Die Sonne schien, aber alles fühlte sich kalt an. Ola stieg langsam die Treppe zum Haus seiner Mutter hoch. Eine Treppe, die sein Vater einst gebaut hatte und die Ola schon unzählige Male rauf und runter gerannt war. Weil er zur Schule musste, zu Freunden, zum Fußballtraining, zum Bus oder einfach nur, weil er weg wollte. Seine ganze Jugend lang hatte er an ein und derselben Adresse gewohnt. In dem Haus, in dem seine Mutter jetzt alleine wohnte.

Ola starrte erst mal auf die Tür.

Er hatte einen eigenen Schlüssel, wollte ihn aber nicht benutzen.

Er fühlte sich total fremd, und das erschreckte ihn.

Sams Worte hallten in seinem Kopf nach:

Der da auf der Treppe lag. Das war mein Opa.

Ola klopfte an die Tür. Hinter ihm standen Hillevi und Sam.

Es dauerte eine Weile, bis seine Mutter kam und öffnete. Da hatte Ola schon viel nachdenken können.

Der da auf der Treppe lag, war Axel gewesen. Sollte etwa ausgerechnet Elias Sams Vater sein? Das war nicht möglich. Elias, der immer so schick und ordentlich und erfolgreich war – die Antithese in Person zu Olas Schwester.

Und dann waren da noch die Fotos von Patricia mit der schnörkeligen Handschrift seines Vaters auf der Rückseite. Bilder, die Axel Ehnbom bekommen hatte.

Warum das denn?

Ola kriegte die Geschichte nicht zusammen.

Auf der Straße rollte ein Auto vorbei.

Es fuhr sehr langsam, und der Fahrer sah zu ihnen hin.

Ola erkannte, wer es war.

Elias Ehnbom.

Axels verlorener Sohn, der vor mehreren Jahren mit seinem Vater gebrochen hatte. Warum, wusste Ola nicht, und er fand auch nicht, dass ihn das was anging. Zumindest hatte er das bisher gedacht. Jetzt war er da nicht mehr so sicher. Nicht, nachdem jemand Axel zu Sams Opa erklärt hatte.

Das Geräusch des Autos verschwand in der Ferne.

»Was ist denn, Sam?«

Hillevis Stimme klang klar, aber erschrocken.

Ola drehte sich um, und gleichzeitig näherten sich schleppende Schritte auf der anderen Seite der Tür.

Sam war auf der Treppe zusammengesunken und hielt sich die Hände vors Gesicht.

»Was ist los?«

Ola sah Hillevi an, als Sam nicht antwortete.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sie. »Das Auto ist vorbeigefahren und – poff – saß er plötzlich da.«

Ola sah in die Richtung, in die Elias gefahren war.

Ein sehr unbehaglicher Gedanke nahm Form an.

Die Tür hinter Ola ging auf.

»Hallo?«

Seine Mutter schaute heraus, aber Ola kümmerte sich nicht um sie.

»Hast du den Mann in dem Auto erkannt, Sam?«, fragte er.

Der Junge nickte, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen.

»Woher?«

Sam flüsterte kaum hörbar:

»Das war der, der mich abgeholt hat.«

»Ola, was ist denn los?«

Seine Mutter stand in der Tür und fror. Ging es ihr jetzt noch schlechter? Ola fand, sie sah dünn und schwach aus.

Er sah sie eindringlich an.

»Mama, wir müssen reden.«

Er hob Sam hoch und nahm ihn und Hillevi mit ins Haus.

»Ich möchte mit der Oma alleine reden«, sagte er.

Hillevi sah wütend aus.

»Ich will auch dabei sein«, sagte sie.

»Nein«, entgegnete Ola entschieden. »Du musst dich solange um deinen Bruder kümmern.«

Hillevi starrte ihn wütend an, und er verstand, was sie dachte. Dass immer sie diejenige war, die sich um Sam kümmern musste. Immer. Und jetzt passierte das schon wieder.

Das wird alles anders werden, dachte Ola. Ich muss nur erst diesen Mist hier geregelt kriegen.

»Sei so lieb«, bat er. »Pass ein Weilchen auf deinen Bruder auf.«

»Ihr könnt im Seeräuberzimmer spielen, wenn ihr wollt«, schlug seine Mutter vor.

Hillevi verdrehte die Augen, aber Sam sah vorsichtig positiv aus. Er hatte den alten Erker im Obergeschoss das Seeräuberzimmer getauft. In dem Raum (der eigentlich zu klein war, um überhaupt Raum genannt zu werden) gab es ein rundes Fenster, das man nicht öffnen konnte. Sam reichte nur daran, wenn er auf Zehenspitzen stand, aber von dort aus rauszusehen gehörte zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.

»Niemand sieht mich«, hatte er zu Ola gesagt, »aber ich sehe alle anderen.«

Ola schluckte. Sam hatte immer so eine lebendige Fantasie gehabt und viel gesprochen und gelacht. Ola hoffte zutiefst, dass er bald wieder er selbst sein würde.

Hillevi nahm Sams Hand und ging mit ihm hinauf ins Obergeschoss.

»Komm«, sagte sie. »Die Erwachsenen wollen gerade nichts mit uns zu tun haben.«

Olas Mutter setzte an zu protestieren, doch Ola brachte sie mit einem scharfen Blick zum Schweigen. Sie würden sich später um Hillevi und Sam kümmern müssen. Dass sie jetzt nicht dabei sein durften, geschah zu ihrem eigenen Besten.

»Ola, du erschreckst mich«, sagte seine Mutter, als die Kinder außer Hörweite waren. »Was ist denn los?«

»Das frage ich mich auch«, erwiderte Ola kurz.

Er ging mit seiner Mutter in die Küche und machte die Tür hinter ihnen zu.

Mit der Küche war es wie mit der Treppe hinauf zur Eingangstür: Sein Vater hatte sie gebaut. Ola war fünf Jahre alt gewesen, als sein Vater einen ganzen Sommer darauf verwandte, ihre Küche neu zu machen. Das war ein guter Sommer gewesen. Sein Vater war immer in harmonischer Stimmung, wenn er etwas mit den Händen schuf. Im Nachhinein kam es einem völlig unbegreiflich vor, dass er so viel Zeit und Energie auf seinen gewöhnlichen Bürojob verwandt hatte. Warum war er nicht stattdessen Schreiner geworden? Dann wäre er vielleicht imstande gewesen, den Alltag nüchtern zu bewältigen. Und dann wäre er vielleicht nicht erst arbeitslos und dann Frührentner geworden.

Eine schwierige Familie.

Seine Mutter atmete schwer und ließ sich am Küchentisch nieder.

Ola setzte sich ihr gegenüber.

Er wusste genau, was er herauskriegen wollte, aber nicht, wie er die Frage stellen sollte, um auch eine ehrliche Antwort zu bekommen. Nachdem er verschiedene Varianten erwogen hatte, begann er zögernd:

»Als ich das letzte Mal hier war, haben wir von Sams Vater gesprochen und dass es jemand anderes als Kevin sei. Du hast gesagt, es sei wichtig, dass kein Vaterschaftstest gemacht wird. Aber ich glaube, dass du bereits weißt, was bei so einem Test herauskommen würde.«

Seine Mutter sagte keinen Ton, sondern saß ihm nur steif und stumm gegenüber.

Abgesehen vom leisen, dumpfen Brummen des Kühlschranks war es ganz still.

Ola setzte alles auf eine Karte und fragte geradeheraus:

»Ist Elias Ehnbom der Vater von Sam?«

Seine Mutter gab einen jammernden Ton von sich.

»Lieber Ola, wie kommst du denn darauf? Und warum musst du in der Sache herumwühlen?«

Der letzte Satz verriet sie.

Sie wusste es.

»Komm mir nicht mit dem Mist«, entgegnete Ola. »Ich bin viel zu lange lieb genannt worden, das will ich jetzt nicht mehr. Und halt mich nicht länger außen vor, Mama. Die Kinder wohnen jetzt bei mir. Ich habe ein Recht, es zu erfahren.«

Eine einsame Träne rollte ihre Wange hinunter.

Ola kämpfte, um nicht eine Hand auszustrecken und sie wegzuwischen.

Mama.

»Du weißt nicht, was du da verlangst«, erwiderte sie mit heiserer Stimme.

Doch Ola ließ nicht locker.

»Es ist also wahr?«, fragte er. »Elias ist der Vater von Sam?«

Seine Mutter nickte.

Sie sah schrecklich mitgenommen aus.

Ola selbst reagierte nur mit Erstaunen.

Seine Schwester und Elias.

Wie um alles in der Welt war das passiert, und was war in Elias gefahren, als er Sam mitten in der Nacht mit nach Hovenäset genommen hatte?

Seine Mutter schnäuzte sich in ein Taschentuch und fragte:

»Wie hast du es rausgekriegt?«

Ola berichtete, was er von Sam und Hillevi erfahren hatte. Über den alten Mann auf der Treppe, der Opa genannt wurde.

Seine Mutter verbarg das Gesicht in den Händen.

Ola versuchte sie zu trösten:

»Mama, du musst darauf vertrauen, dass es wieder gut werden kann. Aber du musst alles der Polizei erzählen. Denn Elias ist gefährlich. Wahnsinnig gefährlich. Niemand weiß, was er sich nächstes Mal ausdenkt. Ich glaube, dass … ich glaube, er hat Axel getötet. Warum weiß ich nicht, aber Mama, er hat Sam mitgenommen. Er hat seinen toten Vater einem Kind gezeigt. Seinem eigenen Kind. Das tut man einfach nicht.«

Seine Mutter sah auf.

»Es gibt außerdem noch zwei Dinge, die du erst erfahren musst«, sagte sie. »Ehe du entscheidest, ob du zur Polizei gehst.«

Ola sah sie angespannt an.

»Über Axel?«, fragte er.

»Ja«, sagte seine Mutter leise. »Und über Patricia. Und über etwas, was vor sehr langer Zeit geschehen ist.«