Als sie die Tür zum Wohnwagen aufschlug, roch es dort schwach nach Schweiß und noch etwas anderem, was Maria nicht einordnen konnte. Ray-Ray saß mit dem Laptop vorm Bauch auf dem Sofa und hatte die Beine ausgestreckt.

»Hallöchen, wie geht es dir?«, fragte er.

Er sah Maria besorgt an.

»Danke, ganz okay.«

»Hast du heute Nacht geschlafen?«

»Sehr wenig.«

»Sie werden ihn kriegen, Maria. Er wird sich nicht verstecken können.«

Sie goss sich eine Tasse Kaffee ein und verspritzte versehentlich etwas auf ihre Hand. Die heiße Flüssigkeit brannte auf der Haut.

»Verdammter Mist.«

Ray-Ray beobachtete sie, als sie sich hinsetzte.

»Sorry, dass ich nicht gefragt habe, ob du auch welchen willst«, sagte sie. »Aber wie du siehst, kann ich mir kaum selbst was eingießen.«

Der feste Stoff des Sofas schabte auf der Jeans, die sie anhatte. Einmal war Paul zum Wohnwagen gekommen, hatte sie bedroht und geschlagen. Das hatte für Maria das Fass zum Überlaufen gebracht und war ein Wendepunkt gewesen, denn sie hatte ernsthaft geglaubt, eine unausgesprochene Übereinkunft mit ihm zu haben, dass sie in Ruhe arbeiten dürfe und er sich von ihrem Arbeitsplatz fernhalten würde. Das war, wie sich gezeigt hatte, nicht der Fall gewesen.

Es gab keinen Ort, an dem Maria damit rechnen konnte, in Ruhe gelassen zu werden.

Paul ließ keine Gelegenheit aus, sie zu kränken.

Sie schloss die Hände um den Kaffeebecher, und gleichzeitig wurde ihr klar, welchen Geruch sie im Wohnwagen nicht hatte identifizieren können.

Schlaf, dachte sie. Es riecht nach Schlaf.

Ray-Ray musste dort übernachtet haben. Warum wusste sie nicht, vielleicht hatte irgendeine Freundin ihn rausgeworfen, vielleicht hatte er noch lange gearbeitet. Und nun würden sie wieder arbeiten, doch vorher gab es noch etwas, was sie wissen musste. Etwas, wovon sie lange gedacht hatte, sie müsse sich nicht darum scheren, was sie jetzt aber anders einschätzte. Alles andere konnte warten, sogar Axel Ehnbom und alles, was in diesem Fall geschehen war.

»Ich habe eine Frage«, sagte sie. »Und ich will, dass du aufrichtig antwortest. Ich … ich habe gedacht, ich müsste nicht darüber reden, aber ich komme nicht gut klar damit, dass es etwas gibt, wovon ich nichts weiß. Nicht in dieser Situation.«

Ray-Ray klappte die Kinnlade herunter.

»Was willst du wissen?«

»Ich will wissen, ob du es warst, der den Stoff in Pauls Jacke platziert hat.«

Ray-Ray schluckte.

»Du weißt, dass es auf deine Frage nur eine mögliche Antwort gibt. Nein, natürlich habe ich keine Drogen in Pauls Jacke getan. Das wäre gegen das Gesetz, und ich würde meinen Job und meine Freiheit damit riskieren. Niemand würde mich jemals wieder anstellen, wenn so etwas herauskäme. Die Kinder und ich würden auf der Straße landen und …«

»Danke, das genügt.«

»Genügt es wirklich, Maria? Denn du hast ja die Frage gestellt, und da muss ich antworten. Nein, ich habe keine Drogen in Pauls Jacke getan.«

Im Wohnwagen wurde es ganz still.

Maria hätte am liebsten geweint.

Was hatte sie denn schon erwartet? Die Wahrheit war nicht für sie bestimmt, sondern nur für ihn. Trotzdem hatte sie gehofft, dass sie über die Sache reden könnten, dass sie bestätigt bekommen würde, was sie bereits zu wissen glaubte: Dass die Drogen nicht von Paul stammten.

Sie konnte Ray-Ray nicht vorwerfen, so etwas getan zu haben, natürlich nicht. Im Gegenteil. Sie fand, er war ein Held, wie schwierig es auch war, sich das einzugestehen. Doch sein Handeln hatte ernste Konsequenzen gehabt. Paul hatte große Teile seiner Verteidigung, was die Misshandlung der Justizbeamtin anging, auf das Auffinden der Drogen aufgebaut. Und jetzt war er ausgebrochen.

Man nahm an, dass er sich zum Ausbruch entschieden hatte, weil man ihm das Handy abgenommen hatte, das er sich besorgt hatte. Oder vielleicht hatte er einfach aufgegeben. Er kam nicht damit klar, eingesperrt zu sein, und begriff vielleicht, dass er auch vorm Oberlandesgericht verurteilt werden würde. So setzte er alles auf eine Karte und haute ab.

Ray-Ray holte eine Dose Snus aus der Tasche und fummelte daran herum. Er hatte Angst, das konnte man sehen. Angst, einen Fehler gemacht zu haben, Angst, es sich mit ihr verscherzt zu haben, Angst, verurteilt zu werden.

»Ich habe es nicht böse gemeint«, sagte er.

Maria runzelte die Stirn.

»Ich habe es nicht böse gemeint«, sagte Ray-Ray noch einmal. »Mit dem Stoff. Ich wollte den Teufel einfach festnageln.«

»Ich weiß«, flüsterte sie.

Maria spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie versuchte, sich die Szene vorzustellen. Wie Ray-Ray die Drogen in Pauls Jacke geschmuggelt hatte, wie er sich dann eiskalt zurückgezogen und auf die Katastrophe gewartet hatte. Wann und wo war das geschehen? Und woher hatte er die Drogen gehabt?

Sie nahm sich vor, keine Fragen zu stellen, auf die sie keine Antwort haben wollte.

Ray-Ray nickte grimmig.

»Jetzt arbeiten wir mal los«, sagte er.

Maria holte den Laptop aus dem Rucksack und klappte ihn auf. Ray-Ray sah sehr zufrieden aus – die Tagesschicht war endlich in Gang.

Wir sind doch beide gleichermaßen schräg, dachte Maria. Uns geht es am besten, wenn wir arbeiten.

»Was sollen wir von Gunnar Wides Zeugenaussage halten, dass Mary Thynell und Axel Ehnbom eine Beziehung hatten?«, fragte sie.

Der Bildschirm des Computers flimmerte erst und wurde dann scharf.

»Eigentlich müssen wir gar nicht so viel glauben«, sagte Ray-Ray, »denn wir müssen Mary auf jeden Fall noch einmal befragen. Ich will wissen, warum sie uns angelogen hat, als wir gefragt haben, wer das Kind auf den zehn Bildern ist. Wenn man so tut, als würde man sein eigenes Kind nicht wiedererkennen, dann ist das ja schon sehr bizarr.«

»Der Meinung bin ich auch«, sagte Maria. »Sowie wir hier fertig sind, fahren wir nach Hovenäset.«

Ray-Ray sah konzentriert in seinen Computer.

»Gunnar Wide«, sagte er. »Haben wir etwas zur Telefonüberwachung gehört?«

Sie hatten Gunnar zwar ziehen lassen, hatten aber den Staatsanwalt dazu gebracht, sowohl Abhörmaßnahmen als auch die Überwachung des Telefons anzuordnen.

»Die hat vor ungefähr einer Stunde angefangen«, sagte Maria. »Vendela wollte anrufen, wenn von dort irgendwelche neuen Informationen kommen.«

Ray-Ray stellte seinen Computer neben den von Maria auf den Tisch.

Gunnars Rolle in dem Drama erschloss sich ihr einfach nicht. Sein großes Interesse an Axels Wohlergehen und später an der ganzen Ermittlung – war das wirklich ein Zeichen für einen Täter, der sich ungerecht behandelt fühlte, weil er nicht festgenommen wurde?

Maria war sich alles andere als sicher.

Sein ganzes Verhalten konnte genauso auf eine Kombination aus tiefem Misstrauen gegenüber der Polizei und einer Prise Abenteuerlust gegründet sein. Gunnar Wide hatte zu viel Zeit. Das hatte Maria schon erkannt, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Und er war es gewohnt, anzuführen und Antworten auf alle schwierigen Fragen zu haben. Vielleicht empfand er es tatsächlich als seine Pflicht, sich vor der Polizei zu verstecken. In seiner Vorstellungswelt waren Maria und Ray-Ray Deppen, die es nicht schafften, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Da konnte ja ein selbsternanntes Genie wie Gunnar nicht auf dem Polizeirevier sitzen und vermodern, während der richtige Täter frei herumlief.

Gleichzeitig gab es aber auch Umstände, die ihm unbestritten zur Last gelegt werden mussten.

Sie wussten nicht sicher, warum Axel erpresst worden war, doch konnte man den Zetteln, die auf seinem Schreibtisch gelegen hatten, entnehmen, dass er etwas zu verbergen hatte, was mit dem Mord an Lydia Broman zusammenhing. Und dann kam Gunnar und behauptete, dass mit Axels Alibi von damals irgendwas nicht in Ordnung sei. So ein Zusammentreffen erforderte eine Erklärung.

»Hand aufs Bullenherz«, sagte Maria. »Wie sicher bist du, dass Gunnar Wide der Typ ist, nach dem wir suchen?«

Ray-Ray zog die eine Augenbraue hoch. »Ich bin bei gar nichts sicher«, antwortete er. »Aber das spielt ja keine Rolle, denn er benimmt sich so finster, dass man Angst vorm Dunkeln kriegen kann.«

Maria holte die zehn Fotografien von dem kleinen Mädchen heraus, die sie am Morgen bei August mitgenommen hatte.

Ray-Ray nahm eines der Bilder auf.

»Die Jahreszahlen auf der Rückseite«, sagte er. »Das sind genau die Jahre, die Axel mit seiner Familie in Chicago verbracht hat.«

»Vielleicht kann Mary uns etwas darüber sagen«, meinte Maria.

Ray-Ray warf das Bild auf den Tisch.

»Ich hasse alle die verdammten Lücken in dieser Ermittlung«, schimpfte er.

»Wir sehen nie das Ganze, nur eine Menge Details, die in mancher Hinsicht so aussehen, als würden sie zusammenhängen, die aber genauso gut einen Scheiß miteinander zu tun haben können.«

Da konnte Maria ihm nur zustimmen.

»Gunnar hat gesagt, wir sollten Marys durchgeknallte Tochter überprüfen«, sagte sie. »Ich denke, wir sollten die auch verhören und nach den Fotos fragen.«

»Und wieder Gunnar«, sagte Ray-Ray. »Aber klar, wir müssen offensichtlich unseren Blick erweitern. Ich begreife nicht, was Mary Thynell da tut.«

Maria erhob sich. Die Bilder aus Axels Karton waren uninteressant, wäre da nicht Marys Lüge. Und deshalb hatte es erste Priorität, sie noch einmal zu verhören. Entweder mussten die Bilder aus der Ermittlung herausgenommen werden, oder sie waren eine Spur, die verfolgt werden sollte.

»Komm«, sagte sie. »Wir fahren sofort hin.«

Ray-Ray stand auf.

»Wissen wir etwas über die Tochter?«, fragte er.

»Ich habe ein bisschen nachgeschaut«, sagte Maria. »Sie heißt Patricia Thynell und ist erst kürzlich von Göteborg nach Kungshamn gezogen. Nicht vorbestraft. Laut Einwohnermelderegister ist sie alleinstehend und Mutter von zwei Kindern.«

»Den Rest lassen wir jemand anders überprüfen«, sagte Ray-Ray.

»Jetzt kommen wir mal zu den wirklich heftigen Fragen: Fahrrad oder Auto?«

Maria lächelte.

»Fahrrad.«

»Verdammt, dann muss ich auch Fahrrad fahren.«

»Weil?«

»Weil dein verrückter Ex auf der Flucht ist und ich nicht will, dass du alleine bist.«

Marias Lächeln erlosch.

»Danke«, sagte sie.

»Da nicht für.«

Sie holte den Fahrradhelm heraus.

»Doch«, sagte sie leise. »Es gibt viel, wofür ich dir danken sollte, also tue ich es jetzt: danke. Für alles, Ray-Ray. Danke für alles.«

Und mit diesen Worten ging sie vor ihm aus dem Wohnwagen.