»Ihr habt sie doch nicht alle. Fallt über ehrenhafte Menschen wie mich her und lasst die Gangster davonkommen. Ganz schlimm, das.«
Gunnar sah Maria und Ray-Ray misstrauisch an. Sie befanden sich in einem der Verhörräume auf dem Polizeirevier in Uddevalla. Neben Gunnar saß ein Rechtsanwalt. Es war spät am Abend, und Maria wollte nach Hause. Nach Hause zu August.
»Sie müssen schon verstehen, wie das aus unserer Perspektive aussieht«, gab Ray-Ray zu bedenken.
Seine Stimme klang verärgert und ungeduldig. Er wollte auch nach Hause. Und ebenso wie sie schämte er sich, weil die Personenüberwacher Gunnar schon beim Verlassen seines Physiotherapeuten aus den Augen verloren hatten, und das nur, weil er seine Jacke getauscht oder besser gesagt: eine andere geklaut hatte.
»Sie haben den Brand entdeckt. Sie waren es, der sich am meisten und am lautesten um Axel gesorgt hat. Sie waren es, der einen Konflikt mit ihm und seiner Frau hatte. Und jetzt haben wir erfahren, dass es in Ihrem Alibi eine Lücke gibt, über die Sie gelogen haben. Was denken Sie, sollen wir da glauben, Gunnar?«
Gunnar zitterte, als Ray-Ray das fehlende Alibi erwähnte. Dass Emmy von der Lücke in seinem Alibi erzählt hatte, war der Teil, auf den er am stärksten reagiert hatte.
Als er das hörte, erlosch irgendetwas in seinem Blick.
»Erzählen Sie jetzt, was Sie in dieser Stunde, in der Sie Emmy allein gelassen haben, gemacht haben«, forderte Ray-Ray ihn auf.
Gunnar lehnte sich auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Ihr habt nicht genug, um mich hier festzuhalten«, sagte er. »Deswegen wollen Sie, dass ich eine Geschichte zusammenlüge, auf die Sie mich festnageln können.«
»Das will ich absolut nicht«, erwiderte Ray-Ray. »Alles was ich will, ist zu hören, was Sie in dieser Stunde gemacht haben.«
Gunnars Anwalt suchte seinen Blick, doch es gelang ihm nicht, die Aufmerksamkeit seines Klienten zu erlangen. Für Gunnar war das hier ein Einzelkämpfer-Krieg und nichts anderes.
»Ich bin nach Hause zu meiner Frau Lisa gegangen. Sie ist krank und braucht Fürsorge. Das ist nichts, worauf ich stolz bin – dass ich sie betrüge –, aber so ist es nun mal. Oder so war es. Ich bin nach Hause zu Lisa gegangen und habe nach ihr geschaut. Sie war unruhig und schlief nicht richtig. Also war ich gezwungen zu warten, bis sie wieder eingeschlafen war, ehe ich zurück zu Emmy bin.«
»Und warum haben Sie das getan?«, fragte Maria. »Ich meine, warum sind Sie zurückgegangen? Es war sehr spät, und Sie hatten sowieso nicht vor die ganze Nacht zu bleiben.«
Gunnars Augen wurden zu schmalen Strichen, als er Maria ansah.
»Ich bin ja wohl kaum der Einzige, der mitten in der Nacht sein Rendezvous verlässt«, sagte er. »Das hat Emmy mir erzählt.«
Maria wurde rot.
»Stopp«, sagte Ray-Ray und hielt die Hand hoch. »Jetzt sprechen wir gerade von Ihnen, Gunnar.«
»Das ist mir klar, ich versuche nur, die Dinge in die richtige Perspektive zu setzen. Es muss keineswegs verdächtig sein, dass ich mitten in der Nacht nach Hause gehe.«
Er verstummte.
Maria las ihre Notizen, kriegte aber keine Ordnung in ihre Gedanken. Sie spürte, dass Ray-Ray sie ansah – er wollte wissen, ob sie okay war. Sie nickte kurz und diskret und hoffte, er würde sich damit zufrieden geben.
Dann sammelte sie sich. »Wir haben erfahren, dass Sie Streit mit Axel hatten. Stimmt das?«
Gunnar verzog nur das Gesicht.
»Ein Zeuge hat erzählt, Sie hätten Probleme mit Axels Frau Denise gehabt und hätten sie rassistisch beleidigt, während Sie gleichzeitig versuchten, eine Beziehung mit ihr zu beginnen. Können Sie das kommentieren?«
»Das liegt alles sehr lange zurück«, sagte Gunnar. »Ich weiß, dass ich mich Denise gegenüber schlecht verhalten habe, und es passiert immer noch, dass … dass ich mich falsch ausdrücke. Und vielleicht bin ich ihr irgendwann mal begegnet, als ich nicht ganz nüchtern war, dann kann es den meisten von uns passieren, dass sie sich übel benehmen. Aber …«
»Alkohol entschuldigt sehr wenig«, bemerkte Ray-Ray trocken.
»Das weiß ich«, sagte Gunnar, und jetzt zitterte seine Stimme. »Und ich weiß auch, dass ich mich getäuscht habe, was Denise betraf. Ich habe es noch geschafft, sie um Entschuldigung zu bitten, ehe sie starb, und dafür bin ich sehr dankbar. Denn Sie müssen wissen, sie … sie hat einmal meinem Sohn das Leben gerettet. Er war damals Student und wie ein Verrückter von einem Fest mit dem Moped nach Hause gefahren. Betrunken. Eigentlich war er ja zu alt, um Moped zu fahren, aber das Auto durfte er natürlich nicht nehmen, und ich habe nicht bemerkt, wie er das Moped aus der Garage geholt hat. Denise war es, die ihn im Straßengraben gefunden und den Notarzt gerufen hat. Dieses Ereignis hat für mich sehr viel verändert. Und es hat auch meine Beziehung zu Axel verändert. Keiner von beiden hat je über die Sache getratscht.«
Im Raum wurde es still.
Diese Geschichte hatten sie noch nicht gehört.
Gleichzeitig hatte Maria das sichere Gefühl, dass sie stimmte. Gunnar würde sich so etwas nicht ausdenken, und sie könnten das überprüfen.
Die Frage war nur, wie es um alles andere stand.
Denn wie Gunnar sich zu den Ereignissen der letzten Tage verhalten hatte, war immer noch mit vielen Fragezeichen versehen.
Die Klimaanlage summte und rauschte. Sie sollte die Räumlichkeiten im Winter warmhalten, doch Maria fror.
»Wir wissen weniger, als wir uns wünschen«, sagte sie. »Das hören wir jetzt, wenn Sie erzählen. Was haben wir also noch verpasst? Denn ich glaube, dass auch Sie sehen können, dass Ihre eigene Verwicklung in all das, was geschehen ist, ein wenig auffällig wirkt.«
Gunnar warf den Kopf in den Nacken.
»Es ist nicht meine Aufgabe, die Arbeit der Polizei zu erledigen. Aber gewiss, wenn Sie mich fragen, dann würde ich sagen, dass Sie eine völlig falsche Spur verfolgen.«
Maria erinnerte sich, was sie Gunnar zu August hatte sagen hören. Etwas davon, dass er sich Mary Thynells Tochter näher ansehen sollte.
»Als Sie bei August Strindberg waren, haben Sie eine Person erwähnt«, sagte sie. »Mary Thynells Tochter. Was halten Sie von ihr?«
Gunnar spannte die Kiefer an.
»Wie gesagt, nicht meine Sache, euch zu helfen. Ich weiß nur, dass sie vor einiger Zeit nach Kungshamn gezogen ist und es bereits geschafft hat, bei der Arbeit rausgeschmissen zu werden. So etwas macht schnell die Runde, vor allem, wenn man so viel lügt wie sie.«
»Und ihre Mutter?«, fragte Maria und dachte an das, was Elias über Gunnar und Mary gesagt hatte. »Was für eine Beziehung haben Sie zu ihr?«
»Zu Mary?«
»Ja.«
»Überhaupt keine. Oder ich meine, wir haben nichts miteinander zu tun oder so.«
»Haben Sie ein Verhältnis gehabt?«
Gundel lachte auf.
»Ihr seid doch total wahnsinnig«, sagte er. »Nein, nein und noch mal nein. Hingegen hatten Axel und Mary ein Verhältnis, aber ich nehme an, das wissen Sie bereits, oder?«
Maria rührte keine Miene und Ray-Ray ebenso wenig.
Vor sich sah Maria, wie eine jüngere Mary mit Axel scherzte, als er sie filmte.
Natürlich waren die beiden ein Paar gewesen. Dass sie daran jemals hatten zweifeln können.
Gunnar nickte vor sich hin.
»Doch«, sagte er. »So war es. Sie waren ineinander verliebt, das habe ich selbst einmal gesehen.«
»Was haben Sie gesehen?«, fragte Ray-Ray.
»Dass sie sich geküsst haben.«
Gunnar sah ungefähr fünf Sekunden lang zufrieden aus, dann verfinsterte sich seine Miene wieder.
»Aber dass ich und Mary … wer hat etwas so Dummes gesagt?«
Ray-Ray trommelte leicht mit einem Stift auf den Tisch.
»Die Leute reden so viel«, sagte er. »Und das tun Sie auch, Gunnar. Zum Beispiel über Lydia Broman. Offensichtlich haben Sie auch in dem Fall Polizist gespielt.«
»Polizist gespielt, pfui Teufel, wie unverschämt.«
»Bedaure«, gab Ray-Ray zurück, »aber so wird es nun mal aufgefasst, wenn jemand sich privater Detektivarbeit hingibt. Wissen Sie, ob Axel an dem Fall auch interessiert war?«
Gunnars Augen wurden zu schmalen Schlitzen.
»Nein«, antwortete er kurz.
Maria sah auf.
»Das kam schnell«, sagte sie.
Gunnar schwieg.
»Kannten Axel und Lydia einander?«
Im Raum wurde es mucksmäuschenstill.
Maria und Ray-Ray warteten geduldig. Obwohl es so wichtig war, hatten sie immer noch nichts von den Kollegen gehört, die kontrollieren sollten, ob Axel und Gunnar in der Ermittlung des Mordes an Lydia Broman vorkamen.
Schließlich sagte Gunnar:
»Alle kannten Lydia und ihren Ehemann. Als sie starb, wohnten sie schon mehrere Jahre auf Hovenäset. Und fast keiner von uns glaubt, dass Sie den richtigen Mörder gefunden haben.«
»Was glaubte Axel?«, fragte Maria.
»Das ist eine sehr interessante Frage, aber es gibt noch eine, die viel interessanter ist«, sagte Gunnar. »Haben Ihre Kollegen ausreichend sorgfältig untersucht, womit Axel an dem Tag, als Lydia starb, beschäftigt war? Das würde ich nur zu gerne wissen.«
»Reden Sie Klartext«, ermahnte ihn Ray-Ray.
»Ich sage nur, dass es Gründe geben könnte, sich noch mal anzusehen, was Axel an dem Tag gemacht hat. Aber beeilen Sie sich. Denn die Zeit wird langsam knapp …«
Dann lehnte er sich wieder demonstrativ auf seinem Stuhl zurück und schloss die Augen.
Ray-Ray erhob sich.
»Wir müssen eine Pause machen«, sagte er. »Maria, komm mal mit.«
»Er ist es nicht«, sagte Maria.
Sie und Ray-Ray standen im Flur vor dem Verhörraum des Polizeireviers. Der Pappbecher mit Kaffee in ihrer Hand war heiß.
»Das können wir nicht sicher wissen«, widersprach Ray-Ray.
»Nein, aber …«
Maria verstummte. Sie konnte nicht erklären, warum sie so dachte. Und sie konnte auch nicht erklären, warum es sich so anfühlte, als würde ihnen die Zeit viel zu schnell davonlaufen. Gunnar war nicht der Mörder, den sie suchten. Aber könnte er der Erpresser gewesen sein?
»Gibt es außer Gunnar noch jemanden, der die Frage angesprochen hat, was Axel an dem Tag gemacht hat, als Lydia ermordet wurde?«, fragte Maria.
»Nein«, antwortete Ray-Ray. »Und das stört mich, denn wir haben ja bereits eine Theorie etabliert, dass Axel wegen etwas, was mit Lydias Tod zu tun hatte, erpresst wurde.«
Maria biss sich auf die Lippe.
»So wie es jetzt aussieht, haben wir längst nicht genug, um ihn wegen Verdachts auf Erpressung festzuhalten«, wandte sie ein.
Ray-Ray lehnte sich an die Wand.
»In der Sache ist die Staatsanwaltschaft ganz sicher auf deiner Seite«, bemerkte er.
Maria nickte stumm. Sie mussten Gunnar laufen lassen. Und wenn er das erfuhr, würde er seine eigene Ermittlung weiterführen, entweder, um sich selbst reinzuwaschen, oder, um einen anderen ins Gefängnis zu bringen. Oder beides.
Dass es aber auch überhaupt nicht vorwärtsging.
»Axel und Lydia«, sagte Ray-Ray. »Kann in dieser Anschuldigung, oder wie wird das nun nennen sollen, auch nur das kleinste Körnchen Wahrheit liegen?«
»Das frage ich mich auch«, erwiderte Maria. »Ich würde sehr gerne mit jemandem sprechen, der wenigstens entfernt mit dem Stückelmord zu tun hatte. Ich hoffe, Roland wird uns bald den Namen eines Ermittlers nennen.«
Ray-Ray sah frustriert aus.
»Okay«, sagte er. »Eine andere Sache, die Gunnar uns auf den Tisch geschmissen hat: Axel und Mary Thynell.«
»Ich glaube nicht, dass Gunnar lügt. Er hat bestimmt gesehen, wie sie sich küssten.«
»Und warum hat dann Mary über ihre Beziehung zu Axel gelogen?«
»Aus Scham«, sagte Maria. »Und weil sie glaubte, dass sie damit durchkommen würde. Das ist sicher Ewigkeiten her, seit sie zusammen gewesen sind.«
Bei allem Ernst musste sie doch lächeln.
»Mal im Ernst, Ray-Ray. Du und ich, wir haben doch Marys Gesicht genau gesehen, als wir nach dem Film gefragt haben. Sie war weitaus mehr verliebt in Axel, als sie zuzugeben bereit war.«
»Okay«, sagte Ray-Ray. »Du hast ganz recht. Mary war in Axel verliebt. Aber jetzt müssen wir taktisch denken. Ich glaube, wir sollten Mary noch einmal verhören. Ich weiß nicht richtig, ob wir uns in diese Sache mit ihrer Tochter weiter vertiefen sollen, aber wir müssen definitiv mit ihr über ihre Beziehung zu Axel sprechen. Wir …«
Marias Handy vibrierte diskret, und Ray-Ray verstummte, als sie es herausholte.
»Von August«, sagte sie. »Er muss warten.«
Aber dann sah sie die kurze Mitteilung, die er geschickt hatte.
Ich weiß, wer das Mädchen auf den zehn Bildern ist.
Es ist Mary Thynells Tochter Patricia.
Marias Puls stieg.
»Das ist doch der Hammer«, sagte sie leise und zeigte Ray-Ray die Nachricht.
»Wie zum Teufel hat er das herausbekommen?«
Da hörte man entschlossene Schritte sich nähern.
Roland kam wütend vom anderen Ende des Flures her, wo der Fahrstuhl war.
»Warum geht ihr nicht ran, wenn ich anrufe?«, schimpfte er.
Maria schrak zurück. Wann hatte sie Roland das letzte Mal so brüllen hören?
Noch nie, dachte sie. So hat er noch nie geklungen.
Und dann, im nächsten Moment, begriff sie, was so fremd und ungewöhnlich war. Er sah erschrocken aus. Und ängstlich.
»Was ist passiert?«, fragte Maria.
Roland wirkte unsicher und schien nicht zu wissen, wie er seine Nachricht am besten überbringen konnte. Als er sie ansah, war sein Blick nervös.
»Maria, es gibt etwas, was du wissen musst.«
Ihr Magen krampfte sich sofort zusammen.
»Es geht um Paul. Er hat im Gefängnis eine Geisel genommen und ist ausgebrochen.«