Langsam verschwand die Sonne vom Himmel, der sich erst rosa färbte und dann gelb. Das war ein Anblick, an dem man sich überhaupt nicht sattsehen konnte. August saß in seinem Laden und verfolgte das Schauspiel am Himmel durchs Schaufenster. Es ging auf fünf Uhr zu, und bald würde sich die Dunkelheit um das Gebäude legen.

Im Laufe des Nachmittags waren ein paar Kunden vorbeigekommen, doch von echtem Kommerz konnte man nicht sprechen. Ebenso wenig war er mit seinen Versuchen, Ray-Ray zu erreichen, erfolgreich gewesen. Er hatte lediglich zwei Anrufe zustande gebracht, die jeweils auf der Mailbox landeten. So hat er nur eine kurze Nachricht hinterlassen und Ray-Ray gebeten, ihn zurückzurufen. Bisher hatte er kein Wort von ihm gehört. Dasselbe galt Gott sei Dank auch für Paul.

August nahm an, dass man dies als Zeichen dafür nehmen durfte, dass sich alles normalisierte.

Neben dem Schreibtisch stand noch der Karton, den er aus der Kapelle geholt hatte. Er hatte sich bei Maria gemeldet und Fotos von seinem Inhalt geschickt. Sie bat ihn, die Bilder von dem Kind zu kopieren und ihr zu senden, was er auch getan hatte. Bisher hatte er sich noch nicht entschieden, was er mit den übrigen Sachen machen würde, doch Gunnar hatte ja erwähnt, Axel habe einen Sohn, und dann könnte er vielleicht zu ihm Kontakt aufnehmen und fragen, ob er den Karton haben wollte.

Da klingelte die Ladenglocke ein weiteres Mal.

August lächelte, als er sah, um wen es sich handelte.

Schornsteinfeger Ola.

Der Erste, den August zu Kaffee und Kuchen eingeladen hatte, als er noch im Eishaus wohnte. Für Ola hatte das sicher überhaupt keine Bedeutung gehabt, doch für August war es schon etwas Besonderes gewesen.

»Ja, hallo!«

August konnte sich nicht beherrschen, sondern gab dem Schornsteinfeger die Hand. Ein Ritual, das dadurch erschwert wurde, dass Ola einen großen Karton auf dem Arm hatte, den er erst abstellen musste.

»Entschuldigen Sie«, sagte August, »keine Ahnung, was in mich gefahren ist.«

Er lachte.

Der Schornsteinfeger stimmte in sein Lachen ein.

»Kein Problem«, erwiderte er. »Schließlich begrüßt man sich so. Man gibt sich die Hand.«

»Das sieht so aus, als wären Sie in einem privaten Anliegen hier«, sagte August. »Wie nett.«

Ola wurde rot.

»Privat?«

August sah auf den Karton, den Ola abgestellt hatte.

»Verzeihung«, sagte er. »Ich habe einfach nur angenommen, dass Sie nicht dienstlich hier sind. Sorry, Sie müssen wissen, ich bin immer noch überglücklich, wenn jemand den Weg hierher findet.«

Da erst begriff Ola.

»Ah«, sagte er. »Ah, ich verstehe! Nein, nein, ich bin nicht dienstlich hier. Ich bin hier wegen des Kartons, ich meine, privat. Ich habe ein paar Sachen, die …«

Er unterbrach sich abrupt.

»Entschuldigung, aber von wem haben Sie denn diese Frösche?«

August folgte seinem Blick, der auf Marys hässliche Porzellanobjekte gerichtet war.

»Von einer Kundin«, erwiderte er. »Ich ziehe es vor, nicht zu erzählen, woher ich all die Sachen habe. Die meisten schätzen diese Art der Diskretion.«

Der Schornsteinfeger blinzelte.

»Natürlich«, sagte er. »Sehr gut. Es ist nur so, dass meine Mutter genau so eine Herde Frösche hat, und … meine Schwester und ich wären definitiv sehr froh, wenn es sich bei denen hier um ihre handeln würde. Also, wenn sie die weggegeben hätte.«

Er lächelte etwas schief.

August rieb sich das Kinn und überlegte, was er nun sagen sollte. Ob er überhaupt etwas sagen sollte. Doch dann kam er zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich keinen Schaden anrichten würde.

»Da wir beide wahrscheinlich gut wissen, dass es in dieser Gegend nicht so viele Menschen mit einer solchen Porzellansammlung geben kann, können Sie sich ganz sicher fühlen, denn Ihre Mutter hat die Frösche weggegeben.«

Und dann fügte er hinzu:

»Aber die Puppen hat sie behalten.«

Das ließ Ola in ein unpassend lautes Lachen ausbrechen.

»Nehmen Sie die auf jeden Fall nächstes Mal mit«, rief er. »Bitte!«

»Ich werde mein Möglichstes tun«, versprach August.

Ola hob den Karton wieder hoch.

»Wo soll ich ihn hinstellen?«, fragte er. »Ich habe … ach, schauen Sie selbst. Eine halbe Ewigkeit habe ich jetzt schon vor hierherzukommen, aber …«

»Manchmal passt es einfach nicht.«

»Exakt.«

August zog einen Hocker heraus.

»Hier«, sagte er. »Hier können Sie den Karton hinstellen«

»Gut.«

Ola stellte den Karton ab, und als er die Arme hob, konnte man große Schweißflecken auf seinem Hemd sehen.

»Ich habe auch ein Buch dabei«, sagte er.

»Für den Laden?«

Jetzt wurde Ola wieder rot.

»Eins, das ich mag, für den Lesekreis. Wenn Sie wollen … oder ich weiß ja nicht … wie wählen Sie aus? Also, Bücher?«

August musste wieder lächeln.

»Wir wählen die Bücher gemeinsam auf unseren Treffen aus«, erklärte er. »Kommen Sie doch zum nächsten Abend, dann wollen wir mal sehen, ob Sie Ihr Buch den anderen schmackhaft machen können.«

Der Schornsteinfeger strahlte, als ob August den Mond vom Himmel geholt und ihm direkt überreicht hätte.

»Im Ernst? Meinen Sie das?«

»Verlassen Sie sich drauf. Aber ich bin natürlich neugierig. Was ist es denn?«

»Was?«

»Welches Buch ist es denn, das Sie so mögen?«

Ola antwortete, indem er seinen Karton öffnete. Seine Miene war angespannt, fast verbissen. August widerstand der Versuchung, sich schnell über den Karton zu beugen und hineinzusehen. Ola durfte die Dinge in seinem Tempo erledigen. Er schien gestresst, denn seine Bewegungen waren ein wenig forciert. Und außerdem war er schick gekleidet. Vermutlich wollte er hinterher noch zu einer Abendeinladung, und da wollte August ihn nicht länger als notwendig aufhalten.

»Das hier«, sagte Ola. »Ich habe es bereits gelesen, aber ich dachte, dass … ich glaube, es würde Ihnen gefallen. Wenn Sie es nicht auch schon gelesen haben.«

Er reichte August ein Exemplar von Rebecca von Daphne du Maurier.

»Ein Klassiker«, sagte August. »Und nein, das habe ich nicht gelesen. Bringen Sie es zum nächsten Treffen des Lesekreises mit. Morgen, in der Kapelle von Hovenäset.«

Ola sah erstaunt aus.

»Ich dachte, sie treffen sich immer beim Belgier?«

»So war es auch«, sagte August. »Aber die Kapelle in Hovenäset wird viel zu selten genutzt. Deshalb stellen wir vorm Altar immer einen langen Tisch auf und essen Bockwurst, die wir reihum zubereiten. Getränke bringt man selbst mit.«

Die Treffen der »Leseratten« in die Kapelle zu verlegen war eine seiner besten Taten als Vorstand des Lesekreises gewesen. Inzwischen waren es so viele Teilnehmer, dass sich noch ein weiterer Kreis gebildet hatte, der ausschließlich Kinderbücher las. August war auch auf einem Treffen dieser Gruppe dabei gewesen. Zusammen mit sechs Müttern aus unterschiedlichen Teilen der Gemeinde Sotenäs, die hier zusammenkamen, um über Bücher zu sprechen, hatte er Ronja Räubertochter gelesen. Zwei der Frauen waren schwanger. August hatte sich willkommen gefühlt, aber doch ein wenig außen vor.

Kinder.

Er wollte so gern Kinder haben.

In dem Karton kratzte es, als Ola darin grub. Vielleicht hatte er gemerkt, dass August nicht mehr so aufmerksam war, denn jetzt schien er noch bemühter, schnell weiterzukommen.

Schweigend beobachtete August, wie er so würdevoll wie möglich beide Arme in den Karton schob.

Dann bekam August endlich zu sehen, was Ola mitgebracht hatte.

Eine Kiste.

Ein fantastisches kleines Stück, das ihn sofort an die Seeräubergeschichten seiner Kindheit denken ließ. Augusts Vater hatte Piratenbücher geliebt und deshalb dafür gesorgt, diese Leidenschaft auf sein einziges Kind zu übertragen.

August wurde ganz warm ums Herz.

»Wie schön!«, rief er spontan.

Olas Miene hellte sich auf. Noch mehr als das – er strahlte.

»Die habe ich vor zehn Jahren auf einem Markt in Moskau gekauft«, erzählte er und stellte die Kiste ab. »Ein Kaufmann aus Weißrussland hat sie gemacht. Ich habe sie von einem Antikhändler aus Stockholm begutachten lassen. Sie ist um die letzte Jahrhundertwende und garantiert in Handarbeit gefertigt worden.«

»Darf ich sie öffnen?«, fragte August.

»Natürlich!«

Ein schwacher Duft von Räucherstäbchen und Tabak stieg auf, als er den gebogenen Deckel anhob. Die Kiste war vierzig Zentimeter hoch, ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter breit und mit hübsch geformten Eisenbeschlägen verziert. Sie war aus einem dunklen Holz, von dem August annahm, dass es sich um Walnuss handelte.

»Die Kiste ist ganz bezaubernd«, sagte er. »Einfach fantastisch. Aber was soll ich damit?«

Ola sah erstaunt aus.

»Sie verkaufen, natürlich.«

Die Tür zum Laden glitt auf, und eine Dame mit einem Dackel im Arm kam herein.

»Hallöchen«, sagte August. »Herzlich willkommen!«

»Danke, danke, Orvar und ich schauen uns ein bisschen um.«

August nahm an, dass der Hund Orvar hieß und nickte einladend.

Ein Seufzer entrang sich Ola, und seine Schultern sanken herunter. Er sah enttäuscht aus.

»Sind Sie sicher, dass Sie die Kiste verkaufen wollen?«, fragte August. »Ich meine, verstehen Sie mich nicht falsch: Ich würde nichts lieber tun, aber ich begreife nicht recht, warum Sie eine so schöne Kiste loswerden wollen.«

Jetzt sah der Schornsteinfeger erleichtert aus.

»Verstehe«, sagte er. »Sorry, ich habe Sie falsch verstanden, ich dachte, dass … äh!«

Er schielte zu der Kundin mit dem Hund, die jetzt im Laden herumging. Ihre Gegenwart störte Ola, das war offensichtlich.

August beobachtete ihn amüsiert. Ola hatte die wenigen Male, bei denen sie miteinander zu tun gehabt hatten, einen sehr gesammelten Eindruck gemacht. Jetzt musste er anscheinend tief Luft holen, um das Gespräch weiter fortzusetzen.

»Ich habe noch mehr davon«, sagte er. »Also, Kisten. Solche hier. Zwei. Ich habe zwei. Aber ich brauche nicht mehr als eine. Und niemand, den ich kenne, möchte die andere haben. Also dachte ich, sie wäre vielleicht etwas für Sie hier.«

»Jetzt verstehe ich«, sagte August. »Ich nehme sie äußerst gerne. Glauben Sie mir, die wird nicht lange hier im Laden stehen. Und was die Bezahlung angeht, mache ich das immer so: Entweder …«

Hier unterbrach ihn wieder die Ladenglocke.

Eine weitere Frau betrat das Geschäft. Sie hatte einen großen Karton auf dem Arm.

August lächelte sie an.

»Herzlich willkommen.«

Sie erwiderte das Lächeln.

»Entschuldigen Sie«, sagte August zu Ola, »Wo waren wir stehen geblieben? Ja genau, das mit der Bezahlung.«

Ola winkte abwehrend mit der Hand.

»Darüber können wir später sprechen«, sagte er. »Es … es gibt noch etwas ganz anderes, was ich Sie fragen wollte. Also … mehr … wie soll ich sagen…«

Ola sah der Frau, die neu ins Geschäft gekommen war, nach.

»Ach«, sagte er dann und schüttelte den Kopf, »es ist nicht wichtig. Das kann bis nächstes Mal warten.«

Im selben Moment klingelte Augusts Handy.

Sein Puls stieg, als er sich entschuldigte, um zu sehen, wer ihn da anrief.

Dann kam die Erleichterung.

Es war Ray-Ray.

»Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte August. »Es dauert nur eine Minute.«

Er huschte in die Küche hinter dem Laden und machte die Tür hinter sich zu.

»Danke, dass Sie zurückrufen.«

»Keine Ursache. Ich war etwas neugierig, nachdem ich meine Mailbox abgehört hatte und mir klar wurde, dass ich Maria nichts von Ihrem Anruf erzählen soll. Wollen Sie ihr einen Heiratsantrag machen?«

August bekam kein Wort heraus, und noch ehe er sich überlegt hatte, was er darauf antworten sollte, fuhr Ray-Ray fort:

»Ich glaube, im Moment ist das keine gute Idee. Lassen Sie lieber erst die Verhandlung vom Oberlandesgericht vorbei sein, dann können Sie fröhlich zur Tat schreiten. Ich meine, schließlich ist keiner von euch beiden mehr superjung, und ihr müsst es ja noch schaffen, Kinder zu kriegen. Deshalb dachte ich, dass …«

»Stopp!«, rief August. »Stopp, stopp, stopp. Deshalb habe ich nicht angerufen.«

Glaubte Ray-Ray, August hätte mit ihm seine private Beziehung diskutieren wollen? Und noch wichtiger: Wusste er, wie sehr er mit seinen Worten ins Schwarze traf?

»Worum geht es dann?«, fragte Ray-Ray. »Ich arbeite immer noch und stehe ungefähr hundert Meter von diesem verdammten Wohnwagen in der Kälte und friere mir den Arsch ab.«

August fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

»Paul hat Kontakt zu mir aufgenommen. Wegen der Drogen.«

»Was?«

»Doch, ich habe gesagt, dass ich …«

»Ich hab’s gehört. Was heißt, Kontakt aufgenommen? Er ist doch im Gefängnis.«

August berichtete, was passiert war.

»Das geht doch mit dem Teufel zu«, erwiderte Ray-Ray nach einem Moment des Schweigens.

»Ich habe Maria noch nichts erzählt.«

»Tun Sie das auch nicht. Sie hat schon genug um die Ohren. Ich kümmere mich um diese Sache. Er muss auf irgendeine Weise in den Besitz eines Handys gekommen sein. Diese Art Gespräche kann er nicht vom öffentlichen Fernsprecher aus dem Gefängnis geführt haben. Und er kann von dort aus auch keine SMS schicken.«

August war ein Stück weit erleichtert. Trotzdem konnte er sich die Frage nicht verkneifen:

»Ich habe über die Sache mit den Drogen nachgedacht«, sagte er. »Könnte er recht haben, dass die bei ihm platziert worden sind? Ich meine …«

»Darüber muss man gar nicht reden«, erwiderte Ray-Ray kurz. »Der Stoff ist bei ihm gefunden worden. Das ist das Einzige, was zählt. Ich melde mich, wenn ich das hier näher untersucht habe.«

Sie legten auf.

August fragte sich, ob er richtig gehandelt hatte.

Es fühlte sich nicht so an.

Ich hätte besser Maria angerufen, dachte er.

Aber jetzt war es zu spät.

August nahm wieder das Handy und schickte eine SMS in einer ganz anderen Sache. Etwas, wovon er hoffte, dass es sie froh machen würde.

Vermisse dich. Willst du heute Abend mit mir bei Tant Anton essen?