Schuld und Scham waren starke Kräfte, vor denen Maria lange zu fliehen versucht hatte. Der verzweifelten Emmy Mellgren schien es ebenso zu gehen.
»Eigentlich möchte ich nicht über Gunnar sprechen«, sagte sie und schaute nervös aus dem Fenster. »Also, dass wir uns treffen und so.«
Maria und Ray-Ray saßen jeder auf einem Sitzhocker in Emmys Wohnzimmer, und Emmy thronte mit ihren drei Perserkatzen auf dem Sofa.
Sie bemühten sich, so freundlich wie möglich zu sein, aber die Fragen mussten trotzdem gestellt werden.
Hatte Gunnar Wide ein Alibi für den Brand oder nicht?
So einfach war das.
Und doch die wichtigste Frage von allen.
Wenn er kein Alibi hatte, dann wäre es natürlich wichtig herauszufinden, warum er einen Grund gehabt haben könnte, Axels Bootshaus anzuzünden. Doch im Moment spielte das noch keine Rolle.
»Wir verstehen, dass es etwas heikel ist«, beteuerte Ray-Ray. »Das ist auch ein Grund dafür, warum wir Sie so spätabends aufsuchen. Wir wollen möglichst diskret sein. Und ich kann Ihnen versprechen, dass wir auch nicht lange bleiben werden. Wir wollen nur wissen, was Sie in der Nacht auf heute gemacht haben.«
Emmy nickte, um zu zeigen, dass sie das verstand.
»Wie gesagt, Gunnar war hier. Manchmal kommt er vorbei, wenn es zu Hause und so passt. Wir sind beide einsam … und so fühlt es sich einfach weniger einsam an.«
Maria konnte nicht umhin zu lächeln.
»Niemand verurteilt sie«, sagte sie.
Emmy sah verzweifelt aus.
»Ich weiß schon, dass Sie es gut meinen«, sagte sie. »Aber wir gehören nicht derselben Generation an. Ich bin zwar Witwe, aber Gunnar ist verheiratet. Und solange es so aussieht …«
Sie verstummte, und Maria hätte am liebsten gesagt, dass sie durchaus auch verheiratet war, dass aber die Dinge manchmal nicht so lagen, wie es aussah, und dass es erwachsenen Menschen erlaubt sein müsse, ihrem Herzen zu folgen.
Ray-Ray räusperte sich.
»Gunnar ist mit einer Halbtoten verheiratet«, sagte er. »Das wirft doch mal ein ganz anderes Licht auf die Sache.«
Maria und Emmy sahen ihn erschrocken an, woraufhin er nur mit den Schultern zuckte und die Arme ausbreitete.
»Mal ehrlich, so ist es doch!«
»Also, Halbtote ist vielleicht ein bisschen viel«, sagte Emmy.
»Vielleicht ein bisschen, aber … Okay, ich bitte um Entschuldigung. Aber ich glaube, es ist schon klar, was ich sagen will, oder?«
Maria wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
»Entschuldigen Sie bitte meinen Kollegen«, sagte sie zu Emmy. »Was er zu sagen versucht, ist, dass es gewisse äußere Umstände gibt, die als mildernd angesehen werden müssen. Und ganz abgesehen davon ist uns der Hintergrund, warum Sie und Gunnar sich treffen, völlig egal. Wir sind ausschließlich hier, um zu hören, was Sie in der Nacht auf heute gemacht haben.«
Nun sah Emmy etwas stabiler aus.
»Gunnar war hier«, sagte sie wieder, doch diesmal mit fester Stimme. »Er ist gegen neun Uhr abends gekommen, und dann ist er kurz nach drei wieder nach Hause gegangen.«
Ray-Ray grinste.
»Komische Zeit, um nach Hause zu gehen«, bemerkte er.
»Das ist es ja, wir wollen nicht entdeckt werden«, erklärte Emmy. »Es gibt so viele Leute, die sich in Sachen einmischen, die sie nichts angehen.«
Maria merkte, wie ihre Wangen heiß wurden.
Ich bin ja auch schon wie diese beiden Rentner, dachte sie. Eine die sich schämt und herumschleicht. Was ist bloß los mit mir?
»Waren Sie die ganze Zeit wach, oder haben Sie auch geschlafen?«, erkundigte sich Ray-Ray.
»Gunnar hat geschlafen, aber er schnarcht so schlimm, dass er mich wach gehalten hat. Er mag es nicht, wenn ich ihn darauf hinweise, aber so ist es jedenfalls.«
Eine der Katzen gähnte und beschloss dann, das Sofa zu verlassen.
Maria schauderte es, als sie auf dem Weg aus dem Zimmer an ihrem Bein vorbeistrich.
»Haben Sie Axel Ehnbom erreicht?«, fragte Emmy.
»Nein«, antwortete Ray-Ray. »Kennen Sie ihn?«
»Mehr oder weniger, in einem so kleinen Ort kennen sich ja alle. Aber Axel war niemals sonderlich sozial, er bleibt eher für sich.«
»Hat er irgendwelche Feinde?«
Emmy nahm eine der Katzen auf den Schoß und zog sie fest an ihre Brust.
»Glauben Sie, Axel könnte etwas passiert sein?«
»Wir glauben nichts«, sagte Maria. »Aber natürlich sind wir besorgt, dass man ihn nicht erreichen kann. Wir müssen schließlich herausfinden, warum sein Bootshaus in Brand gesteckt wurde.«
Emmy sah zögerlich aus.
»Ich fürchte, dazu kann ich nicht viel beitragen«, sagte sie. »Ich habe keine Ahnung, ob Axel irgendwelche Feinde hat. Er gehört zu denen, die schon sehr lange hier wohnen. Früher habe ich mich öfter mit seiner Frau Denise getroffen, aber das ist viele Jahre her.«
»Axel ist ja schon sehr lange Witwer«, sagte Ray-Ray. »Sie wissen nicht zufällig, ob er eine Frau kennengelernt hat?«
Emmy schüttelte den Kopf.
»Davon habe ich nichts gehört«, sagte sie. »Und, wie gesagt, ich hatte nicht viel mit Axel zu tun. Aber ich weiß, dass er sehr verliebt in seine Ehefrau war. Er war völlig am Boden zerstört, als sie starb, deshalb kann ich mir vorstellen, dass es ihm schwerfällt, eine neue Beziehung einzugehen. Zumal er inzwischen ja auch sehr alt ist.«
Emmy lachte. »Aber alt sind Gunnar und ich ja auch. Also, nichts ist unmöglich.«
Maria, die nur zu gern glauben wollte, dass es kein Haltbarkeitsdatum dafür gab, wie lange man eine neue Liebe kennenlernen konnte, lächelte auch.
»Sie sagen, Axel war sehr verliebt in seine Frau«, sagte Ray-Ray. »Wie drückte sich das aus?«
»In vielerlei Weise«, erklärte Emmy. »Denises Hintergrund machte sie sehr verletzlich. Man brauchte eine sehr starke Liebe, um das so lange Zeit durchstehen zu können. Ich weiß nicht, wie viel Sie bereits wissen, aber Denise stammte aus Amerika. Ganz entzückend und sehr dunkelhäutig. Damals waren gemischte Ehen, wie man es nannte, noch ungewöhnlich. Sehr ungewöhnlich sogar. Es dauerte mehrere Jahre, bis sie ordentlich Schwedisch gelernt hatte, denn es gab ja niemand anderen als Axel, der mit ihr reden wollte.«
Obwohl Maria Denise niemals kennengelernt hatte, tat sie ihr sofort leid.
»Axel und Gunnar«, sagte sie, »sind die beiden gute Freunde?«
Emmy wand sich ein wenig.
»Nein«, sagte sie, »das kann ich nicht behaupten. Ich weiß, dass sie einander manchmal mit rein praktischen Dingen helfen, aber ich würde nicht sagen, dass sie eine enge Beziehung haben. Gunnar war wohl einer von denen, die Denise am wenigsten mochten, aber … das alles kommt einem jetzt so lange her vor.«
Aber vielleicht ist es auch ganz und gar nicht so, dachte Maria.
Ray-Ray erhob sich.
»Jetzt wollen wir Sie nicht länger aufhalten«, sagte er. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«
»Das ist doch selbstverständlich«, antwortete Emmy. »Und Sie müssen ja wohl nicht so vielen von mir und Gunnar erzählen, oder?«
Maria stand auch auf. »Im Moment sieht es noch so aus, als könnten wir darüber schweigen«, sagte sie. »Aber ich kann nichts versprechen. Das hängt davon ab, welche Richtung diese Ermittlung nimmt.«
Emmy sah bedrückt aus, argumentierte aber nicht weiter. Sie hatte Verständnis, auch wenn die Nachricht weniger deutlich war, als sie sich gewünscht hatte.
»Wie lange treffen Sie und Gunnar sich eigentlich schon?«, fragte Ray-Ray, als sie in der Diele standen und sich ihre Jacken angezogen.
»Ein knappes Jahr.«
An den Wänden hingen viele gerahmte Fotografien. Die meisten waren farbig, aber einige schwarz-weiße waren auch dabei. Alle Bilder hatten unterschiedliche Rahmen, und die Sammlung sah aus, als wäre sie im Laufe der Zeit gewachsen. Das Zufällige strahlte eine warme Atmosphäre aus.
Marias Blick blieb an einem Gruppenfoto am äußeren Rand der Sammlung hängen. Darauf waren sieben Erwachsene zu sehen, die auf einer großen Klippe am Meer picknickten. Mitten im Bild war eine dunkelhäutige Frau zu erkennen. Sie trug ein rotes Kleid mit weißen Punkten und lachte fröhlich.
»Ist das da Denise?«, fragte Maria und zeigte darauf.
»Ja, und hier, das ist Axel. Und Gunnar und seine Lisa. Und ich. Und Mary und ihr Bertil. Mein Mann war auch dabei, aber der hat das Foto gemacht. Das war im Sommer 1973, glaube ich.«
Emmy sah wehmütig aus.
»Wenn uns damals nur jemand gesagt hätte, wie jung wir waren«, sagte sie. »Denn das haben wir selbst nicht begriffen. Nicht einmal Axel, der so klarsichtig ist.«
Maria knöpfte die Jacke zu und suchte in den Taschen nach ihren Handschuhen. Sie lächelte Emmy an.
»Klarsichtigkeit klingt nach einer guten Eigenschaft«, sagte sie.
Emmy zog ihre Strickjacke um sich und nickte.
»Axel kann viele Sachen sehr gut«, sagte sie, »zum Beispiel ist er sehr gut im Schreiben.«
»Was schreibt er?«, fragte Ray-Ray.
»Früher war er immer der Beste darin, Feiertagsgedichte zu schreiben, wenn jemand einen runden Geburtstag hatte«, sagte Emmy. »Und ich weiß, dass er, wenn er unterwegs auf Reisen war, sehr gerne Briefe geschrieben hat, sowohl an seine Frau als auch an seine Freunde. Wir anderen haben Postkarten geschickt, aber Axel hat gern richtige Briefe geschrieben.«
Maria fiel noch etwas ein, was sie fragen wollte.
»Als wir Gunnar getroffen haben, da hat er den Mord im Eishaus erwähnt«, sagte sie. »Ist das etwas, worüber er viel redet?«
Emmy sah schockiert aus.
»Was meinen Sie damit?«, fragte sie. »Alle reden darüber, was im Eishaus passiert ist. Solche Ereignisse vergehen nicht von selbst.«
»Das verstehen wir«, sagte Maria. »Aber Gunnar schien irgendwie besonders interessiert.«
Emmy nickte.
»Das ist er auch«, sagte sie. »Er hat viel Zeit darauf verwandt, diese Ermittlung zu verstehen und wie die so schiefgehen konnte.«
Ray-Ray öffnete die Eingangstür, und kalte Luft zog in die Diele.
Er kommentierte nicht, was Emmy gerade über den Mord im Eishaus gesagt hatte, und Maria ebenso wenig. Dass sie auch niemals das Misstrauen abschütteln konnten, das der Polizei seit dem Fall mit der ermordeten Lydia Broman entgegenschlug. Das war schlimm und sehr traurig.
Es ist doch nicht schiefgegangen, dachte Maria. Aber wie sollen wir ihnen das begreiflich machen?
Dann dankten sie Emmy Mellgren und traten in die Kälte hinaus.