Smögens Hafvsbad. Ihrer Mutter war so stolz gewesen, als sie den Job dort bekommen hatte.

»Konferenzbetreuerin«, hatte sie gesagt. »Das hättest du nicht gedacht, was?«

Hillevi war einfach nur sprachlos gewesen. Ihre Mutter hatte ja null Ahnung von Konferenzen. Es war super seltsam, dass sie einen solchen Job bekommen hatte.

Laut sagte Hillevi:

»Sie hat Migräne. Dafür kann sie ja wohl nichts, oder?«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte die Erzieherin. »Aber wie gesagt, es scheint, als hätte sie sehr oft Migräne.«

Hillevi antwortete nicht. Was hatte ihre Mutter sich eigentlich gedacht? War doch klar, dass es so ausgehen würde. Mal wieder.

»Vielen Dank«, sagte sie und zog Sam auf die Füße.

Dann nahm sie die Hand ihres Bruders, schob die schwere Tür auf und ging raus.

Die Kälte biss auf den Wangen und erweckte sie zum Leben. Ihr Herz schlug hart, aber alles fühlte sich etwas leichter an, sowie sie draußen waren.

Hillevi ging rasch über den Spielplatz vor der Tagesstätte. Dabei schaute sie mehrmals über die Schulter. Wenn sie nur nicht hinter ihr herkamen, das würde sie nicht aushalten. Sie ging schneller. Dann meinte sie plötzlich, jemand würde hinter ihr herrufen, war aber nicht sicher.

Sam entrang sich ein Seufzer, als sie am Zebrastreifen stehen blieben.

Hillevi sah ihn besorgt an.

»Du musst erzählen, was passiert ist«, sagte sie und drückte seine Hand. »Hörst du, Sam? Du musst es erzählen.«

Er antwortete nicht, sondern schaute nur zu Boden.

Hillevi spürte die Angst im Körper hämmern.

Als sie über die Straße gekommen waren, ging sie langsamer.

Nach Hause wollte sie nicht.

Sie drückte wieder Sams Hand.

»Sollen wir nach Hause zu Ola gehen?«, fragte sie. »Er wird uns wohl helfen.«

Sam antwortete nicht.

Jetzt war es kalt. Richtig kalt.

Hillevi holte das Handy raus.

»Doch«, sagte sie laut, »das machen wir. Jetzt rufe ich Ola an, damit er weiß, dass wir kommen.«

Sie drückte das Handy ans Ohr. Während es klingelte, bog sie nach rechts ab und ging Richtung Zentrum von Kungshamn.

Ola war fast sofort dran.

»Entschuldige! Ich habe es nur geschafft, ein einziges Mal anzurufen, und da habe ich dich nicht erreicht.«

Hillevi merkte, wie ihr das Weinen im Hals steckte, als sie reden wollte.

»Alles gut. Aber dürfen wir zu dir kommen? Jetzt sofort? Bitte.«