Das Eis lag dick auf dem Wasser zu beiden Seiten der Hovenäsbrücke. Hillevi hatte andere dort schon Schlittschuhlaufen sehen, sich selbst aber nicht hingetraut. Außerdem waren ihre Schlittschuhe zu klein. Sie drückten auf den Zehen und waren hart und kalt.
Es war ein frostiger Tag. Die Sonne schien, aber Hillevi zog am Kragen ihrer Jacke, um ihn übers Kinn zu ziehen. Ihre Mutter hackte ständig auf ihr herum, dass sie zu wenig Kleider anhätte, aber Hillevi fand das eigentlich immer übertrieben. Heute nicht. Die Kälte stach in die Oberschenkel, und sie bereute, Turnschuhe angezogen zu haben.
Sie hielt Sams Hand ganz fest.
»Frierst du?«
Er antwortete nicht.
»Wenn ja, musst du es sagen.«
Sie wusste nicht, warum sie das überhaupt sagte. Was sollte sie schon tun, wenn er fror? Sie hatten ja keine zusätzlichen Kleider dabei.
Hillevi schielte zum Haus der Oma, als sie vorbeigingen. Falls die am Fenster stand und sie sehen würde, dann hätte Hillevi ein Problem zu erklären, was sie hier machten.
Sam seufzte.
Er ging immer langsamer.
»Jetzt trödel mal nicht so«, sagte Hillevi. »Wir haben nicht so viel Zeit.«
Sie sah sich unruhig um. Nicht nur ihre Oma konnte ihnen Probleme machen, es gab auch noch eine Menge anderer Leute auf Hovenäset, die sie erkennen könnten.
Sie kamen an einer Reihe Häuser vorbei, die völlig verlassen aussahen.
Hillevi holte ihr Handy raus. Sie meinte zu wissen, wo der Brand geschehen war, aber ganz sicher war sie nicht. Irgendwie gab es überall Bootshütten auf Hovenäset, aber ihre Großeltern hatte nie eines besessen. Das Display des Handys leuchtete auf. Hillevi schaute sich genau die Karte an und stellte fest, dass sie auf dem Weg in die richtige Richtung waren.
Sie schob das Telefon wieder in die Tasche. Die Kita hatte immer noch nicht angerufen, und das machte ihr Sorgen.
Was, wenn die jetzt gar nicht mehr bei Hillevi anriefen, sondern gleich bei der Polizei? Aber warum sollten sie das tun? Sie hatte ja nichts Ungesetzliches getan, sondern nur ein bisschen gelogen, um Sam mitnehmen zu können.
Sie kamen an dem kleinen Platz vorbei, wo ihre Mutter immer das Auto parkte, und dann am Österparken, in dem Hillevi als kleines Kind gern gespielt hatte. Die Straße bog ein wenig ab, als der Hovenäsvägen zu Ende war und nun Resovägen hieß.
Als er die Reihe von Bootshäusern sah, blieb Sam wie angewurzelt stehen.
Hillevi hielt auch an.
Mitten zwischen den bunten Häuschen türmten sich zwei Haufen mit Müll.
Sie keuchte und flüsterte:
»Shit.«
Sam hielt ihre Hand so fest, dass es wehtat. Seine Unterlippe zitterte, und er hatte Tränen in den Augen.
»Komm«, sagte sie sanft und zog ihn mit sich.
Aber Sam weigerte sich weiterzugehen.
»Es ist nicht schlimm«, sagte Hillevi. »Wir schauen nur ein bisschen.«
Ihr Herz schlug fest in der Brust. Sam hatte richtig Angst. Hillevi zog wieder an seinem Arm, doch er stand wie festgefroren auf dem Bürgersteig. Er gab einen jammernden, durchdringenden Laut von sich, den sie noch nie von ihm gehört hatte.
»Psst«, sagte Hillevi und schaute sich rasch um.
Kein Mensch war in der Nähe.
Und soweit sie sehen konnte, war auch bei den Bootshäusern niemand. Hillevi beugte sich herunter und nahm Sam auf den Arm. Sie wollte näher kommen, damit Sam auf etwas zeigen konnte, worüber zu reden er sich immer noch weigerte. Er war stocksteif auf ihrem Arm, aber jetzt jammerte er wenigstens nicht mehr.
Hillevi packte ihren Bruder fest. In seinem Overall rutschte er und war schwerer, als sie erwartet hatte.
Als sie näher zu den Bootshäusern kamen, roch es immer noch schwach nach Feuer. Wie war das möglich? Der Brand war doch schon mehrere Tage her.
Sam schlang die Arme um sie und drückte den Kopf auf ihre Schulter. Zum Glück hatten sie es nicht weit. Hillevi merkte, wie ihre Arme langsam nicht mehr konnten. Sie musste ja auch auf den Weg achten, denn der Bürgersteig war voller Eisplacken, und sie wollte wirklich nicht ausrutschen.
Schließlich standen sie vor den abgebrannten Bootshäusern.
Die sahen aus wie aus einem Gruselfilm. Alles war schwarz verbrannt und roch übel. Hillevi rümpfte die Nase und versuchte, Sam abzusetzen. Doch er weigerte sich und zog stattdessen die Beine hoch und schlang sie um ihre Taille.
»Sam, hör auf«, sagte Hillevi. »Wir werden nicht lange bleiben, das verspreche ich dir. Lass mich jetzt los.«
Sam begann wieder zu jammern, aber diesmal war Hillevi stur. Sie hockte sich hin und zog vorsichtig an Sams Bein, sodass sie sein Gewicht loswurde. Er weinte, als sie ihn auf den Boden stellte. Ein müdes Weinen, das sie ewig nicht erlebt hatte.
»Ich bin hier«, sagte sie und strich ihm übers Haar. »Ich gehe nirgends hin.«
Sie stellte sich hinter ihn, sodass sie beide in dieselbe Richtung schauten. Doch Sam sah nirgends hin, sondern kniff die Augen zusammen.
»Was ist hier passiert?«, flüsterte Hillevi. »Bitte, du musst es mir erzählen. Alles wird nur besser, wenn du sagst, was du erlebt hast. Nur besser.«
Doch sie bekam keinen Kontakt zu ihrem Bruder.
Sam saß auf dem kalten Boden, hatte die Augen geschlossen und hielt sich die Ohren zu.
Hillevi zog ihn an sich und umarmte ihn ganz fest. Sie bekam einen Krampf in den Knien, wenn sie so hockte, und fror so sehr, dass sie am liebsten wieder nach Hause zu Ola wollte.
Trotzdem hatte sie das Gefühl, einen letzten Versuch unternehmen zu müssen, Sam zum Reden zu bringen. Er hätte nicht auf die Zeitung gezeigt, wenn er nichts erzählen wollte.
Hillevi küsste Sam auf die kalte Wange. Er zitterte in ihrem Arm. Es war ein Fehler gewesen, ihn mit nach Hovenäset zu nehmen, das sah sie jetzt ein.
»Wir werden nicht lange bleiben«, sagte sie. »Ich will nur wissen, was passiert ist.«
Was hatte Sam gesehen und erlebt?
Das war alles, was zählte.
Er bewegte sich in ihrem Arm und verkroch sich an ihrer Brust. Sein Körper fühlte sich jetzt schlapper an, als wäre er im Begriff einzuschlafen oder als würde er all das Schlimme einfach nicht mehr aushalten.
Hillevi beschloss, etwas zu fragen, worauf sie bereits eine Antwort bekommen hatte:
»Sam, hast du den Brand gesehen?«
Erst war er ganz still, doch dann nickte er fast unmerklich.
Endlich antwortete er.
Hillevi schluckte und versuchte nicht zu zeigen, wie aufgeregt sie war.
»Hast du gesehen, wer das Feuer gelegt hat?«
Schnell schüttelte er den Kopf.
»Es brannte also schon, als du hierher kamst?«
Er nickte.
Hillevi holte tief Luft.
»War die Mama bei dir?«
Sam schüttelte den Kopf.
»Bist du sicher? Es ist nicht deine Schuld, wenn die Mama was Dummes gemacht hat.«
»Mama war nicht dabei.«
Seine Stimme war nur ein Flüstern, aber was er sagte, war unmissverständlich. Er redete! Hillevi umarmte ihn fester.
»Mit wem warst du dann hier?«, fragte sie. »Wer hat dich mit zu dem Feuer genommen?«
Sam blieb stumm, und Hillevi wollte am liebsten herausschreien.
Nein, nein, nein, nicht wieder stumm werden!
Sie holte tief Luft.
»War es jemand, den du kanntest?«
Er schüttelte den Kopf.
Hillevi kapierte gar nichts mehr.
»Okay, war es eine Frau?«
Neuerliches Kopfschütteln.
»War es ein Mann?«
»Ja.«
Sie schloss die Augen. Ein unbekannter Mann hatte Sam mit zum Feuer genommen.
Dachte er sich das bloß aus?
»Bist du sicher, dass du nicht weißt, wer es war?«
Sam bewegte sich nicht.
»Hat er gesagt, wie er heißt?«
Sam schüttelte den Kopf.
»Aber er ist zu uns nach Hause gekommen und hat dich abgeholt?«
Ein neues Flüstern:
»Ja. Und dann sind wir Auto gefahren.«
»Hat er gesagt, wohin ihr fahren würdet?«
Sam nickte leicht.
»Ja. Er hat gesagt, wir gehen auf ein Fest.«
Hillevi runzelte die Stirn.
»Auf ein Fest?«
»Ja.«
»Was für ein Fest?«
»Familienfest«, wisperte Sam.
Hillevi starrte ihn an.
»Wie hieß das?«
»Familienfest.«
»Sam, bist du dir da ganz sicher?«
»Er hat das gesagt. Der mit dem Auto.«
»Dass ihr auf ein Familienfest gehen würdet?«
»Ja. Hab ich doch gesagt.«
Hillevi war ratlos. Das passte alles nicht zusammen.
»Okay«, sagte sie leise. »Ich versuche gerade, das zu verstehen … Ihr solltet also auf ein Fest. Aber erst seid ihr hierher und habt den Brand angeschaut.«
Sam rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf.
»Nein, erst sind wir aufs Fest. Und dann hierher.«
In Hillevis Kopf kreisten die Gedanken.
»War das Fest auch hier auf Hovenäset?«
»Ja. Aber da war kein Fest. Es war nur ein alter Mann da.«
Hillevi strich Sam über die Wange. Ihr war übel, denn jetzt war ihr ein ganz anderer Verdacht gekommen, und der war so unangenehm, dass sie wünschte, ihn nie gedacht zu haben. Hillevi wusste, dass es jede Menge alte Männer gab, die kleine Jungs mochten. Hatte Sam etwa so einen getroffen?
»War er nett?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Sam leise.
»Hat er denn nicht mit dir geredet?«
»Nee. Mit niemand.«
Sam zitterte wieder. Hillevi umarmte ihn noch fester.
»Was ist passiert?«
»Der schlief auf der Treppe«, flüsterte Sam. »Der alte Mann hat auf der Treppe geschlafen, und aus seinem Kopf kam Blut. Dann war das Fest aus.«