Der Anruf von Hillevi kam, als Ola auf der Toilette war. Er hatte die eingeplante Pause nicht abwarten wollen, sondern war vorzeitig aus dem Restaurant geschlichen. Als sie anrief, wusch er sich gerade die Hände.
»Hallöchen«, sagte er, als er ranging.
Obwohl er eigentlich sagen wollte:
Wo bist du, und was ist passiert?
So hatte ihre Kommunikation zumindest in den letzten Tagen ausgesehen, und jetzt wurde er jedes Mal nervös, wenn sie anrief.
Wie sich herausstellen sollte, hatte er auch diesmal allen Grund dazu.
»Jetzt sei bitte nicht böse«, sagte Hillevi.
Ola drückte das Telefon mit der Schulter ans Ohr und trocknete sich die Hände mit einem Papierhandtuch ab.
»Sag einfach, was passiert ist.«
»Sam und ich sind nach Hovenäset gefahren.«
»Nach Hovenäset? Um Oma zu besuchen? Aber du solltest doch heute in die Schule gehen. Das hatten wir vereinbart.«
Ola verließ den Toilettenraum.
»Nein, oder ja, ich weiß«, sagte Hillevi. »Aber ich … ich hatte eine Idee. Ich wollte, dass er den Ort sieht, wo es gebrannt hat«, erklärte sie. »Ich wollte, dass er mehr erzählt.«
Man hörte an ihrer Stimme, wie mitgenommen sie war.
Die gute Hillevi, die immer so erwachsen sein musste und die immer alles aus eigener Kraft organisieren musste.
»Hillevi, wo seid ihr jetzt?«
Sie schluchzte ins Telefon.
»Zu Hause bei dir. Aber wir müssen noch mal nach Hovenäset zurück.«
Ola sank auf einen Stuhl bei der Rezeption.
»Vergiss es.«
»Ich weiß, dass das idiotisch klingt, aber es ist wichtig. Sam hat total komische Sachen gesagt. Er spricht jetzt! Er sagt, es ist ein Mann gekommen und hat ihn geholt. Er sagt, der Mann hat ihn mit nach Hovenäset genommen, und dass sie da das Feuer gesehen haben. Aber … aber er sagt auch andere Sachen. Zum Beispiel, sie wären zu Hause bei einem Mann gewesen, der gefallen ist und sich an der Treppe gestoßen hat. Und … und er sagt, da wäre ein Fest gewesen.«
Ola umklammerte das Telefon.
»Was sagt er?«
»Dass sie auf ein Fest gehen sollten. Aber, kannst du nicht herkommen? Jetzt? Dann fahren wir wieder nach Hovenäset. Ich will, dass du dabei bist, wenn ich Sam bitte, mir das Haus zu zeigen.«
»Welches Haus?«
»Das Haus, in dem das Fest sein sollte.«
Ola nickte, und seine Gedanken liefen auf Hochtouren.
Er kannte nur eine Person, die auf der Treppe in ihrem Haus auf Hovenäset gefallen – oder gestoßen worden – war, und das war Axel Ehnbom.
Und Sam sollte dort gewesen sein?
Ola kapierte überhaupt nichts mehr.
Das ist doch kompletter Wahnsinn, dachte er.
Und hörte sich im nächsten Moment selbst sagen:
»Okay, ich komme und hole euch. Wartet zu Hause.«
»Nein. Wir gehen runter zur Bushaltestelle in Kungshamn, und wenn du nicht kommst, dann nehmen wir wieder den Bus.«
Es dauerte nur eine Viertelstunde, um von Smögens Hafvsbad nach Hovenäset zu fahren – inklusive Halt in Kungshamn. Die Strecke war knapp sieben Kilometer lang und zum Teil sehr hübsch. Davon nahm Ola heute aber nichts wahr. Erst bretterte er geradewegs über Smögenön und die Brücke und dann weiter nach Kungshamn (wo er angestrengt vermied, auch nur einen Blick auf Augusts Laden zu werfen).
Hillevi und Sam warteten wie abgesprochen an der Bushaltestelle.
Sie sahen so klein und einsam aus, wie sie da standen, dass Ola fast in Tränen ausgebrochen wäre. Man konnte sehen, dass sie beide traurig gewesen waren, vor allem aber Sam. Seine Augenlider waren geschwollen, und er atmete schluchzend, wie er es immer tat, wenn er schlimm geweint hatte.
»Es tut mir leid«, sagte Hillevi, sowie sie sich in das Auto gesetzt hatten. »Es tut mir leid, dass ich gelogen und gesagt habe, ich würde Sam in die Tagesstätte bringen und dann in die Schule gehen.«
Ola wusste nicht, was er sagen sollte.
»Du hast bestimmt das getan, wovon du meintest, dass es am besten wäre«, antwortete er.
Dann saßen sie die wenigen Kilometer bis nach Hovenäset schweigend im Auto.
Ola hatte sich viele Male gefragt, warum seine Mutter entschieden hatte, an diesem Ort zu bleiben. Sein Vater war dort verwurzelt gewesen und derjenige, der unbedingt dort wohnen wollte. Ola selbst hatte sich seine ganze Jugend über auf Hovenäset so wahnsinnig einsam gefühlt. Deshalb war seine Mutter auch so erstaunt gewesen, als er sich in Kungshamn niederließ.
»Ich dachte immer, du würdest auch nach Göteborg ziehen. Genau wie Patricia«, hatte sie gesagt.
Ola hatte keine Antwort darauf, warum er es nicht weiter als bis Kungshamn geschafft hatte. Und seine Mutter konnte ebenso wenig sagen, warum sie nicht von Hovenäset weggezogen war.
»Es hat sich einfach so ergeben«, pflegte sie zu antworten.
Vielleicht reichte das als Erklärung.
Es hat sich einfach so ergeben.
Ola parkte den Wagen auf dem Marktplatz und stieg aus. Es fühlte sich an, als würde er mit einem Mal allem, was er eigentlich vermeiden wollte, viel zu nah kommen.
Augusts Haus.
Seiner Mutter.
Der Kapelle, in der sich der Lesekreis getroffen hatte.
Sam versteckte sich, sofort nachdem sie ausgestiegen waren, hinter Hillevi.
Ola ging vor ihm in die Hocke und strich ihm mit dem Finger über die Wange.
»Bist du okay?«
Sam schüttelte den Kopf.
»Er will nach Hause fahren«, erklärte Hillevi.
Ola richtete sich auf.
»Dann sollten wir das vielleicht tun«, sagte er.
Hillevi kickte etwas Schnee über den Boden.
»Sam wird nicht gesund, wenn wir so tun, als wäre nichts passiert«, sagte sie.
Ola nahm Sam an die Hand.
Der Junge sah so erschöpft aus, es war völlig ausgeschlossen, ihn in diesem Zustand in die Tagesstätte zu bringen.
Ich muss den Rest der Konferenz schwänzen, dachte Ola.
Er musste sich um all die administrativen Angelegenheiten kümmern, wenn die Kinder eine Weile bei ihm wohnen würden. Vielleicht würde die Beraterin beim Jugendamt ihm helfen. Sodass er nicht die ganze Zeit von der Arbeit abhauen musste, sondern stattdessen offiziell freie Tage für die Kinder bekommen würde.
»Jetzt machen wir Folgendes«, sagte er. »Wir drehen hier eine Runde durchs Viertel und …«
»Nein.«
Sams Stimme war nur ein Flüstern, aber sein Nein glasklar. Ola, der ihn mehrere Tage nicht hatte sprechen hören, erschrak. Hillevi hatte recht. Es veränderte den Jungen, auf Hovenäset zu sein. Die dunkle Seite der Veränderung war, dass er offensichtlich sehr mitgenommen war, aber der positive Effekt, dass er endlich etwas sagte.
»Ich glaube, wir brauchen ein bisschen Luft, Sam«, sagte Ola. »Komm, wir gehen. Jetzt passiert nichts Schlimmes mehr. Das verspreche ich dir.«
Hillevi warf ihm einen raschen Blick zu. Wahrscheinlich fragte sie sich, ebenso wie Ola selbst, wie er etwas so Dummes versprechen konnte.
Vorsichtig zog er Sam an der Hand.
»Wir probieren es und schauen mal«, sagte er. »Wenn es sich nicht gut anfühlt, gehen wir zurück zum Auto.«
Er begann zu gehen. Ein hübsches Holzhaus nach dem anderen zog an ihnen vorbei. Es schmerzte ihn, als sie zum Kärleksvägen kamen. Sam marschierte schweigend an seiner Seite und hielt seine Hand ganz fest, wurde aber immer langsamer. Hillevi schloss an Sams Seite auf und nahm seine andere Hand.
»Siehst du das Haus, in dem der alte Mann gewohnt hat? Wo ihr aufs Fest gehen solltet?«
Sam schüttelte den Kopf.
Er hatte sich noch nicht wieder zurechtgefunden. Vielleicht würde er es auch gar nicht. Schließlich war es dunkel gewesen, als er hier war.
Sie kamen an die Ecke, an der die Straße nach rechts hinauf auf den Hovenäsvägen abbog.
Sowie sie um die Kurve gegangen waren, blieb Sam stehen.
»Jetzt ganz ruhig«, sagte Ola. »Hier warst du schon oft. Da vorne wohnt doch die Oma.«
Ola zeigte mit der Hand, und Sam schaute hin.
Doch nicht in dieselbe Richtung, in die Olas Finger wiesen, sondern in die andere.
»Da«, flüsterte er und hob seine eigene Hand.
Ola wollte am liebsten nicht zu dem Haus hinsehen, obwohl er die ganze Zeit gewusst hatte, auf welches Sam zeigen würde.
Das Haus von Axel Ehnbom.
Ihm wurde ganz übel, wenn er an das Blut dachte, das Hillevi in Sams Handschuhen entdeckt hatte.
Verdammter Mist.
Er nahm Sam auf den Arm und trug ihn zu Axels Grundstück. Als Sam versuchte, sein Gesicht an seinem Hals zu verstecken, riss er barsch seine kleinen Arme weg und setzte ihn auf dem Boden ab.
»Das hier ist sehr, sehr wichtig. Warst du in diesem Haus?«
Dicke Tränen rollten Sams Wangen herunter.
»Ja.«
»Du und der Mann, der dich geholt hat?«
»Ja.«
»Und die Mama war nicht dabei?«
»Nein.«
Sam weinte jetzt laut, und Ola sah sich nervös um. Hillevi wusste, wer Axel war, aber sie war auch älter als ihr Bruder. Patricia war nicht sonderlich verlässlich, was die Besuche bei ihrer alten Mutter anging, also war es nicht im Geringsten verwunderlich, wenn Sam nicht die Namen aller Nachbarn kannte.
»Hat der Mann erzählt, wer in diesem Haus wohnt?«, fragte Ola.
Sam nickte.
»Aber was solltet ihr denn dort machen?«, hakte Ola nach.
Sam schluchzte laut.
»Er hat gesagt, wir würden den Opa besuchen.«
Ola erschrak.
Den Opa?
Wenn man bedachte, dass, wie er kürzlich erfahren hatte, Kevin nicht Sams Vater war, dann war das gelinde gesagt seltsam. Welche gestörte Person hatte Sam mit zu Axel genommen und behauptet, seinen Opa zu kennen?
»Hat er das wirklich gesagt? Dass ihr den Opa besuchen würdet?«
Sam nickte.
»Aber was ist denn passiert? Habt ihr jemanden getroffen, der sich Opa nannte?«
Sam schüttelte den Kopf.
»Nur der im Auto hat den alten Mann Opa genannt.«
»Und welcher alte Mann war das?«
»Der da auf der Treppe lag. Das war mein Opa.«