Herumschnüffelnde Nachbarn waren eine Geißel im Privatleben, aber eine große Hilfe im Polizeijob. Das hatte Maria mehr als einmal bereits erfahren. Die Nachbarin von Patricia nun war schwer einzuschätzen. Weder Maria noch Ray-Ray wussten, was sie mit der Information, dass sie den Jungen in der Nacht zwischen dem 25. und dem 26. Januar im Treppenhaus gesehen hatte, anfangen sollten. Sie berieten sich draußen auf der Straße darüber, ehe sie wieder zu Patricias Wohnung zurückgingen und noch einmal anklopften.

»Schauen wir mal, wie sie darauf reagiert, wenn wir von Axel und dem Brand sprechen«, sagte Maria. »Und wenn es passt, dann erwähnen wir noch die Zeugenaussage der Nachbarin zu dem Jungen.«

Sie mussten dreimal klopfen, ehe Patricia endlich öffnete.

Bevor die Tür aufging, wurde die Sicherheitskette vorgelegt.

Ein schmales Gesicht schaute durch den Türspalt.

»Was wollen Sie? Kann man nicht in Ruhe schlafen?«

Ihr Blick wirkte total erschöpft, und das Gesicht war so mitgenommen, dass man kaum einschätzen konnte, wie alt sie war.

Ray-Ray und Maria zogen ihre Ausweise heraus.

»Wir kommen von der Polizei. Wir würden gerne mit Ihnen sprechen.«

Die Farbe des Gesichts im Türspalt wechselte von Bleich zu Weiß.

»Ist den Kindern was zugestoßen?«

Wieder Kinder.

»Seien Sie gut so gut und öffnen Sie die Tür, dann sprechen wir in Ihrer Wohnung«, schlug Maria vor.

Sie verspürte wirklich keine Lust, zu Patricia hineinzugehen. Der Zigarettengestank, der aus dem Türspalt drang, war schon überwältigend und brannte in der Nase.

Patricia fluchte leise vor sich hin, während sie mit der Sicherheitskette kämpfte.

»Verdammte, verfickte Scheiße.«

Sie zog die Tür zu, um die Kette abzumachen, und öffnete dann richtig.

Ray-Ray ging zuerst in die Wohnung, Maria folgte.

Patricia stand ein paar Meter von ihnen entfernt. Ihre Haare waren verfilzt, und sie trug ein ausgewaschenes T-Shirt, das auf der Hälfte der Oberschenkel endete. Ihre ganze Körpersprache signalisierte Unsicherheit. Mal hatte sie die Hände in die Seiten gestützt, dann wieder die Arme über der Brust verschränkt. Der Blick flackerte.

»Sind Sie allein in der Wohnung?«, fragte Maria.

Patricia nickte.

»Und die Kinder? Wo sind die?«

Patricia sah aus, als würde sie in Tränen ausbrechen.

»In der Schule, nehme ich an«, antwortete sie.

Es gab keine Anhaltspunkte, dass Patricias Kinder in eine Pflegefamilie gekommen wären, und doch klang es so, als hätte sie keine Ahnung, wo sie sich aufhielten.

Maria ließ den Blick durch die Wohnung wandern. Laut Einwohnermelderegister wohnte Patricia seit Oktober hier, doch wirkte es nicht wie ein Zuhause, sondern vielmehr wie eine provisorische Lösung für jemanden, der schnell ein Dach über dem Kopf gebraucht hatte.

Sie hätten eine umfassendere Hintergrundüberprüfung durchführen müssen, ehe sie nach Hause zu Patricia fuhren, das wusste Maria. Die Kinder waren nur eines von vielen Details, zu denen ihnen Informationen fehlten. Doch gleichzeitig war klar, dass sie das Verhör mit Marys Tochter nicht aufschieben konnten.

Patricia sah verloren aus und zupfte an ihrem T-Shirt in dem Versuch, es länger zu machen. Dann schüttelte sie ein lauter Hustenanfall. Obwohl sie in die Armbeuge hustete, hörte man doch, wie schlecht es ihr ging.

»Ich hole ein Ihnen ein Glas Wasser«, sagte Maria.

Unter dem Vorwand suchte sie die Küche auf.

Da stand schmutziges Geschirr in der Spüle, und es roch schwach nach Müll. Auf dem Küchentisch lagen einige ungeöffnete Fensterumschläge, einer davon trug das Logo des Finanzamts. Patricia führte sie ins Wohnzimmer und ließ sich in einen großen Sessel aus Lederimitat sinken, der allein mitten im Zimmer stand.

»Hier.«

Maria reichte ihr das Wasser.

Patricia leerte in einem Zug das halbe Glas. Dann griff sie nach einem Zigarettenpäckchen, das auf einem der herumstehenden Umzugskartons lag. Beim Anzünden der Zigarette fiel es ihr schwer, die Hand still zu halten.

Ray-Ray machte seine Jacke auf und holte die Bilder heraus, die sie auch bei Mary dabeigehabt hatten.

»Kennen Sie dieses Mädchen?«, fragte er und reichte ihr die Fotografien.

Patricia legt die Zigarette weg und blätterte mit großen Augen durch den Stapel Bilder.

»Das bin ich«, sagte sie. »Woher haben Sie die denn?«

»Sie sind Teil einer Ermittlung, mit der wir befasst sind«, sagte Maria. »Wissen Sie, wer die Fotos gemacht hat?«

Patricia sah die Bilder eingehend an. Sie war jetzt aufmerksamer und offensichtlich fasziniert von dem, was sie da sah.

»Keine Ahnung. Wo haben Sie die gefunden?«

»Bei Axel Ehnbom«, antwortete Ray-Ray.

Das war eine vereinfachte, aber doch ausreichende Erklärung.

Patricia sah fassungslos aus. Ihre Miene hatte etwas unverstellt Erstauntes, was sie sowohl jünger als auch frischer aussehen ließ.

»Kannten Sie Axel?«, fragte Maria. Patricia legte die Fotos auf die Armlehne und griff erneut nach dem Zigarettenpäckchen. Ohne daran zu denken, dass sie bereits eine Zigarette im Aschenbecher liegen hatte, zündete sie sich noch eine an.

»Natürlich kannte ich Axel«, sagte sie.

»Und Sie wissen auch, was ihm zugestoßen ist?«, fragte Ray-Ray.

Patricia nickte.

»Das wissen doch alle«, sagte sie. »Natürlich tut es mir leid wegen Mama, aber wir anderen werden es schon verkraften.«

Sie saß mit übergeschlagenen Beinen da und wippte ununterbrochen mit dem Fuß, der nicht auf dem Boden stand.

»Ihre Mutter?«, fragte Maria vorsichtig.

»Sie mochte Axel sehr.«

»Waren die beiden ein Paar?«

Patricia lachte auf.

»Nein, das hoffe ich wirklich nicht.«

Maria dachte an Gunnars Zeugenaussage, an den Kuss, den er gesehen zu haben behauptete. Und dann an Marys Beteuerung, dass es überhaupt keinen Kuss gegeben habe.

Ein neuer Hustenanfall überkam Patricia. Als sie wieder Luft bekam, waren Hals und Gesicht hochrot.

»Wo befanden Sie sich am Abend des 25. Januar?«, fragte Ray-Ray.

Patricia wirkte kleinlaut.

»Zu Hause«, sagte sie. Und dann: »Nein, verdammt, da war ich doch beim Coop. In Uddevalla. Dann bin ich zu einer Freundin nach Hause gefahren und habe dort übernachtet.«

»Wollen Sie mich veralbern? Sie haben doch den Coop hier um die Ecke.«

»Ich fahre gerne Auto. Und der in Uddevalla ist viel größer.«

»Hatten Sie jemanden bei sich?«

»Nein. Aber … also, brauche ich jetzt einen Anwalt, oder was ist das hier?«

»Wir fragen alle, die wir verhören, was sie an dem bestimmten Abend gemacht haben«, erklärte Maria. »Und ehe wir gehen, brauchen wir den Namen Ihrer Freundin.«

Patricia nickte kurz.

»Wo waren die Kinder, als Sie in Uddevalla eingekauft und übernachtet haben?«, erkundigte sich Ray-Ray.

»Hier.«

»Allein?«

»Hillevi ist dreizehn, sie ist supergut darin, auf Sam aufzupassen.«

»Wir haben eine Zeugin, die behauptet, Ihr Sohn sei spät in der Nacht allein im Treppenhaus unterwegs gewesen«, sagte Maria. »Stimmt das?«

Patricia schüttelte den Kopf.

»Nein. Oder vielleicht.«

»Schwer zu sagen, wenn Sie nicht zu Hause waren, oder?«, warf Ray-Ray ein.

»Manchmal, wenn ich nachts weg bin, steht Sam auf und sucht nach mir. Das ist nichts Großartiges, Hillevi ist sehr tüchtig und hilft ihm dann wieder ins Bett.«

Ray-Ray sah aus, als würde er ihr am liebsten eine runterhauen, besann sich dann aber.

Wir müssen das hier anzeigen, dachte Maria, aber nicht jetzt.

Sie suchte Ray-Rays Blick, um ihn zur Ruhe zu bringen, und holte ihr Telefon heraus.

»Ich möchte, dass Sie sich noch etwas ansehen, Patricia«, sagte sie.

Maria zeigte ihr den Filmabschnitt, auf dem Lydia in ihrem Konfirmationsumhang zu sehen war.

Patricia wurde ganz still. Der Fuß hörte auf zu wippen, und sie nahm vorsichtig das Telefon in die Hand und wollte es selbst halten, während sie schaute.

Maria ließ es widerwillig los.

Die Atmosphäre im Raum veränderte sich.

»Das ist ja Lydia Broman«, sagte Patricia.

»Sie kannten sie?«, fragte Ray-Ray.

»Mehr oder weniger, ich wusste natürlich, wer sie war. Aber Lydia war viel älter als ich. Als sie starb, ging ich noch in die Unterstufe. Woher kommt der Film?«

»Ebenfalls von Axel.«

Patricia nahm eine ihrer angefangenen Zigaretten auf und zündete sie noch einmal an. Sie sah schockiert aus.

»Haben Sie diesen Film meiner Mutter gezeigt?«, fragte sie.

Maria nickte.

»Ja, das haben wir.«

»Da ist sie aber schwach geworden, oder?«

Patricia nahm noch einen Zug von der Zigarette.

Maria spürte den Rauch in der Luftröhre kitzeln.

»Sagen Sie uns einfach direkt, was Sie damit meinen, wir haben keine Zeit für Andeutungen«, sagte sie.

Patricias Fuß begann wieder zu wippen.

»Axel war nicht sonderlich nett«, sagte sie. »Er hatte so seine Macken.«

»Und was waren das für ›Macken‹?«, fragte Ray-Ray.

»Verdammt übles Zeug.«

Es wurde still, während ihre Antwort einsank.

Verdammt übles Zeug.

Was bedeutete das für jemanden wie Patricia?

»Erzählen Sie«, forderte Maria sie auf.

Patricia klopfte die Asche von der Zigarette.

»Axel hatte kein Alibi, als er der Polizei sagen sollte, wo er war, als Lydia verschwand. Also hat er sich eins ausgedacht. Und da fragt man sich ja, warum. Ich meine, wer mit reinem Gewissen muss lügen?«

In Marias Tasche vibrierte das Handy, aber sie ging nicht ran.

Axel hatte kein Alibi, als Lydia verschwand.

Also hat er sich eins ausgedacht.

»Wer hat Ihnen das erzählt?«, fragte Ray-Ray.

Gunnar, dachte Maria.

»Spielt das eine Rolle?«, gab Patricia zurück.

»Das spielt eine krass große Rolle.«

Patricia griff nach einer neuen Zigarette.

»Ich erinnere mich nicht, wer das erzählt hat«, sagte sie.

»Jetzt hören Sie schon auf«, entgegnete Maria.

»Dann werden Sie mich wohl foltern müssen«, sagte Patricia und zuckte mit den Schultern. »Ich erinnere mich trotzdem nicht.«

Maria versuchte die Puzzleteile zusammenzufügen.

Schützte Patricia jemanden? Oder redete sie einfach nur dahin?

Wieder vibrierte ihr Handy.

Maria entschuldigte sich und nahm das Gespräch in der Küche entgegen.

Die Stimme einer älteren Frau war zu hören.

»Ich heiße Selma Valtersson und bin pensionierte Kriminalinspektorin«, sagte sie. »Ich bin gebeten worden, mich bei euch wegen der Ermittlung im Stückelmord auf Hovenäset zu melden. Eine belastende Geschichte.«

Maria war sofort angespannt.

»Danke, dass du anrufst«, sagte sie. »Es ist gerade ein wenig ungünstig, aber darf ich dich vielleicht später zurückrufen?«

»Selbstverständlich. Ich bin hier, ruf an, wenn du Zeit hast. Roland hat etwas über ein Alibi gesagt, das ihr noch mal überprüfen wollt?«

»Das stimmt«, sagte Maria. »Es geht darum, was Axel Ehnbom zum Zeitpunkt des Mordes getan hat, aber …«

»Auf die Frage kann ich sofort antworten«, erklärte Selma Valtersson. »Er hatte ein ausgezeichnetes Alibi, denn er hat den ganzen betreffenden Tag mit einer Nachbarsfrau verbracht.«

»Erinnerst du dich, wie die hieß?«, fragte Maria leise.

»Ja, durchaus, denn ich fand, sie hat so einen schönen Vornamen. Mary Thynell hieß sie.«

Marias Herz schlug schneller.

»Und es gab keinen Grund zu der Annahme, dass mit dem Alibi irgendetwas nicht stimmte?«

»Nein, absolut nicht.«

Maria schob das Handy wieder in die Tasche. Mit einem Mal hatte sie genug von den ganzen Einbahnstraßen und Halbwahrheiten. Mary hatte Axel ein Alibi gegeben, was von den Polizisten, die die Ermittlung durchführten, als glaubwürdig eingeordnet worden war.

Trotzdem deuteten sowohl Gunnar als auch Marys Tochter an, die Wahrheit sehe anders aus und Axel habe kein Alibi gehabt.

Und auf seinem Schreibtisch hatten sie schriftliche Drohungen gefunden, dass etwas enthüllt werden würde, was er zur Tatzeit des Mordes getan habe.

Entschlossen ging Maria zurück ins Wohnzimmer. Ray-Ray sah auf, als sie reinkam, er spürte ihre veränderte Stimmung.

»Sie lügen«, sagte sie und sah Patricia direkt an. »Sie lügen, dass Axel kein Alibi für den Mord an Lydia Broman gehabt haben soll. Warum denken Sie sich so etwas aus?«

Patricias Antwort war eine trotzige Bewegung mit dem Kopf.

»Ich lüge überhaupt nicht«, gab sie zurück.

»Hören Sie auf, Blödsinn zu quatschen«, sagte Maria.

Patricia schoss aus dem Sessel hoch.

»Aber ich lüge nicht!«

Ray-Ray verfolgte schweigend die hitzige Diskussion.

»Sie lügen die ganze Zeit«, erwiderte Maria barsch. »Ganz bestimmt lügen Sie auch darüber, wo Ihre Kinder sind. War das Jugendamt vielleicht bereits hier und hat sie abgeholt? Die mögen Menschen auch nicht so gerne, die mit Unwahrheiten um sich werfen.«

Das war eine bewusste Provokation, und die griff.

»Sind Sie etwas träge im Kopf, oder was?«, schrie Patricia. »Das Jugendamt hat meine Kinder nicht mitgenommen. Und ich lüge nicht. Ich habe ein paar alte Briefe bei meiner Mutter gefunden. Sie und Axel waren befreundet. Und er hat geschrieben und sich herzlich dafür bedankt, dass sie ihm ein falsches Alibi verschafft hat.«

Es war, als gäbe es plötzlich keinen Sauerstoff mehr im Zimmer.

Patricia sank wieder in den Sessel und schluchzte.

Ray-Ray stand leise auf und suchte Marias Blick. Sie bedeutete ihm, dass alles in Ordnung war. Dann ging sie vor Patricia in die Hocke.

»Ich lüge nicht.«

»Ich glaube Ihnen«, sagte Maria. »Wo können wir diese Briefe finden?«

»Bei meiner Mutter.«

Maria holte tief Luft.

»Patricia, haben Sie Axel erpresst?«

Patricia wandte den Blick ab.

Maria legte eine Hand auf ihr Knie.

»Haben Sie das getan?«

Patricia schüttelte den Kopf.

»Nein.«

»Sicher?«

»Ja.«

Maria zog ihre Hand weg. Sie war überzeugt davon, dass Patricia über die Briefe und Axels Alibi die Wahrheit sagte. Doch war sie alles andere als sicher, was die Frage der Erpressung betraf.