Der Bus sollte vom Terminal in Kungshamn abgehen. Dorthin konnten sie laufen.
»Komm schon, Sam«, sagte Hillevi.
Nachdem sie rausgegangen waren, schloss sie die Tür aufmerksam hinter sich.
Gleichzeitig rief sie in der Kita an.
Erleichterung breitete sich in ihr aus, als sie begriff, dass sie mit einer Praktikantin sprach.
»Ich wollte nur Bescheid sagen, dass Sam heute nicht kommt«, sagte sie. »Er hat heute Morgen einen Arzttermin in Uddevalla, danach bleibt er zu Hause.«
»Danke, das ist nett, dass du anrufst«, sagte die Praktikantin und legte auf.
Das war viel zu leicht gegangen. Hillevi beeilte sich. Sie hätte hundert Kronen darauf gesetzt, dass in mindestens einer Stunde eine von den anderen Erzieherinnen anrufen und motzen würde, dass das so nicht ging.
Heute muss es so gehen, dachte Hillevi.
Ein schlechtes Gewissen hatte sie nur, weil sie Ola angelogen hatte. Sie hatte gesagt, dass sie in die Schule gehen und Sam in der Kita vorbeibringen würde. Nichts davon war wahr gewesen, und vielleicht hatte Ola auch einen Verdacht gehabt, denn er hatte ungefähr fünfmal gefragt, ob das wirklich eine gute Idee wäre.
Gut oder nicht, dachte Hillevi, war es doch die einzige Idee, die sie hatte.
Es musste funktionieren.
Sie kamen zur Bushaltestelle. Hillevi wusste nicht, warum das »Terminal« genannt wurde, da gab es ja nur einen einzigen Steig. Zu Hause in Göteborg gab es das Nils Ericson-Terminalen, und das sah aus wie ein kleinerer Flugplatz.
Hillevi vermisste Göteborg so sehr, dass ihr das Herz zu zerspringen drohte. An Kungshamn war einzig und allein Ola gut, und der war wirklich wichtig, denn ihre Mutter verhielt sich einfach nie wie ein normaler Mensch, und deshalb brauchten sie Ola so dringend.
Ein Stück entfernt lag die Hafenbäckerei. Sie war geöffnet, und Hillevi wünschte, sie hätte Zeit und Geld, dorthin zu gehen. Wenn Amanda irgendwann einmal zu Besuch kam, dann würden sie auf jeden Fall dorthin gehen und Kuchen essen.
Hillevi hielt Sams Hand ganz fest. Er hatte keinen Ärger gemacht, als er sich anziehen sollte, und auch nicht darauf reagiert, dass sie nicht in seine Kita gegangen waren. Still und ernst war er mit zur Bushaltestelle gekommen, ohne zu fragen, wohin sie gingen und warum.
Auch gut.
Wenn Hillevi auch nur ein Sterbenswörtchen über ihren Plan verloren hätte, hätte er Nein gesagt. Genauso wie sie sicher war, dass Ola ausgeflippt wäre, wenn sie ihm erzählt hätte, was sie herausgefunden hatte.
Es schmerzte in der Brust, wenn sie an Ola dachte.
Als er gestern von der Arbeit gekommen war, hatte er so traurig ausgesehen.
Hillevi hatte sich Sorgen gemacht und gefragt, ob irgendwas passiert wäre.
»Nicht doch«, hatte er gesagt. »Ich habe Mist gebaut. Aber das hat nichts mit dir und Sam zu tun.«
Als ob.
Alles hatte mit Hillevi und Sam zu tun.
Wenn Ola nicht erzählen wollte, warum er aussah, als ob er geweint hätte, musste Hillevi stattdessen raten.
Das Jugendamt, dachte sie. Er hat mit dem Jugendamt gesprochen und erfahren, dass wir nicht bei ihm bleiben dürfen.
Aber so eine große Sache hätte er doch bestimmt erzählt, oder? Hillevi war unentschlossen.
»Wie war denn dein Tag heute?«, hatte Ola gefragt.
Hillevi hatte geantwortet, dass es ihr gut ginge. Wenn Ola traurig war, machte es keinen Sinn, ihm zu erzählen, was sie zu Hause bei ihrer Mutter entdeckt hatte. Dass sie fast sicher war, dass ihre Mutter nicht mit auf Hovenäset gewesen war, als Sam den Brand gesehen hatte.
Sie sah verstohlen zu Sam.
Er saß auf der Bank an der Bushaltestelle und ließ die Beine baumeln.
Der Overall war zu klein und der Reißverschluss kaputt, sodass man ihn nicht bis oben schließen konnte. Hillevi hatte einen extra großen Schal für ihn mitgenommen, damit er nicht fror.
Ola würde ihm einen neuen Overall kaufen. Wenn nur mal Ruhe einkehrte, würde sich alles ordnen.
Sie strich Sam über den Kopf.
Feiner, kleiner Bruder.
Wenn er nur wie ein normaler Mensch reden würde.
Wenn er nur nicht eine halbe Ewigkeit schon verstummt wäre.
Am Abend zuvor hatte sie mit allen Mitteln versucht, ihn dazu zu bringen zu erzählen, was er erlebt hatte. Er hatte sich geweigert, auch nur einen Ton zu sagen, und am Ende hatte er geweint. Dann wollte er unbedingt bei Hillevi schlafen und war die ganze Nacht so unruhig gewesen, dass er sie mindestens fünfzehnmal geweckt hatte.
Der Bus kam.
Hillevi und Sam stiegen ein und setzten sich in die letzte Bank. Sam ans Fenster und Hillevi am Gang.
Endstation des Busses war Trollhättan, und Hillevi wusste, dass er auch durch Uddevalla kam. Wenn sie dorthin fuhren, würden sie umsteigen und weiter nach Göteborg fahren können.
Hillevi sah aus dem Fenster.
Göteborg musste warten. Sie und Sam würden nur bis Hovenäset fahren.
Sie hoffte zutiefst, dass sie nicht geradewegs ihrer Oma in die Arme laufen würden, denn dann hätte sie keine Ausrede, warum sie dort waren. Hoffentlich hielt sich die Oma im Haus auf, denn dann würde sie die beiden nicht sehen.
Hillevis Plan war einfach.
Sie hatte vor, Sam mit zu dem Ort zu nehmen, wo die beiden Bootshäuser abgebrannt waren. Sie wollte sehen, ob er es erkannte, ob er reagierte, wenn er dorthin kam. Denn es bestand trotz allem noch die Gefahr, dass Sam sich alles ausgedacht hatte und dass er in der Nacht überhaupt nicht auf Hovenäset gewesen war.
Obwohl sie das eigentlich nicht glaubte.
Sam hatte nach Rauch gerochen, als er in ihr Bett gekrabbelt kam.
Und er hatte auf den Zeitungsartikel über das abgebrannte Bootshaus gezeigt und genickt, als sie gefragt hatte, ob er dort gewesen sei.
Sie strich ihm übers Haar. Er hatte seine Mütze abgezogen und hielt sie in der Hand.
»Wir machen einen Ausflug«, sagte sie. »Nur du und ich.«
Er lächelte vorsichtig, sah sie aber nicht an. Als der Bus weniger als zehn Minuten später anhielt und Hillevi aufstand, um auszusteigen, wurde er wieder ernst. Sein Blick irrte fragend vom Fenster zu Hillevi und dann wieder zum Fenster.
Hillevi nickte als Antwort auf die Frage, die er nicht gestellt hatte.
»Ja, wir gehen nach Hovenäset. Komm jetzt.«
Dann nahm sie seine Hand und führte ihn aus dem Bus.