An Mary Thynells Haus wuchs jede Menge Efeu. Maria war das zuvor gar nicht aufgefallen, doch jetzt, als sie die vom Frost überzogenen grünen Blätter sah, die an der Holzfassade hochrankten, fiel ihr auf, dass es wie ein Kunstwerk wirkte.
Ray-Ray zog eine Grimasse, als er vom Fahrrad stieg.
»Alles in Ordnung?«, fragte Maria.
»Nein, verdammt noch mal. Glaub bloß nicht, dass wir noch mehr Strecken zusammen mit dem Fahrrad fahren. Ab jetzt nehmen wir das Auto.«
Maria grinste.
»Bewegung tut gut«, erwiderte sie und schloss das Fahrrad mit zwei Schlössern ab.
»Ich bin fünf Tage die Woche im Studio, das muss genügen.«
Er lehnte das Fahrrad an eine Straßenlaterne.
»Willst du es nicht abschließen?«, fragte Maria. »Was, wenn jemand es klaut.«
»Nichts wäre mir lieber«, entgegnete Ray-Ray. »Komm! Jetzt lass uns mal anklopfen.«
Maria folgte zögernd.
Mary Thynell sah nicht gerade froh aus, als sie die Tür öffnete und die beiden auf der Treppe stehen sah. Außerdem wirkte sie noch erschöpfter als am Tag zuvor.
»Was ist jetzt passiert?«, fragte sie.
»Dürfen wir reinkommen?«, gab Maria zurück. »Wir haben nur ein paar kurze Fragen.«
»Natürlich.«
»Danke.«
Auf der Treppe stand ein Stiefelkratzer. Maria und Ray-Ray schlugen den Schnee ab, der unter den Sohlen festgebacken war. Dann gingen sie rein. Drinnen zogen sie dann noch die Schuhe aus, um keinen Schmutz zu machen.
Mary beobachtete sie schweigend.
Maria konnte sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete. Wahrscheinlich suchte sie eine Erklärung dafür, warum Maria gesagt hatte, dass sie nur »ein paar kurze Fragen« hätten, aber gleichzeitig so lange zu bleiben planten, dass sie die Schuhe auszogen.
»Wir können ins Wohnzimmer gehen«, sagte Mary.
Maria setzte sich in einen der Sessel und Ray-Ray auf den Klavierhocker beim offenen Kamin.
Mary spürte offensichtlich, dass irgendetwas bevorstand, denn sie blieb noch eine Weile stehen, um sich dann schließlich in eine Ecke des Sofas zu setzen.
»Als wir das letzte Mal hier waren, haben wir Ihnen ein paar Bilder von einem Mädchen gezeigt«, begann Maria. »Haben Sie an diese Bilder in der letzten Zeit noch mal gedacht?«
Mary lehnte sich steif an die Rückenlehne des Sessels.
»Nein«, sagte sie leise, »das kann ich nicht behaupten.«
Ray-Ray holte eines der Fotos aus seiner Jackentasche.
»Sie wissen immer noch nicht, wer das hier sein könnte?«
Er legte das Bild vor Mary auf den Couchtisch.
Die streckte zögerlich eine Hand aus und zog das Foto zu sich.
»Ich weiß nicht recht, ob ich verstehe, worauf Sie hinauswollen«, sagte sie.
Da stand Ray-Ray auf, ging zum Kaminsims und nahm eines der eingerahmten Familienfotos herunter.
»Wir finden, Sie sollten Ihre eigene Tochter erkennen können«, sagte er und stellte auch das gerahmte Foto auf den Couchtisch. »Mehr verlangen wir gar nicht.«
Maria sah das Foto im Rahmen an. Als sie das letzte Mal bei Mary gewesen waren, hatte keiner von ihnen die Familienbilder genauer angesehen, doch jetzt herrschte kein Zweifel: Das Mädchen auf dem Bild war identisch mit dem auf Axel Ehnboms Fotos.
Auch Mary starrte auf das Familienfoto, als würde sie es zum ersten Mal sehen. Im Zimmer war es völlig still. Die Sonne fiel durchs Fenster, und in ihrem Licht wirbelten Staubkörner.
»Warum haben Sie uns nicht gesagt, dass es Ihre Tochter ist?«, fragte Maria.
Mary drehte sich langsam zu ihr.
»Weil ich es für unnötig hielt.«
Die Stimme war jetzt dünn und ohne die zuvor gezeigte Selbstsicherheit. Mary sah erbärmlich schwach aus.
»Unnötig?«, fragte Ray-Ray. »Das hier ist eine Mordermittlung, da bestimmen wir von der Polizei, was notwendige und was unnötige Informationen sind.«
»Patricia hat es nicht immer leicht gehabt«, sagte Mary. »Ich wusste nicht, woher diese Bilder stammen, und ich wollte sie davor bewahren, in etwas reingezogen zu werden, womit sie nichts zu tun hatte.«
»Und woher wollen Sie das so genau wissen?«, fragte Maria. »Es ist, wie mein Kollege sagt: Hier entscheidet die Polizei und nicht Sie, was für die Ermittlung erforderlich ist.«
Mary schwieg.
»Warum hatte Axel diese Fotos von Patricia?«, fragte Ray-Ray.
»Keine Ahnung. Sie müssen mir glauben, dass ich sie noch nie zuvor gesehen habe.«
»Könnte jemand anderes als Axel die Fotos gemacht haben?«
»Woher in aller Welt soll ich das wissen?«
Wieder Schweigen.
Marys Wangen hatten jetzt Farbe bekommen, und man konnte deutlich erkennen, dass sie aufgewühlt war.
Maria legte die Hand auf den Tisch und versuchte, sich der Frau vorsichtig zu nähern.
»Mary, es ist jetzt nicht der richtige Moment, wichtige Informationen zurückzuhalten«, ermahnte sie.
»Das tue ich auch nicht.«
Ray-Ray öffnete die Jackentasche und holte noch mehr Fotos heraus, die er vor Mary aufreihte.
»Axel war im Besitz von Bildern, die Patricia im Alter von einem bis zehn Jahre zeigten. Dann gab es keine weiteren mehr. Was ist passiert?«
Vielleicht siegte die Neugier, denn Mary griff nach den Fotos und blätterte sie durch. Sie sah Bild um Bild an, ohne eine Miene zu verziehen.
Das provozierte Ray-Ray.
»Was zum Teufel ist denn los mit Ihnen?«, fragte er. »Wenn jemand zu mir nach Hause käme und mir Fotos von einem meiner Kinder zeigen würde und ich dann keine Ahnung hätte, wann und warum diese Fotos gemacht wurden, dann wäre ich außer mir vor Wut. Und vor Angst!«
Das Letzte war keine Lüge, das sah man ihm an.
»Ich bin derselben Meinung«, fügte Maria hinzu. »Warum sagen Sie nichts zu den Fotos? Stört es Sie nicht, dass einer Ihrer Nachbarn Ihr Kind fotografiert hat?«
Mary schob den Stapel Fotos von sich.
»Ich glaube wirklich nicht, dass ich dazu noch etwas sagen kann«, sagte sie. »Axel war ein Freund von meinem Mann und mir, das habe ich bereits letztes Mal, als Sie hier waren, erzählt. Und er war ein guter Fotograf. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Patricia das einzige Kind war, das er fotografiert hat, wenn er es nun überhaupt war.«
Ray-Ray schüttelte den Kopf.
»Das kaufe ich Ihnen nicht ab«, sagte er. »›Er war ein guter Fotograf‹. Was hat das damit zu tun? Er hat Ihre Kleine heimlich fotografiert, wie können Sie das einfach nur so hinnehmen? Das ist doch vollkommen unbegreiflich.«
Marys Hand zitterte, als sie wieder nach den Bildern griff.
»Sind Sie sicher, dass Axel die Aufnahmen gemacht hat?«, fragte sie.
Ray-Ray und Maria sahen einander an.
»Wer könnte es sonst gewesen sein?«, gab Ray-Ray zurück.
»Das zu beantworten kann kaum meine Aufgabe sein«, entgegnete Mary.
Maria spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Sie wussten nicht mit Sicherheit, wer die Fotos von Patricia aufgenommen hatte, hingegen, wer sie August gegeben hatte. Vielleicht versehentlich, aber das änderte doch nichts an der Tatsache, dass sie von Axel stammten.
Maria betrachtete den Stapel Fotos auf dem Tisch.
Es waren Szenen dabei, wie Patricia auf der Straße ein Hüpfspiel spielte, auf der Schaukel im Garten saß oder vor der Spielhütte auf dem Grundstück war. Die Jahreszeiten variierten, aber allen Fotos war gemeinsam, dass außer ihr niemand zu sehen war (auch nicht auf dem ältesten Bild) und dass alle draußen und aus gewissem Abstand aufgenommen worden waren. Deshalb hatte Maria den Eindruck gehabt, die Bilder seien heimlich aufgenommen worden. Das hatte sie natürlich den Beweggründen des Fotografen gegenüber misstrauisch gemacht, doch auf keinem der Bilder war das Mädchen ohne Kleider oder auch nur im Badeanzug zu sehen.
Maria hielt inne.
Die Jahreszeiten variierten.
Und in all den Jahren, als die Bilder gemacht wurden, wohnte Axel in Chicago und war nur im Sommer zu Hause in Schweden gewesen.
»Als wir das letzte Mal hier waren, haben wir nach Ihrer und Axels Beziehung gefragt«, sagte sie. »Haben Sie darüber auch gelogen?«
Mary verzog den Mund und schüttelte den Kopf.
»Nicht?«, fragte Maria. »Wir haben einen Zeugen, der gesehen hat, wie Sie und Axel einander geküsst haben.«
Mary stöhnte leise.
»Gunnar Wide, nehme ich mal an«, sagte sie. »Er hat zufällig gesehen, wie Axel und ich uns einmal umarmt haben, als ich es schwerhatte. Das ist Ewigkeiten her und war Ausdruck reiner Freundschaft, nicht mehr.«
»Ist das sicher?«, fragte Ray-Ray.
»Ganz sicher.«
Und neulich war es noch ganz sicher, dass Sie das Kind auf den Fotos nicht kennen, dachte Maria.
In ihrer Jackentasche klingelte leise das Telefon.
»Entschuldigung«, murmelte sie und holte das Handy schnell heraus.
Es war Vendela.
Dankbar erhob sich Maria. Sie musste mal ein Weilchen aus Marys Haus rauskommen, die Gedanken ordnen und entscheiden, wie sie weitermachen sollten.
»Ich bin gleich zurück«, sagte sie und verließ das Zimmer, um ranzugehen.
Während sie die Schuhe anzog, hörte sie schon Vendelas Stimme.
»Du, wir haben hier was Wichtiges gefunden«, sagte sie. »Ihr wolltet doch noch mal zu Mary, um über die Fotos zu reden, oder?«
»Wir sind gerade dort«, antwortete Maria, trat auf die Eingangstreppe und zog die Haustür hinter sich zu.
Draußen war es schweinekalt. Ein Nachbar ging langsam vorbei und sah neugierig zu ihr. Maria wandte sich ab und senkte die Stimme.
»Was habt ihr gefunden?«
»Als wir Axels Haus durchgegangen sind, haben wir eine Menge Negative beschlagnahmt, die waren sämtlich sorgfältig mit Jahreszahlen markiert und dann nach Jahren sortiert. Wir sind sie jetzt durchgegangen und haben uns auf die Jahre konzentriert, die auf der Rückseite der Fotos von dem Mädchen notiert sind. Wir haben kein Einziges gefunden, das auch nur im Entferntesten den Fotos ähnelt, die in Axels Karton lagen. Außerdem sind auf allen Fotos im Karton die Jahreszahlen ausgeschrieben. Wir haben Notizen von Axel und seiner Frau, zum Beispiel in privaten Fotoalben und alten Ordnern mit einer Menge Papieren drin gefunden. Keine ihrer Handschriften passt zu der auf den Fotografien.«
Maria spürte die beißende Kälte auf den Wangen.
Vendela bestätigte, was sie selbst gerade entdeckt hatte.
»Jemand anders hat die Fotos gemacht und sie Axel gegeben«, sagte Maria.
»Das ist meine Einschätzung.«
Die Gedanken fuhren Karussell und kamen von den Fotos von Marys Tochter zu dem, was viel später geschehen war. Axel war erpresst worden. Und anstatt sich an die Polizei zu wenden, sah es so aus, als hätte er versucht, einen Versicherungsbetrug einzufädeln, um sich aus seiner Situation herauszukaufen.
Was für ein Verbrechen hatte Axel begangen, das so gewichtig war, dass er nicht wagte, die Polizei um Hilfe zu bitten? Und warum hatte er Fotos von dem Kind seiner Nachbarn gesammelt und auch noch Lydia Broman heimlich gefilmt?
Maria beendete das Gespräch mit Vendela und ging wieder rein.
Aus dem Wohnzimmer waren Ray-Rays und Marys Stimmen zu hören. Sie sprachen über Marys verstorbenen Ehemann. Maria zog sich in der Diele die Schuhe aus. Das Wohnzimmer lag geradeaus und links die Küche. Rechts stand die Tür zu einem Zimmer angelehnt.
Maria gab der Tür einen kleinen Schubs und sah zu, wie sie aufging. Dort standen ein Schreibtisch, eine Reihe Wandregale und ein Bett.
Einem Impuls folgend betrat sie den Raum, der ein Arbeitszimmer zu sein schien.
In den Bücherregalen standen meterweise Bücher, und auf dem Schreibtisch lag ein Laptop, der sich noch warm anfühlte. Neben dem Computer befand sich ein Papierstapel, auf dem oben ein Blatt weißes Papier lag, das nichts über den Inhalt des Stapels verriet.
Sie hat hier gesessen und gearbeitet als wir kamen, dachte Maria. Plötzlich hat es an der Tür geklopft, und dann wollte sie nicht, dass jemand sah, womit sie da beschäftigt war.
Maria drehte das einzelne Blatt herum, das oben auf dem Stapel lag. Es war leer, aber was darunter lag, war umso interessanter.
Maria blätterte mit pochendem Herzen.
Alte Zeitungsartikel, die ausgeschnitten und auf gewöhnliche, weiße A4-Blätter geklebt worden waren. Nach der vergilbten Farbe des Zeitungspapiers und den Flecken auf den Blättern zu schließen, war das schon vor langer Zeit geschehen. Und sämtliche Artikel handelten von ein und derselben Sache: dem berüchtigten Stückelmord an Lydia Broman.
In diesem Moment klingelte Marias Handy. Sie fuhr zusammen und ging schnell ran.
Roland, dessen Stimme angespannt klang.
»Wir haben sie gefunden«, sagte er.
»Wen?«, fragte Maria.
»Die Justizbeamtin, die Paul als Geisel genommen hat.«
Maria schlug die Hand vor den Mund.
»Lebt sie?«
Die Frage rutschte ihr so heraus. Roland klang streng, als er antwortete.
»Sie lebt, ist aber verletzt, und sie schweigt. Maria, sie war niemals eine Geisel. Sie und Paul hatten eine Beziehung. Und jetzt weigert sie sich zu erzählen, wo er ist.«