»Wie ist es eigentlich mit Mary Thynells Tochter? Weißt du, ob die Polizei sie schon verhört hat?«
Gunnar saß am Küchentisch, trank Kaffee und machte den Eindruck, als wären es seine Küche und sein Laden.
August schüttelte den Kopf.
»Du bist der Einzige, der sich Gedanken über Marys Tochter macht«, sagte er, obwohl das nicht stimmte.
Er hatte bereits bereut, Gunnar nicht sofort rausgeschmissen zu haben. Der ganze Mann war ein wandelndes Problem. Und wenn es etwas gab, wovon August bereits genug hatte, dann waren es Probleme.
Er betrachtete seinen Gast.
Gunnar war in guter Verfassung und hatte sowohl zu Butterbroten als auch zu Kaffee Ja gesagt. Er sah frischer aus als noch vor einer Weile.
»Das hier geht nicht«, sagte August leise.
»Was genau?«, fragte Gunnar.
»Das hier«, erwiderte August. »Dass wir zwei hier sitzen und so tun, als wären wir Polizisten. Ich will das nicht.«
»Aber die machen doch keinen guten Job. Ich kenne mich aus mit der Polizei, ich weiß, was die sich für eine Art Leute ranziehen. Das sind Verrückte, die auf Adrenalin und Testosteron sind und nicht imstande, zwei Dinge gleichzeitig zu denken. Alles, was die wollen, ist jemanden finden, den sie als Schuldigen benennen können, und dann zum nächsten Fall weiterrennen. Oder Kuchen essen. Darin sind sie gut – Ermittlungen und Menschen manipulieren und in Süßigkeiten schwelgen.«
»Ich höre, was du sagst«, erwiderte August, »und ich stelle fest, dass wir völlig unterschiedliche Erfahrungen mit der Polizei haben. Ich glaube, dass die alle Tage der Woche ihr Bestes geben. Und in den Fällen, in denen das nicht genügt, gibt es immer ein Gericht, das urteilt und entscheidet, was mit den Angeklagten geschehen soll. Ich glaube, dass …«
»Du täuschst dich, das ist es! Wie oft kommt denn die Polizei, wenn man sie ruft? Sehr selten, kann ich dir sagen. Die kümmern sich nur umeinander. Deswegen jagen sie unschuldige Menschen, so wie mich und den Mann von Lydia Broman.«
August sah auf.
»Den Mann von Lydia Broman …?«
»Der ist ja sowohl vorm Bezirksgericht als auch vorm Oberlandesgericht wegen Mordes an Lydia verurteilt worden.«
August hielt beide Hände hoch, um zu zeigen, dass er jetzt genug gehört hatte.
»Danke«, sagte er. »Das darfst du für dich behalten.«
»Verdammt noch mal«, entgegnete Gunnar, »ich weiß, wovon ich spreche, und alle anderen auf Hovenäset, die damals dabei waren, wissen das auch. Lydias Mann war unschuldig, das glaubten sogar Lydias Eltern. Wenn die Polizei uns nur zugehört hätte, dann hätten sie weitergesucht und den richtigen Täter gefunden.«
»Und wer soll das gewesen sein?«, fragte August. »Wer hat deiner Meinung nach Lydia ermordet?«
Gunnar schüttelte den Kopf. Er sah ehrlich berührt aus, als wäre das eine Tragödie, die ihn persönlich betraf.
»Das weiß ich nicht sicher«, sagte er. »Aber ich habe so meine Vermutungen.«
Dann wurde er wieder lebendig, und sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er sah sich neugierig um.
»Wo hast du ihn gefunden?«, fragte er.
August wurde wachsam.
»Wen?«
»Den, von dem Lydias Papa meinte, er hätte seine Tochter ermordet? Das war doch auch total verrückt, auch wenn ich als Vater verstehen kann, wie er dachte. Denn Lydias Vater wusste ja genau wie wir anderen, dass es wirklich nicht der Schwiegersohn sein konnte, der hier schuldig war.«
August wandte sich ab. Er dachte so selten wie möglich an die dunkle Geschichte seiner Immobilie, an die abscheulichen Geheimnisse, die buchstäblich in verschiedenen Teilen des Hauses begraben worden waren. Und er verabscheute Gunnars Gerede über den berüchtigten Stückelmord. Warum weigerte der sich, die Geschichte ruhen zu lassen? Kapierte er nicht, dass er indirekt auch eine Verantwortung dafür hatte, wenn Menschen wie Lydias Vater das Gesetz in die eigenen Hände nahmen?
August erhob sich.
»Ich will, dass du jetzt gehst«, sagte er.
Gunnar wurde ärgerlich.
»Aber wir haben ja noch nicht mal angefangen zu arbeiten!«
»Und das werden wir auch nicht. Gunnar, hör auf einen guten Rat: Geh mit all deinen Überlegungen zur Polizei. Um deinetwillen und um deiner Familie willen.«
Gunnar schüttelte den Kopf.
»Nie im Leben«, entgegnete er. »Ich vertraue der Polizei nicht, und das solltest du besser auch nicht.«
Er hob den Rucksack hoch, den er auf dem Boden abgestellt hatte, und nahm ihn auf den Schoß. Mit steifen Fingern zog er am Reißverschluss.
»Du bist ein guter Kerl, August«, sagte er, »aber du musst aufhören, so gutgläubig zu sein.«
Er holte einen dicken Stapel Papier aus dem Rucksack und ließ ihn mit einem dumpfen Knall auf den Küchentisch fallen.
»Die Zeit wird langsam knapp«, sagte er und legte eine Hand auf den Papierstapel. »Das hier ist meine Ermittlung zum Eishaus-Mord. Leider kann ich sie dir nicht kopieren, aber es gibt sie, und ich möchte, dass du das weißt. Ich habe eins und eins zusammengezählt und bin auf zwei gekommen, und das wird dir früher oder später auch so gehen. Axel ist nicht zufällig ermordet worden und ganz sicher nicht von mir. Ich glaube, jemand ist hinter seine Lüge gekommen, und da kommen nicht viele Personen infrage.«
August sah sprachlos auf den Papierstapel.
»Du siehst bekümmert aus, Strindberg.«
Gunnar hingegen wirkte triumphierend.
»Wer kümmert sich eigentlich um deine Frau, wenn du weg bist?«, fragte August in dem Versuch, ihn daran zu erinnern, dass er vielleicht Besseres zu tun hatte.
»Das macht der Pflegedienst, aber in sehr viel dichteren Abständen.«
Die triumphierende Miene verschwand, und jetzt sah Gunnar wieder alt aus.
Jemand ruckelte an der Tür zu Augusts Laden.
Das Geräusch ließ sie beide zusammenschrecken, und August spähte in den Laden, wo eine Frau um die vierzig an die Scheibe klopfte. Sie erblickte August und gestikulierte, doch er verstand sie nicht. Sie lächelte, während sie sprach, und hielt eine Tüte hoch.
Natürlich, eine Kundin. Und die wollte jetzt wissen, ob sie reinkommen durfte, obwohl der Laden noch nicht geöffnet war.
August hielt einen Finger in die Luft und zeigte auf sein Handy, das er in der anderen Hand hielt, um zu signalisieren, dass er noch ein Gespräch abschließen müsse, ehe er aufschließen könne.
»Du musst jetzt gehen«, sagte er und wandte sich an Gunnar. »Ich kann dich hinten rauslassen. Ich habe eine Kundin, die …«
Er unterbrach sich abrupt, als er die Waffe in Gunnars Hand erblickte. Dieselbe Waffe, die der Alte in der Nacht, als Axel gefunden wurde, mit sich herumgeschleppt hatte.
»Jetzt sieh nicht wieder so erschrocken aus«, sagte Gunnar verärgert und schob die Waffe in die Tasche. »Man kann nie vorsichtig genug sein, wenn jemand so dringend reinkommen möchte.«
Er erhob sich langsam und mit schmerzenden Knochen, das war deutlich zu erkennen.
August empfand eine plötzliche Zuneigung für den alten Mann.
»Jetzt lass es los«, sagte er. »Lass die Polizei in Ruhe arbeiten.«
Gunnar klopfte mit einem knotigen Finger auf die Ermittlungspapiere.
»Axel hatte ein dunkles Geheimnis«, sagte er. »Merk dir das. Wenn du den findest, der wusste, was er verbergen wollte, dann hast du auch seinen Mörder.«
»Ich habe nicht vor, nach seltsamen Geheimnissen und kuriosen Spuren zu suchen«, erklärte August. »Damit dürfen sich andere beschäftigen. Du dramatisierst das hier unnötig.«
»Entschuldige, ich tue was? Ich weiß nicht, wie ich Emmy nennen soll, aber bisher habe ich sie als eine Art Verbündete betrachtet, eine enge und liebe Freundin. Und sie hat mich an die Polizei verkauft. Hat behauptet, ich hätte kein Alibi. Für einen Menschen in meinem Alter gibt es nichts Dramatischeres. Aber ich bin früher schon betrogen worden, ich werde also klarkommen. Auch wenn ich jetzt älter und einsamer bin. Und abschließend möchte ich einfach betonen, dass ich nicht der Einzige bin, der all die Jahre die Eishaus-Geschichte im Blick behalten hat. Das geht vielen auf Hovenäset so.«
Gunnar zog sich seine Mütze auf, und August trat, das Handy fest ans Ohr gedrückt, noch einmal in die offene Tür, um neuen Blickkontakt mit der Frau aufzunehmen. Sie wartete geduldig.
»Axels Geheimnis«, sagte Gunnar, »danach hast du immer noch nicht gefragt.«
»Die Geheimnisse von anderen Menschen sind mir egal.«, erwiderte August.
Doch das stimmte nicht ganz, denn August war auch nur ein Mensch und genau wie andere neugierig.
»An dem Tag, als Lydia Broman starb, hat Axel gelogen, was sein Alibi anging«, sagte Gunnar mit heiserer Stimme. »Schau dir die Ermittlung an, und vor allen Dingen, rede mit der Polizei. Axel hat gelogen. Ich bereue, dass ich das nicht sofort gesagt habe, als ich verhört wurde, aber ich sage es jetzt. Und nein, das bedeutet nicht, dass er Lydia getötet hat, aber irgendetwas Übles hat er angestellt. Sonst hätte er ja nicht gelogen.«
August ließ langsam das Handy vom Ohr sinken.
»Und du selbst?«, fragte er. »Du hast auch gelogen, was dein Alibi angeht.«
Gunnar richtete sich auf und schob seine Ermittlungspapiere in den Rucksack zurück.
»Nein, Strindberg, das habe ich nicht getan«, antwortete er. »Ich war bei Emmy, und ich bin nach Hause gegangen, um nach meiner Frau zu sehen. Sie war aus dem Bett gefallen, und ich musste ihr zurückhelfen und dann auf den Pflegedienst warten. Mehr war es nicht. Aber Axel hingegen … seine Lüge war größer.«
Gunnar hustete.
»Warte nicht darauf, dass die Polizei handelt«, riet er. »Sprich mit Mary. Sie weiß am meisten. Geh hin und besuche sie, dann wirst du sehen, woran sie sich von dem Tag, an dem Lydia verschwand, zu erinnern beliebt.«