Die Uhr tickte. Sie mussten mit dem Verhör vorankommen. Jetzt wollten Maria und Ray-Ray aus einer weiteren Perspektive von Axels Leben hören, jenseits des Bruchs mit dem Sohn.
Ray-Rays Richtungsänderung des Gesprächs war brutal.
»Der Ordnung halber: Wo befanden Sie sich in der Zeit vom 25. bis zum 26. Januar?«
»Das habe ich bereits gesagt. Ich war mit der Kanzlei auf einer Konferenz. Wir wohnten auf dem Bommersviks Konferensgård, ein Stück von Stockholm entfernt.«
Natürlich hatten sie das Alibi von Elias überprüft. Kollegen von der Stockholmer Polizei waren in Kontakt mit der Rechtsanwaltskanzlei getreten, die bestätigt hatten, dass Elias an der gesamten Konferenz teilgenommen hatte. Das musste nicht heißen, dass er nicht der Anstifter des Verbrechens gewesen sein könnte, doch momentan deutete nichts darauf hin. Weder Maria noch Ray-Ray betrachteten Elias als Verdächtigen in der Ermittlung, aber als einen wichtigen Informanten.
Maria holte zwei Bilder heraus. Das eine stellte die junge Mary Thynell dar und das andere Lydia Broman. Sie hatten die Fotos von zwei Standbildern aus dem Film, den Axel aufgenommen hatte, abfotografieren lassen.
»Erkennen Sie eine dieser Frauen?«, fragte sie.
Elias sah ein Bild nach dem anderen an.
»Das hier ist Mary Thynell, und das da muss Lydia Broman sein.«
Er zeigte auf die jeweiligen Bilder.
»Korrekt«, erwiderte Maria. »Wissen Sie, wer die Fotos gemacht hat?«
»Keine Ahnung.«
»Sie haben sie noch nie gesehen?«
»Nein.«
»Wir haben Grund zu der Annahme, dass Ihr Vater sie gemacht hat«, erklärte Ray-Ray.
Elias sah ihn fragend an.
»Okay, und?«
»Haben Sie eine Theorie, warum er das getan haben könnte?«
Elias schüttelte bedächtig den Kopf.
»Nein, aber Papa fotografierte sehr gern. Und er filmte auch. Als ich klein war, hatte er so eine Super-8-Kamera. Er war gut. Ich kann mir vorstellen, dass Mary darum gebeten hat, von ihm fotografiert zu werden. Aber was Lydia angeht, weiß ich das nicht. Sie sieht so jung aus auf dem Bild.«
Ray-Ray fuhr sich durchs Haar.
»Wir haben ein Problem in der Ermittlung«, sagte er. »Wir wissen, dass in der Nacht, als Axel starb, jemand bei ihm war. Nun ist es unsere Schuldigkeit herauszufinden, wer das war und warum diese Person nicht den Notruf gewählt, sondern Axel liegen gelassen hat. Wir wissen, dass Sie und Ihr Vater, als er starb, über mehrere Jahre keinen Kontakt gehabt hatten. Trotzdem denke ich immer noch, dass Sie ihn verdammt viel besser gekannt haben müssen als die meisten anderen.«
Ray-Ray machte eine Pause und hielt das Bild von Mary hoch.
»Könnten Ihr Vater und Mary, als sie beide jung waren, ein Verhältnis gehabt haben?«
Elias lachte kurz auf, wurde aber bald wieder ernst.
»Mein Gott, haben Sie Mary in Verdacht? Sie muss ja hundert Jahre alt sein und …«
»Ganz so alt ist sie nicht, und ich habe nicht gesagt, dass wir sie verdächtigen«, entgegnete Ray-Ray.
»Aber antworten Sie doch bitte auf meine Frage.«
Elias schüttelte den Kopf.
»Natürlich weiß ich nicht alles über meinen Vater«, sagte er. »Aber er und Mary … nein, davon habe ich noch nie gehört. Ich weiß, dass sie hier auf Hovenäset zum selben Kreis gehörten – sowohl als wir nur Sommergäste waren, als auch später, als wir auf Dauer hier wohnten – aber das ist auch alles. Mein Vater hat meine Mutter über alles geliebt. Es fällt mir ungeheuer schwer zu glauben, dass er sie betrogen haben könnte.«
»Ihre Mutter ist hier in Schweden nicht immer gut behandelt worden«, sagte Maria. »Erinnern Sie sich daran?«
»Ja, natürlich. Manche begegneten auch mir mit Misstrauen. Einige nannten mich Affe, und andere sagten das N-Wort. Aber … das waren ja nur einige wenige. Rassistische Idioten gab es überall, und heute ist es auch noch so. Im Ernst, glauben Sie, man kann so dunkelhäutig sein wie ich, ohne abfällige Bemerkungen zu kassieren? Vergessen Sie es.«
»Sie sind 1980 nach Chicago gezogen und kamen erst 1990 zurück«, sagte Maria. »Wissen Sie, warum Ihre Eltern sich entschieden, wieder hierherzuziehen?«
»Ich war damals so klein«, erklärte Elias. »Aber ich habe es so verstanden, dass Papa wirklich Sehnsucht nach Hause hatte. Außerdem waren meine Großeltern mütterlicherseits beide gestorben. Mama hatte niemanden, der sie noch in Chicago hielt.«
»Wissen Sie denn, ob es ein besonderes Ereignis war, was sie ursprünglich veranlasste, in die USA zu ziehen?«, erkundigte sich Ray-Ray.
»Nein«, sagte Elias. »Ich glaube, es war einfach alles … zu viel geworden. Und dann fiel es ihnen so furchtbar schwer, Kinder zu bekommen. Mama glaubte, ein Neustart in den USA würde die Situation verändern. Vielleicht hatte sie recht, denn da bin ich ja sowohl gezeugt als auch geboren worden.«
Das Gespräch über das zehnjährige Exil der Familie Ehnbom in den USA veranlasste Maria, ein Bild von dem anonymen Mädchen herauszuholen, das während der Jahre, in denen Axel in den USA lebte, einmal jährlich fotografiert worden war.
»Was ist mit diesem kleinen Mädchen?«, fragte Maria und zeigte Elias das Bild. »Kennen Sie es?«
Wieder schüttelte Elias den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Leider. Wissen Sie, wer es ist?«
»Noch nicht«, sagte Maria. »Es ist nicht zufällig eine Klassenkameradin von Ihnen?«
»Eine Klassenkameradin? Nein.«
Ray-Ray zeigte auf das Bild von Lydia Broman.
»Haben Sie jemals darüber nachgedacht, ob Ihr Vater etwas mit dem Mord an Lydia zu tun haben könnte?«
Elias sah entsetzt aus.
»Wie bitte?«
Ray-Ray beobachtete ihn, ohne die Frage zu wiederholen.
»Nein«, antwortete Elias dann, und jetzt sah er müde aus. »Nein, darüber habe ich niemals nachgedacht.«
»Wissen Sie, ob es solche Gerüchte gegeben hat? Ich meine, die Leute können sich ja alles Mögliche ausdenken.«
»Nein, ich habe niemals von irgendwelchen Gerüchten gehört, dass Papa etwas mit Lydias Tod zu tun haben könnte.«
Elias sah immer noch schockiert aus.
»Wissen Sie, ob er irgendwelche Feinde hatte?«, fragte Maria.
Elias seufzte und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, als wolle er all die schrecklichen Fragen wegwischen.
»Nein«, entgegnete er. »Zumindest niemanden, der ihn totschlagen wollte.«
Ray-Ray hob einen warnenden Zeigefinger.
»Das war nicht die Frage. Die lautete, ob Axel irgendwelche Feinde hatte.«
Elias zuckte ergeben mit den Achseln.
»Woher soll ich wissen, mit wem Papa Streit hatte?«, fragte er. »Ich habe sechs Jahre lang keinen Einblick in sein Leben gehabt. Neue Konflikte können dazugekommen und andere verschwunden sein.«
Maria suchte seinen Blick.
»Sie sind sehr darauf bedacht, niemandem zu schaden, und das ehrt Sie wirklich«, sagte sie. »Aber eine Tatsache bleibt: Irgendjemand muss Ihrem Vater Böses gewollt haben. Wer, Elias? Wer könnte das gewesen sein?«
Elias saß lange schweigend da.
»Wissen Sie, ob Ihr Vater irgendwelche Drohungen erhalten hat?«
»Nein, davon habe ich jedenfalls nicht gehört. Aber …«
Elias streckte eine Hand aus und zog das Foto von Mary zu sich.
»Sie haben gefragt, ob Papa ein Verhältnis mit Mary gehabt hat, und ich habe Nein gesagt. Aber ich weiß, dass von Mary und einem Mann namens Gunnar Wide gemunkelt wurde, obwohl beide damals verheiratet waren.«
Maria hoffte, dass man nicht erkennen könnte, wie interessant sie und Ray-Ray das fanden, was Elias jetzt erzählte.
Gunnar Wide.
Da war er wieder.
»Was hatte Ihr Vater mit Marys und Gunnars Privatleben zu schaffen?«, fragte Ray-Ray.
»Papa hat das niemals zu mir gesagt, aber ich wusste es trotzdem. Der Tratsch ging ja herum und … ach, ich kann das genauso gut sagen, denn sonst tut es sowieso jemand anders. Ebendieser Gunnar war einer von denen, die sich am allerschlimmsten meiner Mutter gegenüber verhielten. Er konnte unglaublich gemein und herablassend zu ihr sein. Das allerdings nur vor anderen. Es hieß, er würde alle diese idiotischen Sachen nur sagen, um zu verbergen, was er eigentlich dachte und empfand.«
»Und das wäre?«, fragte Ray-Ray.
»Dass er in Mama verliebt war.«
Maria hob den Blick.
»Was sagen Sie da?«
»Ich sage, dass Papa diesen Gunnar Wide überhaupt nicht leiden konnte. Er fand, der würde wie eine Dampfwalze über alle Frauen auf Näset rollen. Aber nun ist ja nicht Gunnar tot, sondern Papa, und ich weiß nicht, was umgekehrt Gunnar von Papa hielt. Das müssen Sie jemand anders fragen. Zum Beispiel Gunnar.«
»Da können Sie aber sicher sein, dass wir das tun werden«, sagte Maria.
In dem Moment pfiff Ray-Rays Handy laut.
Elias starrte ihn an.
»Entschuldigen Sie, den Klingelton haben meine Kinder ausgesucht«, erklärte Ray-Ray.
Er wühlte das Handy aus der Hosentasche und las auf dem Display.
Ohne ein Wort zu sagen, reichte er dann das Handy zu Maria rüber. Sie las die kurze SMS von Roland:
Die von der Personenüberwachung haben eben angerufen. Gunnar Wide ist von der Krankengymnastik abgehauen, und jetzt wissen wir nicht, wo er sich befindet.