Es war Zeit fürs Mittagessen. August spazierte zur Hafenbäckerei und bestellte ein Tagesgericht. In der Hosentasche steckte der Personenalarm, den er von der Polizei bekommen hatte. Würde der wirklich, wenn es hart auf hart kam, einen Unterschied machen?
In der Hafenbäckerei war es ruhig. Außer August waren nur drei andere Tische besetzt. An einem davon saß eine Gruppe Frauen, die Kaffee tranken und dabei Pullover strickten.
August liebte alles an der Hafenbäckerei. Einerseits lag sie so schön am Hafen, und wenn er dort aß, bedeutete das einen kurzen Spaziergang dorthin und zurück zum Laden. Manchmal aß er noch einen Kuchen zum Nachtisch. Jemand der so viel buk wie August war wählerisch, was Backwaren anging, doch diese Bäckerei übertraf seine Erwartungen immer wieder.
Doch ausgerechnet an diesem Tag war er nicht in seiner üblichen guten Stimmung dorthin unterwegs.
Das Mädchen an der Kasse begrüßte ihn freundlich, und er musste sich anstrengen, mit derselben Begeisterung zu antworten.
»Das wunderbare Winterwetter geht einfach immer so weiter«, sagte sie.
»Ja, das ist wirklich herrlich«, brummte August.
Das Zusammentreffen mit Gunnar ließ ihm keine Ruhe. Der Mann war wie besessen von allem, was mit Axel geschehen war. Gleichzeitig aber schämte er sich nicht, Axels Gedenken zu beschmutzen, indem er von dem Stückelmord sprach und behauptete, Axel hätte Probleme mit seinem Alibi gehabt.
Aber warum sollte Axel überhaupt ein Alibi brauchen?
Mussten alle, die zufällig an dem Ort wohnten, wo ein Verbrechen begangen worden war, automatisch bekräftigen können, was sie wo zum Tatzeitpunkt gemacht hatten? Im Verlauf eines Jahres gab es ziemlich viele Tage und Abende, an denen August nicht beweisen könnte, wen er getroffen hatte und warum.
August saß am selben Fenstertisch wie immer, wo ihm eine fantastische Meeresfrüchte-Pfanne mit frisch gebackenem Brot serviert wurde.
Auf dem Weg zurück in den Laden blieb er am Hafen stehen. Auch dort lag das Eis dick, doch nicht über den ganzen Sund bis nach Smögen hin. Mitten in der Eisdecke gab es eine Fahrrinne. Der Ausblick war bezaubernd. Die Liegeplätze der Boote waren leer, und nirgends erinnerte noch etwas an das Leben und den Trubel des Sommers. Als würde sich der ganze Ort mit den Jahreszeiten verändern und der Winter wäre nur etwas für die Dauerbewohner.
Langsam, fast widerwillig trabte er zum Laden zurück.
Vielleicht sollte er an einem Wochenende, wenn die Sonne schien und der Wind nur sacht wehte, den Verkauf nach draußen verlegen. Möglicherweise könnte er noch ein paar weitere Händler überreden mitzumachen. Anders als in Stockholm war es so unendlich viel leichter, in einem kleinen Ort wie Kungshamn Begeisterung für diese Art von Aktivitäten hervorzurufen.
Als er zum Laden kam, stellte er fest, dass er erwartet wurde. Normalerweise vermied er es, allzu spät zum Mittagessen zu gehen, weil das nicht zu seinen Öffnungszeiten passte, doch ausgerechnet heute hatte er eine Ausnahme gemacht.
»Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten«, sagte er, als er ankam.
Der Besucher, ein hochgewachsener junger Mann mit wachsamem Blick und entspannten Gesichtszügen, lächelte.
»Kein Problem«, sagte er. »Ich hätte anrufen sollen. Ich bin Elias Ehnbom.«
August hielt mitten in einer Bewegung inne.
»Hallo«, sagte er. Und dann: »Mein herzliches Beileid.«
»Danke«, sagte Elias. »Und danke für die Mail, die Sie geschickt haben.«
August schloss die Tür zum Laden auf und sah kritisch zur Alarmanlage hinüber, die immer noch nicht repariert worden war.
Elias hob einen Pappkarton vom Boden auf und brachte ihn mit in den Laden. Der Karton sah genauso aus wie der, den Axel in der Kapelle gefunden hatte, und Elias hob ihn ohne jede Anstrengung an. Vielleicht war er so ein Mann, der regelmäßig ins Fitnessstudio ging. Als er noch in Stockholm wohnte, hatte August das auch fleißig betrieben, aber jetzt blieb es bei langen Laufrunden und ein paar Fahrradtouren.
Ich bin ein Milchbubi geworden, dachte August. So einer mit Spatzenbizeps.
Er sah fragend zu dem Karton.
»Was für ein schöner Laden«, sagte Elias. »Unglaublich gemütlich.«
Jetzt war August an der Reihe, sich zu bedanken.
»Wir haben sozusagen Plätze getauscht, Sie und ich«, sagte Elias und stellte den Karton ab. »Ich komme von hier und bin aber nach Stockholm gezogen. Und Sie haben aus irgendeinem unerfindlichen Grund das Gegenteil getan. Ich weiß nicht, ob Sie das zu einem Genie macht oder ob Sie vielleicht schlicht verrückt sind.«
Er lachte und schüttelte leicht den Kopf.
»Ich wohne gerne hier«, erwiderte August und lächelte. »Aber ich verstehe sehr gut, wenn einem das weltfremd vorkommt.«
»Ehrlich gesagt sind Sie wahrscheinlich derjenige, der es richtig macht. Ich meine, wenn alle hier wegziehen würden und niemand mehr im Winter hier wohnen wollte, dann würde der Ort doch untergehen.«
Dann ging er vor seinem Karton in die Hocke.
»Ich glaube, es liegt ein Missverständnis vor«, erklärte er.
»Okay?«, sagte August.
»Wissen Sie, ich war unten bei Papas Boot. Und da habe ich diesen Karton gefunden.«
»In Axels Boot?«, fragte August erstaunt.
»Genau. Ihm gefiel die Werft auf Hovenäset nicht, deshalb hatte er das Boot immer auf einer der Werften auf Fisketången im Winterlager. Wie auch immer. In dem Boot stand also dieser Karton. Und ich muss zugeben, dass ich etwas verwirrt war, als ich ihn öffnete. Bitte sehen Sie sich das doch an.«
August hockte sich neben Elias.
In dem Karton stand ein großer Stapel dunkler glasierter Steingutteller, außerdem einige Zinnbecher mit schnörkeligem Blumenmuster.
»Mama und Papa haben diese Teller auf einer ihrer Reisen in den Siebzigerjahren in China gekauft«, erklärte Elias. »Ich glaube, mein Vater hat damals gesagt, sie seien an die fünfzig Jahre alt, also wären sie heute fast hundert. Und die Zinnbecher hat meine Mutter zu ihrem 40. Geburtstag geschenkt bekommen.«
»Die Teller sind sehr hübsch«, sagte August.
»Da sind wir uns einig«, sagte Elias. »Aber ich frage mich, warum Papa sie ins Boot gestellt hat.«
August strich über die raue Oberfläche eines der Teller.
»Das kann man sich wirklich fragen«, sagte er.
»Sie haben ja in Ihrer Mail angedeutet, dass Sie erstaunt waren, als Sie entdeckten, was Papa Ihnen in die Kapelle gestellt hat«, begann Elias.
August nickte.
»Vor allem war ich erstaunt, weil Steine in dem Karton lagen.«
»Könnte es so gewesen sein, dass Sie eigentlich dieses Porzellan und die Becher bekommen sollten und nicht den Projektor und die Kamera?«, fragte Elias. »Ich meine, das ist kein Vorwurf, ich wundere mich nur. Und ich verstehe wirklich nicht, warum diese Kiste hier im Boot stand. Und noch weniger verstehe ich, warum er einem Secondhandladen eine Menge Steine überlassen sollte.«
August Knie schmerzten, und er musste sich hinstellen. Auch Elias erhob sich. Eine Verwechslung würde ziemlich viel erklären.
»Wissen Sie was«, sagte August, »das ist tatsächlich durchaus möglich. Weil in dem Karton, den Axel in die Kapelle gestellt hat, Steine lagen, nehme ich mal an, dass die Kartons ungefähr gleich viel wogen. Außerdem sahen sie genau gleich aus. Wenn er also die Kartons zugeklebt hat, ehe er sie markierte, dann bestand die Gefahr, dass er sie vertauscht hat. Da müssen wir aber gar nicht viel drüber reden, denn wie ich schon in meiner Mail geschrieben habe, würde ich Ihnen gerne die Sachen geben, die Axel in der Kapelle zurückgelassen hat. Sie bekommen sie, sowie die Polizei damit fertig ist.«
Elias setzte sich auf einen von August Besucherstühlen.
»Sie haben also nichts von den Sachen, die in dem Karton lagen, hier im Laden?«, fragte er.
»Leider nur die Filmkamera.«
Ein Gedanke tauchte in Augusts Hinterkopf auf, doch er konnte ihn nicht in Worte fassen. Irgendetwas, was mit den Steinen und dem Boot zu tun hatte.
»Warum glauben Sie, dass es ausgerechnet der Karton im Boot war, den Axel mit dem verwechselt hat, den er mir in die Kapelle stellen wollte?«, fragte August vorsichtig. »So wie ich es verstanden habe, hatte Axel eine Menge Kartons zu Hause.«
Elias sah zögerlich aus, als wollte er eigentlich nicht erzählen, was er dachte.
Dann schien er jedoch eine Entscheidung zu treffen, denn er zog ein Handy aus seiner Tasche.
»Das stimmt«, sagte er. »Man kann im Haus sehen, dass Papa ordentlich aufgeräumt hat. Er war alt, und irgendwann im Leben muss man ja mal sterbeklar machen. Ich denke, dass er da eine Menge Sachen gefunden hat, die er wirklich nicht behalten wollte.«
Er reichte August sein Handy.
»Sehen Sie sich das an«, bat er. »Ich habe meinen Fund im Boot fotografiert, weil ich nicht wusste, was die Polizei sagen würde, wenn ich etwas daraus mitnehmen würde. Der Karton mit dem Porzellan lag in einem schwarzen Müllsack, der fast verschlossen war.«
August sah die Fotos an.
»Das ist im Grunde doch nicht so seltsam«, sagte er. »Ich meine, wenn er nun vorhatte, die Kamera im Boot aufzubewahren, dann wollte er sie wohl gut vor Feuchtigkeit schützen.«
Elias sah ihn schweigend an.
»Oder es gibt eine ganz andere Erklärung«, sagte er und schob das Handy in die Tasche zurück.
Da endlich konnte August den Gedanken fassen, der so schwer zu fangen war, und mit einem Mal ging ihm auf, wie Elias darauf gekommen war, dass es sich hier um eine Verwechslung handelte.
Es war nie so gedacht gewesen, dass August den Super-8-Film und die Fotos von Patricia Thynell sehen sollte. Axel hatte vorgehabt, den Karton mit der Kamera, dem Projektor und den Fotos im Boot zu verstauen, während er darauf wartete, im Frühjahr wieder mit dem Boot rausfahren zu können. Die Steine waren aus einem einzigen Grund in den Karton gelegt worden:
Damit er ordentlich versank, wenn Axel ihn über Bord warf.