»Dieser Gunnar sollte Polizist werden«, sagte Ray-Ray.

Sie standen auf dem Bürgersteig vor Emmys Haus.

»Unbedingt«, sagte Maria. »Super Idee, wirklich.«

Ray-Ray lachte leise.

»Ich nehme mal an, dass du jetzt nach Hause zu Strindberg gehst, oder?«

Maria holte ihr Handy heraus und schüttelte dann den Kopf.

»Nicht? Ist er beschäftigt?«

Maria überlegte, was sie antworten sollte, und hielt ihm dann nur das Handy mit Augusts letzter SMS hin.

»August wird heute Nacht patrouillieren«, sagte sie. »Die sind schon losgegangen.«

Ray-Ray lachte laut.

»Da musst du ihm aber mal die Ohren lang ziehen.«

»Ja, vielleicht«, sagte sie. »Aber erst möchte ich, dass wir noch mal an Axels Haus nachsehen.«

Schweigend gingen sie die kurze Strecke von Emmy zu Axel. Das waren ungefähr vierhundert Meter, die sie in fünf Minuten bewältigten. Nur in wenigen der weißen Holzhäuser, an denen sie vorbeikamen, brannte Licht. Normalerweise hatte die Ruhe, die Hovenäset prägte, eine harmonische Wirkung auf Maria, doch jetzt war sie gestresst. Irgendwo in diesem sehr begrenzten Areal bewegten sich August und Gunnar.

Nachtpatrouille.

Das gefiel Maria überhaupt nicht.

Ray-Ray holte sein Handy raus und rief Axel an.

»Er geht immer noch nicht ran«, sagte er.

Maria betrachtete das dunkle Haus. Die Luft war kalt und rau, aber es wehte kein Wind.

»Wir klopfen noch mal«, sagte sie.

Doch in dem Moment klingelte ihr Handy.

»Ich heiße Elias Ehnbom und bin der Sohn von Axel«, sagte eine unbekannte Stimme. »Sie haben mir auf die Mailbox gesprochen. Entschuldigen Sie bitte, dass ich so schwer zu erreichen war.«

»Ja, das stimmt«, sagte Maria und flüsterte Ray-Ray den Namen von Elias zu. »Vielen Dank, dass Sie zurückrufen. Wir haben versucht Ihren Vater zu erreichen, wissen Sie, wo er sein könnte?«

»Nein, keine Ahnung. Ich habe mehrere Jahre lang keinen Kontakt zu ihm gehabt. Wir haben uns gestritten und dann aufgehört miteinander zu sprechen. Deswegen kann ich Ihnen leider nicht helfen.«

»Verstehe«, sagte Maria. »Kennen Sie zufällig den Namen von einigen Bekannten in Strömstad? Oder ob er jemand Neues kennengelernt hat?«

»Als wir in Kontakt waren, hat er manchmal von einem Bosse in Strömstad gesprochen. Aber eine neue Freundin … das würde mich wundern. Es ist Papa so ungeheuer schwergefallen, mit dem Tod meiner Mutter fertigzuwerden.«

Bosse in Strömstad.

Davon gab es wahrscheinlich Hunderte.

»Okay«, sagte Maria. »Aber wenn er sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit meldet, dann richten Sie ihm doch bitte aus, dass wir ihn suchen.«

»Versprochen«, sagte Elias. »Aus reiner Neugier muss ich natürlich fragen, was Sie von ihm wollen. Ist er vermisst gemeldet worden, oder was ist passiert?«

Das fragen wir uns auch, dachte Maria.

»Leider ist das Bootshaus Ihres Vaters abgebrannt«, erklärte sie. »Deshalb würden wir ihn gerne erreichen.«

Es klang, als befände sich Elias unter freiem Himmel, denn es rauschte am Telefon.

»Es tut mir wirklich leid, das zu hören«, sagte er, und zum ersten Mal klang seine Stimme warm. »Papa war mit dem Bootshaus sehr eng verbunden, aber vor allem bedeutete es meiner Mutter ungeheuer viel.«

Im Hintergrund war das Hupen eines Autos zu hören und bestätigte, dass Elias sich auf der Straße befand.

Marias Hand, die das Handy hielt, wurde kalt.

»Wo sind Sie jetzt gerade?«, fragte sie.

»Ich bin beruflich auf einer Konferenz im Bommersvik-Konferenzhotel bei Stockholm. Deshalb hat es so lange gedauert, ehe ich zurückgerufen habe. Ich bin Jurist und arbeite in einer Anwaltskanzlei, die Malm & Ström heißt. Rufen Sie mich gerne an, wenn es noch etwas gibt.«

»Danke«, sagte Maria.

Sie schob das Handy wieder in die Jackentasche.

»Kein Erfolg?«, fragte Ray-Ray.

Maria schüttelte den Kopf.

»Axel hat wahrscheinlich keine Freundin. Er ist fünfundachtzig Jahre alt, sein Auto steht auf dem Marktplatz, und er geht nicht ran, wenn wir ihn anrufen. Das gefällt mir nicht. Was, wenn er überhaupt nicht nach Strömstad gefahren, sondern gestürzt ist. Er könnte ernsthaft verletzt sein oder noch schlimmer.«

Mit schnellen Schritten stieg Ray-Ray die Treppe zu Axels Haus hoch und klopfte laut und vernehmlich.

»Öffnen Sie, hier ist die Polizei!«, rief er.

Doch nichts geschah. Zum gefühlt tausendsten Mal probierte Maria, Axels Festnetztelefon anzurufen. Doch auch hier ging er nicht ran.

Neben der Eingangstür gab es ein Fenster, durch das Ray-Ray hineinschaute.

»Siehst du ihn?«

»Nein.«

Ray-Ray kam zu ihr zurück.

»Ich bin dafür, dass wir ihm bis morgen geben«, sagte er. »Dann bitten wir Roland, einen Hausdurchsuchungsbefehl zu besorgen.«

Maria nickte kurz.

»Das machen wir«, sagte sie.

Doch als sie weggehen wollten, gehorchten ihre Füße nicht richtig.

Irgendetwas übersahen sie hier. Der Abend war dunkel, und es war spät, und Maria suchte in ihrem Kopf nach einem Gedanken, der ihr die ganze Zeit entglitt.

»Was ist denn?«, fragte Ray-Ray.

»Ich weiß nicht«, sagte Maria. »Gib mir noch eine Minute.«

Sie standen lange schweigend auf dem Bürgersteig. Dann bewegten sie sich langsam wieder zurück in Richtung Auto. Als sie an einem der Häuser vorbeigingen, war ein Husten zu hören. Beide drehten sich automatisch in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

Ray-Ray lachte leise. »Das hier ist ja hellhörig, dass man verrückt werden könnte«, sagte er. »Wie macht ihr das denn, du und Strindberg, wenn ihr Sex habt? Hat jeder einen Beißring im Mund, damit die Nachbarn euch nicht hören?«

Mit einem Mal wurde Maria klar, was sie übersehen hatten, und sie blieb abrupt stehen.

»Warum hören wir nicht, wenn Axels Telefon klingelt?«

Ray-Ray sah nachdenklich aus.

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, wie das, was du eben gesagt hast. Viele der Häuser hier, auch das von Axel, haben sehr alte Fenster und Scheiben. Und Gunnar hat gesagt, Axel hätte ein Bakelit-Telefon. Warum hören wir es nicht im Haus klingeln?«

»Vielleicht, weil er das Telefon leise gestellt hat?«

»Ich glaube nicht, dass man das bei einem so alten Modell kann. Und wenn er den Hörer abgenommen hätte, dann würde das Besetztzeichen kommen.«

»Vielleicht hat er das Kabel rausgezogen?«

»Möglich«, gab Maria zu. »Aber in dem Fall will ich wissen, warum.«

Sie machte kehrt und ging zurück zu Axel zu Haus. Ray-Ray folgte ihr.

»Was hast du vor?«, fragte er.

»Ich rufe jetzt Roland an«, sagte Maria. »Ich will noch heute Abend in Axels Haus rein.«

Sie wartete nicht ab, was Ray-Ray von dem Vorschlag hielt, und er protestierte auch nicht.

Roland ging beim dritten Klingeln ran. Er hörte zu, als Maria die Situation schilderte. Da standen sie und Ray-Ray schon wieder vor Axels Haus.

»Ich hab da auch ein ganz schlechtes Gefühl«, bestätigte Roland. »Ich schicke eine Streife, aber wenn man Axels Alter bedenkt, dann könnte eine akute Gefahr für Leben und Gesundheit vorliegen. Wenn es geht, dann verschafft euch sofort Zugang zum Haus.«

»Danke«, sagte Maria.

Sie berichtete kurz, was Roland gesagt hatte, und ging dann die Treppe zu Axels Eingangstür hoch. Dort klopfte sie an das Fenster, durch das Ray-Ray kurz vorher hineingeschaut hatte. Das Glas war dünn und zerbrechlich.

»Vorsicht mal kurz«, sagte sie zu ihm.

Dann nahm sie ihre Dienstwaffe und schlug den Kolben gerade durch die Fensterscheibe. Das Geräusch schnitt wie ein Büchsenknall durch die Nacht.

Sie schob ihre behandschuhte Hand durch das Loch in der Scheibe und löste den Fensterhaken, sodass das Fenster aufging. Ungeduldig bürstete sie Glassplitter weg, die im Weg lagen, dann schwang sie das Bein über den Fensterrahmen und stieg ins Haus.

Ray-Ray kam hinterher und holte eine Taschenlampe heraus.

»Hallo!«, rief er. »Wir sind von der Polizei. Sind Sie hier, Axel?«

Kein Geräusch war zu hören.

Maria sah sich um. Jetzt waren sie in der Diele, und da standen Schuhe auf dem Boden, und an zwei Wandhaken hingen ein langer Mantel und eine dickere Jacke.

Ihr Puls stieg.

Jetzt hatte sie überhaupt keinen Zweifel mehr.

Axel war zu Hause.

Aber wo war er?

»Axel?«, sagte sie mit lauter Stimme und ging weiter ins Haus hinein.

Und da entdeckte sie ihn.

Auf der Treppe, die zum Teil von einer Wand verborgen wurde.

Und sie sah all die Details, die zu vergessen ihr später schwerfallen sollte.

Axels weiße Hände. Die Schlafanzugjacke, die hochgerutscht war und ein Stück von seinem Bauch entblößt hatte. Die mageren Beine und die schmalen großen Füße.

»Nein!«, rief Maria.

Sie lief hin. Kollidierte auf dem Weg fast mit Ray-Ray.

Beide rannten sie, obwohl man bereits aus der Entfernung erkennen konnte, dass sie zu spät gekommen waren.

Marias Hände zitterten, als sie Axel berührte.

Sein Körper war kalt, und er atmete nicht.

Wie durch ein Rauschen hörte sie Ray-Ray Hilfe herbeitelefonieren.

Sie legte eine Hand auf Axels Brust, spürte, dass sein Herz zu schlagen aufgehört hatte.

Verzeih, dachte sie. Verzeih, dass wir dich erst jetzt finden.