Laut August Strindbergs Mutter gab es zwar die berühmten schwedischen »sieben Sorten Kekse«, aber nur eine Sorte Unglück, die zählte.
»Einsamkeit«, pflegte sie zu August zu sagen. »Der Mensch ist nicht dafür gemacht, sich ohne andere zu behaupten. Geld, Güter, Haus und luxuriöses Essen – alles das ist ein wichtiges Gewürz im Leben, aber nichts, was man nicht ersetzen könnte. Merk dir das. Einsamkeit in allen ihren Formen ist das schlimmste aller Unglücke.«
Möglicherweise, dachte August, der just an diesem Abend ein großes Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung verspürte und sich deswegen hinstellte und Mandelkekse buk.
Es hatte seine Zeit gedauert, ehe er begriffen hatte, wovon seine Mutter da sprach. Sie meinte die unfreiwillige Einsamkeit, die folgte, wenn ein geliebter Mensch gestorben war, wegzog, in den Krieg gerufen wurde oder etwas anderes passierte, was dazu führte, dass sich Menschen trennen mussten.
Einmal hatte er versucht, mit ihr dagegen zu argumentieren.
»Ich weiß nicht, ob ich deiner Meinung bin«, hatte er gesagt. »Jemand, der Krebs bekommt, mit einer richtig schlechten Prognose, der würde wahrscheinlich gerne die Krankheit gegen die Einsamkeit tauschen.«
»Begreifst du denn nicht, dass jemand, der so krank ist, bereits sehr einsam ist?«, hatte seine Mutter gesagt. »Da ist nichts mehr, was man wegtauschen könnte, da gibt es keinen Ausweg mehr. Gewiss, man kann jemanden unterstützen, der sich dem Ende des Lebens weitaus früher nähert, als man für gerecht hält, doch niemand kann dem Tod entfliehen, August. Und wenn wir sterben, dann sind wir einsam.«
Niemand kann dem Tod entfliehen.
An diese Worte hatte er viel denken müssen, als seine Eltern mit nur einem Tag Abstand starben. Erst seine Mutter und dann sein Vater. Die letzte Begegnung mit ihm hatte August fürs Leben gezeichnet. Er hatte so bodenlos verzweifelt ausgesehen. Und er hatte die traurigsten Worte geäußert, die August jemals gehört hatte:
»Was soll ich jetzt tun? Ich bin doch nichts ohne sie. Ich kann nichts.«
August war überzeugt davon, dass sein Vater aus Verzweiflung gestorben war. Er konnte nicht ertragen, dass seine Frau dem Tod allein hatte entgegentreten müssen. Sein Herz konnte nicht mehr schlagen und blieb stehen, nachdem sie gestorben war.
August schluckte und spürte den Kloß im Hals.
Die Trauer um die Eltern war ein wenig verblasst, aber trotzdem war noch nicht einmal ein Jahr vergangen, seit sie gestorben waren.
August starrte auf den Keksteig.
Seine Mutter hatte sein Interesse für das Backen geweckt. Schon als er noch so klein war, dass er auf einem Stuhl stehen musste, um an die Arbeitsfläche zu reichen, hatte sie ihn dabeigehabt, wenn sie Torten und anderes Backwerk zubereitete. Jetzt war August erwachsen und buk seine Kekse allein. Ohne seine Mutter und ohne ein kleines Kind, das zu klein war, um an die Teigschüssel in der Küche zu kommen. Niemand von ihnen hätte gedacht, dass August als Erwachsener das Backen als die einzige Form der Meditation betrachten würde, der er sich je hingab.
Er befühlte den Teig. Er war genau richtig klebrig. Jetzt fehlten nur noch die gehackten Mandeln. Und Maria.
Er schaute auf die Uhr.
Sie hatte gesagt, dass es spät werden würde, hatte aber versprochen zu kommen.
Das machte ihn froh.
Und mehr als das.
Der Gedanke, dass sie heute Abend wieder im selben Bett schlafen würden, machte ihn glücklich. Einschlafen und aufwachen. Ein gigantischer Schritt in die richtige Richtung.
Weniger aufregend war, an Gunnar Wides bizarre Ausführungen im Laden zu denken. Dass Axel und Mary ein Verhältnis gehabt haben sollten und dass sich doch jemand Mary Thynells »durchgeknallte Tochter« mal näher ansehen sollte. Als ob August Polizist wäre. Und als ob es Gunnar und August etwas anginge, wer auf Hovenäset in wen verliebt war.
August holte ein Blech und Backpapier heraus.
Es war nicht sonderlich dramatisch abgegangen, als die Polizei kam und Gunnar abholte. Er war freiwillig mitgegangen und hatte fast ein wenig erfreut ausgesehen. August schaute ab und zu, was die Zeitungen schrieben. Axels Fall hatte eine gewisse Aufmerksamkeit in der Presse auf sich gezogen, es gab also Grund zu der Annahme, dass darüber geschrieben würde, wenn der Polizei ein Durchbruch in der Ermittlung gelang. Doch bisher war nichts von Gunnar zu lesen.
Auf der Straße fuhr ein Auto vorbei.
Automatisch hob August den Blick, um zu sehen, wer es war.
Dann lachte er leise über sich selbst.
Das war der große Nachteil daran, in einem kleinen Ort zu wohnen. Manchmal passierte so wenig, dass man schon elektrisiert war, wenn ein Nachbar draußen auf der Straße vorbeikam – sei es mit oder ohne Auto.
»Dass jemand wie du das hier toll finden kann«, hatte Henrik bei seinem ersten Besuch auf Hovenäset gesagt.
August lächelte und stellte den Teig in den Kühlschrank, wo er jetzt eine Weile ruhen würde, ehe er gebacken wurde.
Er stellte den Ofen an und schaute auf die Uhr. Dann wanderte sein Blick zum Küchentisch. Da lagen die zehn Fotografien von dem Mädchen, das immer noch nicht identifiziert worden war. Maria hatte gesagt, die Polizei wolle die Originale haben und würde sie dann behalten, solange die Ermittlung lief.
August war das nur recht.
Er hatte sich entschieden. Natürlich würde er nicht versuchen, irgendetwas von dem, was in dem Karton gelegen hatte, zu verkaufen, sondern sowie die Polizei damit fertig war die Gegenstände und den Film an Axels Sohn übergeben. Dann sollte Elias bestimmen, was damit geschah.
August hatte Elias noch nicht getroffen, hoffte aber, dass sein Besuch auf Hovenäset nicht allzu anstrengend gewesen war. Das Schlimmste wäre, wenn er zufällig auf Gunnar stoßen würde, solange der nicht bei der Polizei blieb. Gunnar, der bewaffnet war und verschiedene Personen als verdächtig bezeichnete. Wie zum Beispiel Mary Thynells Tochter.
Ein unangenehmer Geruch riss August aus seinen Überlegungen.
Es roch verbrannt.
Sehr verbrannt sogar.
»Verdammter Mist«, fluchte August.
Er hatte vergessen, dass das Kartoffelgratin, was er am Abend zuvor im Ofen gehabt hatte, sich am Boden des Backofens eingebrannt hatte. Jetzt, da der Ofen erneut angeheizt wurde, roch es ziemlich übel.
Das wurde kein bisschen besser, als August die Backofenklappe öffnete und der Rauch ins Zimmer quoll, sodass der Rauchmelder losging.
Sofort machte August die Klappe wieder zu und wedelte mit einem Handtuch unter dem Rauchmelder, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Da klopfte es an der Tür.
August beeilte sich zu öffnen.
Hier gab es keine Zeit zu verschwenden, falls ein Nachbar auf der Treppe stand und fragte, was er da eigentlich machte.
Von Bränden hatten jetzt alle genug.
Doch es war überhaupt kein Nachbar, der da klopfte.
Es war Ola.
»Hallo«, sagte August erstaunt.
Hinter ihm lärmte weiterhin der Rauchmelder. Ola wand sich und sah aus, als würde er bereits bereuen, geklopft zu haben.
»Ja, ich war auf dem Weg zum Auto, weil ich kurz zu Hause bei meiner Mutter vorbei bin, aber dann habe ich den Rauchmelder gehört und dachte … brauchst du Hilfe? Brennt es?«
»Äh, nein, es brennt nicht«, erklärte August. »Aber ich verstehe die Frage. Warte kurz, ich will nur eben …«
Er eilte zurück in die Küche. Doch Ola wartete nicht.
Er folgte August und zog einen Küchenstuhl raus, auf den er kletterte, sodass er den Rauchmelder von der Decke pflücken konnte.
»Sieh da«, sagte er. »Jetzt bleibt er mal ausgeschaltet, bist du fertig gelüftet hast. Dann darfst du aber nicht vergessen, ihn wieder einzusetzen.«
Er reichte August den Rauchmelder und stellte den Stuhl zurück.
»Danke«, sagte der. »Ich dachte, es würde genügen, ein bisschen mit dem Handtuch zu wedeln, aber …«
Er unterbrach sich, als ihm einfiel, dass er nicht auf Olas SMS zu einem gemeinsamen Bier geantwortet hatte.
»Genau«, sagte er. »Du hast dich ja gemeldet, ob wir irgendwann mal ein Feierabendbier zusammen nehmen wollen. Entschuldige, dass ich nicht geantwortet habe, ich …«
»Kein Problem. Ich verstehe schon. Und jetzt muss ich gehen. Ich …«
Er hielt inne.
»Wo hast du die denn her?«, fragte er.
Ola zeigte auf die Fotografien, die auf Augusts Küchentisch lagen.
»Die habe ich von einem Kunden bekommen«, antwortete August ausweichend.
»Von einem Kunden? Von wem denn?«
»Das spielt keine Rolle. Ich werde sie nicht behalten. Es war eine Art Missverständnis. Warum fragst du? Erkennst du sie?«
Ola nickte.
»Wer ist es denn?«, fragte August vorsichtig.
Ola blätterte die Bilder durch.
»Das ist meine Schwester Patricia.«