Ein Kind.

Ein Kind war bei Axel Ehnbom gewesen. Ein Kind, das mit Blut an den Händen den Telefonhörer angefasst hatte.

Maria und Ray-Ray befanden sich in Axels Haus.

Der Handabdruck ließ sie noch angespannter arbeiten.

Axel Ehnbom hatte keine kleinen Kinder, und allein die Tatsache, dass jemand ein Kind an den Ort mitgebracht hatte, weckte bei den Ermittlern Unbehagen. Außerdem war dieses Kind nicht das Einzige, das in der Ermittlung auftauchte. August hatte Kopien von zehn Fotografien geschickt, die in dem Karton gelegen hatten, den er von Axel bekommen hatte. Auf allen Bildern war ein nicht identifiziertes Kind zu sehen, das auf jedem Foto um ein Jahr älter war.

Maria bewegte sich inzwischen fast vertraut in Axels Haus. Roland wollte, dass sie nach einem Hinweis suchten, ob Axel sein Bootshaus selbst angezündet hatte, und in dem Fall auch, warum.

Damit waren sie bisher nicht sonderlich erfolgreich.

»Ein Kind«, sagte Ray-Ray mit verbissener Miene. »Wer zum Teufel nimmt mitten in der Nacht ein Kind mit hierher?«

»Wir wissen nicht, ob sie mitten in der Nacht hier waren«, erinnerte Maria ihn.

Sie standen in Axels Wohnzimmer. Jede Ecke waren sie inzwischen durchgegangen, ohne zu wissen, wonach sie suchten. Das Wohnzimmer war ebenso wie das übrige Haus geschmackvoll möbliert. Da gab es ein großes Ledersofa und bunte Sessel. Die Einrichtungsgegenstände waren persönlich und strahlten Wärme aus. Außerdem wirkte es, als hätte ein eigener Stil die Wahl von Möbeln und Einrichtung beeinflusst. Das war in den Häusern alter Leute nicht immer selbstverständlich.

»Im Grunde ist es egal, wann sie hier waren«, sagte Ray-Ray. »Es ist schrecklich unpassend. Sowas macht man nicht, wenn man einigermaßen vernünftig ist.«

Er hockte sich auf eine Fußbank und sah sich um. Maria hatte ihn schon oft sagen hören, dass er im Sitzen am besten denken könne – sie hatten jetzt viele Spuren zu verfolgen.

»Ich möchte noch mal ins Arbeitszimmer schauen«, sagte Maria.

Sie gingen ins obere Stockwerk. Keiner von ihnen beiden kommentierte die Blutflecken, die immer noch auf der weißen Treppe zu sehen waren. Der Erbe des Hauses würde sich um die Renovierung kümmern müssen, wenn die Polizei ihre Arbeit beendet hatte. Der Sohn Elias war jetzt über den Tod seines Vaters informiert. Während des Gesprächs war er sehr wortkarg gewesen, offensichtlich von der Nachricht berührt.

Dass sein Vater tot war.

Dass beide Eltern nicht mehr lebten.

»Übermorgen werde ich nach Hause kommen«, hatte er zu Maria gesagt. »Ich habe das Gefühl, jetzt in der Nähe von Papa sein zu wollen.«

Nach Hause, dachte Maria. Wann war das hier zuletzt dein Heim?

Im Haus waren keine Spuren von dem Sohn als Erwachsener zu sehen. Die wenigen Fotos, die es gab, zeigten Elias als Kind. Axels Frau Denise hingegen strahlte auf einer großen Anzahl Fotografien, die im Haus an den Wänden hingen.

Im Arbeitszimmer standen mehrere solcher Bilder auf dem Schreibtisch. Es gab auch drei Porträts von Denise in unterschiedlichem Alter. Laut Meldeamt war sie vor fünfzehn Jahren gestorben, doch sie schien in Axels Herz geblieben zu sein bis zu dem Tag, an dem er selbst starb.

Maria schaute eines der Bilder an.

Denise war schön gewesen. Und klein. Auf einer der Fotografien stand sie neben Axel. Er hatte den Arm um sie gelegt und sah ernst in die Kamera. Axel war ungefähr einsachtzig groß gewesen, und Denise reichte ihm bis zur Schulter.

»Eine krasse Ordnung hatte er mit all seinen Sachen«, sagte Ray-Ray.

Er nickte zu der langen Reihe sorgfältig bezeichneter Aktenordner, die im Bücherregal standen. Auch auf dem Schreibtisch war die Ordnung erkennbar, da lag kein einziges Papier, sondern nur eine Schreibunterlage, ein Stifteköcher und ein kleiner Stapel Zeitschriften. Und die Fotos von Denise.

Und das Telefon.

Zumindest hatte es dort das letzte Mal gestanden, als Maria und Ray-Ray da gewesen waren. Jetzt war es von den Technikern beschlagnahmt worden.

Maria schluckte, als sie an das Telefon mit dem schwarzen Hörer dachte.

Sie hatten nicht erkennen können, dass darauf Blut war, sondern hatten gedacht, es sei Schmutz.

Schmutz.

In einem klinisch sauberen Haushalt.

»Er muss eine Putzhilfe gehabt haben«, sagte Maria. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er alles alleine so sauber gehalten hat. Nicht, wenn man bedenkt, wie alt er war.«

»Das habe ich auch gedacht«, sagte Ray-Ray. »Aber er hatte keinen Pflegedienst, wenn also jemand für ihn geputzt hat, dann muss es eine private Geschichte gewesen sein. Und dann müsste es irgendwo eine Rechnung geben. Es wäre doch interessant zu erfahren, ob bei irgendeiner Putzfirma Hausschlüssel rumliegen.«

Maria richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Ordner im Bücherregal. Einer von ihnen war sehr richtig mit »Rechnungen« bezeichnet. Und nicht nur einer, sah sie dann. Mehrere der Ordner trugen gleichlautende Etiketten, aber mit unterschiedlichen Jahreszahlen. Axel hatte zwar hohe Schulden gehabt, aber sein Ordnungssinn war ohne Frage intakt gewesen.

Maria zog den Ordner des letzten Jahres raus und schlug ihn auf.

Ray-Ray schaute ihr über die Schulter, als sie die Dokumente durchblätterte.

Er roch nach Seife und Deodorant.

Er roch wie Paul.

Maria biss sich auf die Lippen, um nichts zu sagen. Denn was gab es da zu protestieren?

Er muss auch vor dem Oberlandesgericht verurteilt werden, dachte Maria, sonst weiß ich nicht, was ich tun soll.

»Da«, sagte Ray-Ray und hielt sie beim Blättern auf.

Sehr richtig.

Da war die Rechnung von einer Reinigungsfirma.

Wenn Maria richtig las, dann hießt die Firma »Sauberes Zuhause JETZT«. Das klang eher wie eine Aufforderung als ein Angebot.

Ray-Ray fotografierte die Rechnung mit seinem Handy.

»Ich rufe die sofort an«, sagte er und verließ den Raum.