Der Schnee fiel in dicken Flocken vom Himmel und legte sich wie ein wärmender Teppich auf die Straße. Im Laden fiel es August schwer, sich zu konzentrieren. Die Menschen neigten dazu, sich von Geschäften fernzuhalten, wenn es in Strömen goss oder schneite, und dieser Nachmittag war da keine Ausnahme.
Er sank tiefer in seinen Bürostuhl.
Das Treffen mit Emmy ließ ihm keine Ruhe. Ich bin zu einem Pfarrer geworden, dachte er. Ich bin zu so einem Mann geworden, den alte Menschen aufsuchen, um zu beichten.
Das gehörte nicht unbedingt zu den schlechtesten Rollen, die man in einer Gesellschaft spielen konnte, wenn er auch nur im Geringsten an all dem Tratsch interessiert gewesen wäre, an dem er nun teilhatte.
Gerade heute hatte er jedoch etwas erfahren, was ihn berührte. Emmy war auf Marias nächtliche Fahrradtouren von Hovenäset aufmerksam geworden und hatte daraus den korrekten Schluss gezogen, dass August und Maria zusammen waren, aber auch den falschen Schluss, dass sie mit ihrer Beziehung hinterm Berg hielten, weil Maria immer noch mit Paul verheiratet war.
Doch das Wichtigste an Emmys Erzählung hatte überhaupt nichts mit ihm oder Maria zu tun. Da ging es um Gunnar Wide und was er wohl in der Nacht getan hatte, als die Bootshäuser brannten und Axel starb.
August verstand, dass sie beunruhigt war.
Das war er auch, und deswegen hatte er sofort an Maria weitergegeben, was Emmy ihm anvertraut hatte.
Doch Gunnar Wide ein Mörder?
Es fiel ihm schwer, sich das vorzustellen.
Gunnar war ein getriebener Mann, voller Überzeugungen und Prinzipien. Er war sehr auf sich selbst fixiert und dürstete nach Bestätigung, doch das waren Eigenschaften, die man einer Menge Menschen zuschreiben konnte und die nicht automatisch zu Gewalt und Mord führten.
Allerdings hatte August in kurzer Zeit gewisse Erfahrungen gemacht, die seine Wachsamkeit weckten. Als er neu an der Westküste war, hatte er den Vater der ermordeten Lydia Broman kennengelernt. Ein älterer Herr, der nichts anderes als Ruhe und möglicherweise Wehmut ausstrahlte, der aber, wie sich herausstellte, den Mann ermordet hatte, von dem er glaubte, er habe das Leben seiner Tochter ausgelöscht. August hätte nie gedacht, dass dieser alte Mann eine solche Gewalttätigkeit in sich trug. Deswegen hütete er sich jetzt, völlig auszuschließen, dass dies bei Gunnar eventuell auch der Fall sein könnte.
August öffnete seine Mails. Da gab es die üblichen Mitteilungen von verschiedenen Kunden, aber auch eine Nachricht von seiner Versicherungsgesellschaft bezüglich des Bootshauses. Man schrieb ihm, dass sein Fall Priorität habe, man jedoch die polizeiliche Ermittlung abwarten würde, ehe man eine Entscheidung in der Frage der Versicherungssumme treffen würde. Das war offensichtlich Routine, wofür August Verständnis hatte.
Im Stillen konstatierte er jedoch für sich, was das Versicherungsunternehmen deutlich zu schreiben vermieden hatte: Sie wollten erst herausfinden, ob auch er etwas mit der schweren Brandstiftung zu tun habe. Wenn das der Fall wäre, würde er keine Erstattung bekommen.
Selbstverständlich.
In dem Moment ruckelte und drückte jemand geräuschvoll an der Ladentür.
Gunnar Wides hochgewachsene Gestalt war deutlich zu erkennen, als er mit der Klinke kämpfte.
August erstarrte.
Er vermutete, dass die Polizei aufgrund der Information, die er weitergegeben hatte, in Aktion treten würde. Dass sie Gunnar zum Verhör holen und vielleicht sogar festnehmen würde. Warum, das konnte er nicht sagen, denn nur, weil es jetzt eine sechzig Minuten große Lücke in Gunnars Alibi gab, musste die Polizei ihn ja nicht gleich einsperren.
Gunnar drückte noch einmal die Klinke herunter. Er sah aus wie ein ungeduldiges Kindergartenkind.
»Hallo!« Seine Stimme war gedämpft durch die geschlossene Tür zu hören.
August ging hin und öffnete.
»Warum hast du die Tür abgeschlossen?«, fragte Gunnar und machte einen schnellen Schritt in den Laden hinein. »Ich sage dir, da fühlt man sich als Kunde nicht gerade willkommen.«
»Ich habe sie überhaupt nicht abgeschlossen«, entgegnete August. »Die Tür geht nach außen auf.«
»Ich habe mit aller Kraft gezogen«, widersprach Gunnar.
»Nein, du hast gedrückt.«
»Natürlich nicht. Die Tür hat sich absolut nicht bewegt.«
So wie du, dachte August.
Gunnar bürstete den Schnee von seinen Schultern und hustete diskret in die Armbeuge seines Mantels.
»Ich brauche deine Hilfe, Strindberg.«
Schon wieder?, dachte August.
Er beobachtete Gunnar abwartend. Zu Füßen seines Gastes bildete sich rasch eine Pfütze aus geschmolzenem Schnee.
»Wobei?«
Gunnar hob den Blick und sah August an. Er sah zerzaust aus. Sein Blick war nicht scharf wie sonst, sondern wirkte vielmehr besorgt.
»Ich habe es doch nur gut gemeint«, sagte er leise. »Warum ist das für manche so schwer zu begreifen?«
Augusts Mut sank. Was meinte Gunnar damit? Wusste er, dass sich Emmy ihm anvertraut hatte?
Gunnar seufzte.
»Darf ich mich ein Weilchen hinsetzen?«, fragte er und nickte zum Besucherstuhl an Augusts Schreibtisch.
»Natürlich«. August ließ sich ihm gegenüber nieder. Er bemerkte, dass Gunnar immer wieder verstohlen zur Ladentür sah. Man konnte nicht erkennen, ob er Angst hatte, dass jemand kommen und sie stören würde, oder ob er auf jemanden Bestimmtes wartete.
»Die Polizei findet, ich bin zu tüchtig gewesen«, erklärte Gunnar. »Das ist in diesem Land ein verdächtiges Verhalten. Man soll den Ball immer schön flach halten. Das gilt sogar für die Sorge um die eigenen Nachbarn.«
August legte den Kopf schief.
»Die Allermeisten schätzen es, gesehen zu werden«, antwortete er. »Problematisch wird es nur, wenn daraus reine Überwachung wird.«
Gunnar sah gleichermaßen erschrocken wie verärgert aus.
»Was meinst du damit? Habe ich vielleicht irgendeinen Nachbarn überwacht?«
August hob seine Hände.
»Was meinst du denn selbst?«, fragte er. »Ich weiß ja gar nicht, wovon wir hier gerade sprechen.«
Gunnar verzog das Gesicht.
»Die Polizei hat die Sache nicht im Griff«, sagte er. »Das war mir schon klar, als ich genötigt war, ihnen die Spuren im Schnee zu zeigen.«
August kommentierte die Verurteilung der Polizeiarbeit nicht.
Gunnar schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, die Polizei glaubt ernsthaft, ich sei sowohl in den Brand als auch in den Mord verwickelt. Nur weil ich gerne helfe und weil ich es war, der das mit dem Kriechboden herausgefunden hat. Als ob das so verdammt schwer gewesen wäre.«
August lauschte mehr darauf, wie Gunnar sprach, als was er tatsächlich sagte. Aus seiner forcierten Rede war vieles zu erkennen, was man beachten sollte.
Gunnar stand unter Druck.
Er war in der Defensive.
Aber da war noch etwas anderes.
Etwas, das August wachsam werden ließ.
Denn wie großmäulig Gunnar hier auch klang, wirkte er doch auch sachlich. Für ihn ging es lediglich um Feststellungen. Er wies entschlossen auf alles hin, was er aus eigener Kraft zur Ermittlung beigetragen hatte, und meinte, jeder Beliebige hätte diese Entdeckungen machen können.
Doch nicht »jeder Beliebige« hatte all das entdeckt, dachte August, sondern ein und dieselbe Person.
Gunnar sah ihn streng an.
»Jetzt bleibt uns nur noch eine Möglichkeit«, sagte er. »Wir müssen das hier selbst lösen, Strindberg. Du und ich. Wir müssen Axels Mörder finden. Und ich glaube, ich weiß, wo wir anfangen müssen zu suchen.«