Als Kind war Ola immer so still gewesen, dass seine Eltern sich schon Sorgen gemacht hatten. Warum tobte er nicht herum wie die anderen Kinder? Warum kam kein Trotzalter, keine Wutanfälle als Teenager?
»Du bist so verschlossen«, pflegte seine Mutter zu sagen.
Und dann schaute sie zu Olas Schwester und fügte hinzu:
»Und da haben wir eine, die exakt jeden Gedanken rauslässt.«
Dieses Phänomen hatte über all die Jahre hinweg gehalten. Ola war weiterhin ausgeglichen und seine Schwester hingegen anstrengend und exaltiert.
Doch an diesem Tag hier war Olas Selbstkontrolle geschwächt. Er fühlte sich wie ein bei Sturm und fünfzehn Meter hohen Wellen auf dem offenen Meer schaukelndes Segelboot.
»Erzähl«, sagte er. »Erzähl mir, warum ich nicht zur Polizei gehen soll. Und schieb es nicht darauf, dass Elias Sams Vater ist, wenn er das nun wirklich ist.«
»Laut Patricia gibt es nur zwei Männer, die rein von der Zeit her gesehen Vater von Sam sein können, und ich glaube ihr leider.«
»Das hilft nichts«, entgegnete Ola. »Wir können keinen Mörder schützen, das geht einfach nicht.«
Seine Mutter senkte den Blick.
»Das hier ist so unglaublich schwer«, sagte sie. »Im Grunde geht es dir am besten, wenn du nicht mehr erfährst, aber ich merke jetzt, dass ich vielleicht keine Wahl habe.«
Ola wartete darauf, dass sie weitersprechen würde. Wenn die Absicht gewesen war, seine Neugier zu dämpfen, dann war der gegenteilige Effekt eingetreten.
Als er gerade den Mund öffnete, um sie zu bitten, doch weiterzureden, klopfte es an der Tür.
Er stand auf.
»Mach nicht auf«, bat seiner Mutter. »Nicht jetzt.«
»Was heißt das, nicht jetzt?«, fragte Ola. »Wer ist das?«
Sie antwortete nicht.
Er versuchte es wieder:
»Mama, wer ist das?«
Dann begriff er. Das bleiche Gesicht seiner Mutter und ihre offenkundige Angst.
Ola schluckte.
»Elias«, sagte er.
Seine Mutter zögerte, aber nur einen Moment. Dann nickte sie leicht.
»Du weißt, dass er Axel ermordet hat«, sagte Ola heiser. »Du glaubst es nicht, du weißt es. Deswegen hast du so eine Angst.«
»Nein«, entgegnete sie. »Aber … Elias ist nicht der, der du glaubst. Er …«
»Jetzt hör schon auf! Mama, wir müssen die Polizei rufen. Jetzt!«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du verstehst nicht«, sagte sie. »Eine Anzeige bei der Polizei würde so vieles zerstören.«
Es klopfte wieder an der Tür.
Die Kinder, dachte Ola. Wir müssen die Kinder schützen.
Er riss die Küchentür auf und sah nach Hillevi und Sam. Sie waren nicht zu sehen, aber aus dem oberen Stockwerk hörte man gedämpft Schritte.
In Olas Brust brannte es.
Gleichzeitig hörte er, wie die Eingangstür geöffnet wurde.
Seine Mutter und er sahen sich an.
»Hast du nicht abgeschlossen?«, zischte Ola.
Mary schüttelte den Kopf.
Wieder raste sein Puls.
Teufel, noch mal.
Was sollte er tun? Eins von den stumpfen Kartoffelmessern nehmen und zur Tür rennen?
»Mama, was geht hier vor?«
»Wir hätten mit Patricia und Elias sprechen sollen. Jetzt ist alles zu spät.«
Ola war drauf und dran loszuschreien.
Welche »wir« hätten mit Patricia und Elias sprechen sollen? Und worüber?
»Jetzt keine weiteren Rätsel mehr«, entgegnete er mit tonloser Stimme. »Verstehst du nicht? Ich werde wahnsinnig, Mama. Und zwar richtig!«
Seine Mutter klammerte sich an die Tischkante.
Im nächsten Moment war in der Küchentür ein Schatten zu erkennen.
Elias Ehnbom stand mit hängenden Armen und mattem, aber wachsamem Blick auf der Schwelle.
»Entschuldigung, dass ich störe«, sagte er. »Aber ich kann nicht länger warten.«
Stumm vor Schreck und Verachtung gegenüber seiner eigenen Angst und Tatenlosigkeit sah Ola, wie Elias die Küche seiner Mutter betrat und die Tür hinter sich zumachte.
»Die Kinder sind oben«, sagte Mary leise. »Ich möchte nicht, dass sie dich sehen oder hören.«
Elias nickte. »Ich werde nicht lange bleiben«, sagte er.
Irgendetwas war komisch mit der Stimmung im Raum. Sehr komisch. Denn es sah so aus, als hätte die Angst seiner Mutter gar nichts mit Elias zu tun. Das war unbegreiflich. Kapierte sie nicht, dass Elias gefährlich war?
»Was zum Teufel geht hier vor?«, flüsterte Ola.
Elias und seine Mutter sahen sich an.
Dies hier schien wie ein Zusammentreffen in aller Einigkeit zu sein. So als wären sie gute Freunde von früher her. Oder als hätten sie ein gemeinsames Geheimnis.
Als ihm niemand antwortete, hatte Ola genug.
Er machte einen Schritt auf Elias zu und ballte beide Fäuste.
»Du hast Sam mitgenommen«, sagte er. »Mitten in der Nacht. Du hast deinen eigenen Sohn zu Tode erschreckt. Was für ein Untier bist du eigentlich?«
»Ola, vorsichtig«, sagte seine Mutter und stand auf.
Elias bedeutete ihr, dass sie sich wieder hinsetzen sollte.
Er sah gestresst, aber gefasst aus.
»Ich bedaure wirklich, dass ich Sam mitgenommen habe«, sagte er. »Das war eine durch und durch schlechte Idee.«
Im oberen Stockwerk fiel etwas auf den Fußboden. Das Geräusch ließ Elias zur Decke sehen.
»Könnt ihr euch nicht hinsetzen?«
Marys Stimme war dünn, fast gebrochen.
Elias tat, was sie sagte, doch Ola blieb stehen.
»Ich sehe doch, dass ihr etwas verbergt«, sagte er. »Ich bleibe hier stehen, bis ihr alles erzählt habt. Und dann bin ich hier derjenige, der bestimmt, ob die Polizei hinzugezogen wird.«
»Glaub mir«, sagte Elias trocken, »das hier wirst du auf gar keinen Fall der Polizei erzählen wollen.«
Alle diese Geheimnisse, alle diese Andeutungen darüber, dass etwas Schreckliches passiert war. Etwas, das noch schrecklicher sein musste, als dass Axel in seinem eigenen Haus ermordet worden war. Etwas, das Olas Mutter dazu gebracht hatte, eine Allianz mit Elias einzugehen, obwohl der Sam entführt und ihm Schaden zugefügt hatte.
Seine Mutter und Elias sahen sich wieder an, was Olas Wut neu entfachte.
»Hört auf damit!«, rief er empört. »Hört auf, euch anzuglotzen. Erzählt mir lieber, was Axel passiert ist. Und Sam! Oder noch besser, fangt ganz am Anfang an. Sag mal, wie du überhaupt mit Patricia zusammengekommen bist, denn ich habe ja nie davon gehört, dass ihr euch je getroffen haben sollt.«
Er sah zu Elias, der an der Nagelhaut seiner Fingernägel zupfte und eine Grimasse zog. Sein Gesichtsausdruck zeugte von unterdrücktem Zorn, von Trauer, aber auch von etwas anderem: Ekel. Es war ungeheuer provozierend. Wenn Elias nun fand, dass er so viel besser und feiner war als Patricia, dann hätte er doch einfach die Finger von ihr lassen können.
»Erinnerst du dich an unsere Jugend?«, fragte Elias leise und hob den Blick. »Patricia war immer das coole Mädel. Sie war die Hübscheste im Gymnasium, und mit ihr zusammen zu sein war immer am lustigsten. Erinnerst du dich?«
Ola nickte schweigend. Er erinnerte sich durchaus, wie das gewesen war. Patricia hatte die Zeit im Leben, die Ola am meisten gehasst hatte, in vollen Zügen genossen. Selbst hatte er sich im Gymnasium auf den Schulfluren zusammengekauert und versucht, sich so klein und unsichtbar wie möglich zu machen.
Für Patricia war alles ganz anders gewesen.
Hübsch und draufgängerisch war sie in der Gymnasiumzeit Tag für Tag zur Schule gegangen. Ein paarmal war es passiert, dass Ola zufällig an ihrer Schule vorbeigekommen war, wenn sie Pause hatte. Jedes Mal stand sie mitten in einer Traube von Schulkameraden, warf ihr langes Haar herum, lachte und tönte. Obwohl Ola damals schon erwachsen war, hatte er seine eigene Schwester nicht grüßen wollen. Sie war zu cool, zu sehr der Mittelpunkt.
»Ich bin nur zwei Jahre jünger als Patricia«, erklärte Elias. »Als sie in die Neunte ging, war ich in der Siebten. Und als sie im dritten Jahr auf dem Gymnasium war, habe ich im ersten angefangen. Sie war cool und hübsch.«
Ola hörte zu, ohne zu verstehen, wohin dieses Gespräch unterwegs war.
»Wir wohnten so nah beieinander und kannten uns seit Kindertagen, aber die zwei Jahre, die uns trennten, fühlten sich damals nach sehr viel an«, sagte Elias. »Dann ist erst sie von Hovenäset weggezogen und dann ich. Und so haben wir den Kontakt verloren.«
Elias sah angespannt aus. Sein Gesicht wirkte verkrampft, wenn er sprach, als ob es ihm widerstrebte, die Sätze zu formulieren.
»Und dann sind wir uns in Göteborg zufällig begegnet. In der Kneipe. Total betrunken waren wir. Erst habe ich sie gar nicht erkannt, sie hatte sich so sehr verändert. Sie sah irgendwie fertig aus, aber … aber der Blick war derselbe. Voller Energie und voller Leben. Und ich war gerade frischgebackener Single. Und … auf der Jagd.«
In der Küche wurde es still.
Ola sah Elias auffordernd an.
»Rede weiter«, sagte er kalt. »Auch wenn ich mir die Fortsetzung schon denken kann, möchte ich doch, dass du erzählst, was passiert ist.«
Denn ich kann kaum glauben, was ich hier höre.
Elias gab ein schnaubendes Geräusch von sich.
»Verdammt noch mal, ist das anstrengend«, sagte er und stöhnte. »An dem Abend sind wir zusammen nach Hause gegangen. Und dann haben wir uns noch ein paarmal getroffen. Ich … sie war ja in einer Beziehung. Und außerdem war sie verdammt aus dem Gleichgewicht. Es spielte keine Rolle, zu welcher Tageszeit wir uns sahen, sie war immer angetrunken. Verdammt, sie war einfach kaputt. Das war nichts für mich.«
Ola schluckte.
»Wann hast du begriffen, dass du Sams Vater bist?«
»Davon hatte ich keine Ahnung, bis Patricia im Herbst zu mir kam. Offensichtlich hatte sie erfahren, dass der ursprünglich als Vater angenommene Mann es auf keinen Fall sein konnte. Ich war bestürzt, schlicht gesagt außer mir vor Schreck. Denn ich wusste ja so viel mehr als sie.«
»Wie viel mehr gibt es denn noch zu wissen?«, erwiderte Ola wütend.
Im Augenwinkel sah er, wie seine Mutter sich veränderte. Erst hatte sie schweigend und still dagesessen, doch jetzt streckte sie sich und sagte mit erstaunlichem Nachdruck:
»Musst du wirklich eine Antwort darauf haben, Ola? Genügt dir nicht mein Wort, dass es am besten ist, wenn wir die Polizei da raushalten? Das ist auch um deinetwillen – niemandem wird es gut damit gehen, dass die Wahrheit herauskommt. Niemandem.«
Ola traute seinen Ohren nicht.
Es war, als befänden seine Mutter und Elias sich in einer Parallelwelt, die von einer Logik gesteuert wurde, die er nicht begriff.
»Was quatschst du da?«, fuhr er seine Mutter an. »Was begreifst du eigentlich nicht? Sam hat Axel auf der Treppe liegen sehen. Dadurch hat er Schaden genommen, großen Schaden. Und nun schützt du diesen verdammten Looser hier, der Sams Papa sein soll und der Axel ermordet hat?«
Elias und Mary protestierten gleichzeitig.
»Ich habe schon gesagt, wie sehr ich bedaure, dass ich Sam mitgenommen habe«, sagte Elias. »Und das werde ich mein ganzes Leben lang bereuen. Aber noch einmal: Ich habe Papa nicht ermordet.«
»Das glaubst du doch wohl selbst nicht«, gab Ola zurück. »Ich hoffe nur, die Polizei wird dich lebenslang einsperren. Sam hat so unglaublich viel Besseres verdient.«
Seine Mutter knallte die Handfläche auf den Küchentisch. Das Geräusch war unerwartet laut und ließ Ola zusammenfahren.
»Sam darf niemals erfahren, dass er der Sohn von Elias ist«, sagte sie. »Hörst du das? Niemals. Patricia darf niemals darüber reden, und du darfst sie nicht dazu ermuntern.«
Sie wandte sich an Elias.
»Wie konntest du nur so unglaublich dumm sein, Axel einen Opa zu nennen, als der Junge es hörte?«
»Das war noch ein Fehler, den ich an jenem Abend gemacht habe«, gab Elias zu. »Ich habe im Affekt gehandelt, konnte nicht klar denken.«
In Olas Kopf kreisten die Gedanken jetzt immer schneller.
»Was verstehe ich hier nicht?«, fragte er Elias. »Das ist doch alles total verschroben und weltfremd. Was hattest du denn zu Hause bei Axel zu schaffen? Da hast du deinen Vater mehrere Jahre nicht gesehen, und dann tauchst du mitten in der Nacht dort auf. Zusammen mit einem Kind, das du nicht kennst. Wolltest du dich versöhnen, oder was hast du dir dabei gedacht?«
Elias schluckte.
»Als ich erfahren habe, dass Sam mein Sohn ist, sind alle Brücken zur Versöhnung eingestürzt. Ich werde meinem Vater niemals verzeihen, was er getan hat. Also nein, ich bin nicht deswegen zu ihm nach Hause gefahren. Es gab andere Gründe.«
»Erzähl mir gern von diesen anderen Gründen. Was ist Axel passiert, als du hinkamst?«, fragte Ola.
»Alles war Chaos«, berichtete Elias. »Als wir reinkamen, lag Papa auf der Treppe. Blutend und verletzt. Und tot. Ich bekam es schrecklich mit der Angst zu tun, das muss ich zugeben, denn ich begriff nicht, was passiert sein könnte. Und Sam … der wurde ganz seltsam. Er konnte überhaupt nicht aufhören, da hinzustarren. Gleichzeitig wurde mir klar, dass wir uns beeilen mussten. Ich wollte so schnell wie möglich und ohne, dass uns jemand entdeckte, aus dem Haus heraus. Dann könnte ich sagen, dass Papa gestürzt war, denn das war ja schließlich, was ich zuerst dachte.«
Elias machte eine Pause, ehe er weitersprach:
»Aber Sam war bereits raufgerannt und hatte sich im Arbeitszimmer unter dem Schreibtisch versteckt. Auf der Treppe war er gestolpert und fasste zufällig mit den Händen ins Blut. Und dann hat er aus reinem Stress den Telefonhörer runtergezerrt. Ich habe das Kabel rausgerissen, sodass er das Telefon nicht benutzen konnte. Dann ist alles wahnsinnig schnell gegangen. Ich habe Sam aus dem Haus getragen und … der arme Junge. Er war total schockiert und wusste nicht, was mit ihm geschah. Ich bin über den Kriechboden durch die Dachluke und dann eine Leiter heruntergestiegen, die ich vorher dort hingestellt hatte. Das alles, um keine Spuren zu hinterlassen, aber wie wir wissen, hat es nicht geklappt.«
Ola erinnerte sich, dass Hillevi gesagt hatte, Sam hätte nach Rauch gerochen, als er später in derselben Nacht in ihr Bett gekrochen war.
»Und was noch?«, fragte er. »Hast du auch das Bootshaus angezündet?«
»Nein, das hat Papa selbst getan. Ich habe den Rauch sofort gerochen, als ich aus seinem Haus kam. Ich glaubte, das Feuer vielleicht löschen zu können, aber als wir hinkamen, da brannte das Haus schon lichterloh.«
Ola versuchte erfolglos, sich die Szene vorzustellen.
Ganz allmählich begriff er, was Elias erzählt hatte. Er glaubte nicht mehr, dass Elias log, aber es gab Details, die ihm völlig unbegreiflich waren.
»Wie konntest du wissen, dass Axel in seinem Bootshaus einen Brand gelegt hat?«, fragte er. »Man sieht die Hütte von seinem Haus aus doch gar nicht.«
Elias sah Mary resigniert an.
»Was möchtest du, dass ich antworte?«, fragte er.
Olas Mutter atmete schwer. Sie sah völlig am Boden zerstört aus.
»Die Wahrheit«, sagte sie. »Ich glaube, wir müssen die Wahrheit sagen.«