Obwohl nichts von dem, was Roland erzählte, überraschend war, trafen die Worte Maria doch mit voller Kraft. Erst als ihre Hand zu schmerzen begann, wurde ihr bewusst, wie hart sie das Telefon umklammert hielt. Die Justizbeamtin, die Paul zur Flucht verholfen hatte, indem sie so tat, als wäre sie eine Geisel, hatte sich entschieden, der Polizei mitzuteilen, was sie wusste. Vielleicht hatte die Wirklichkeit sie endlich eingeholt, vielleicht war ihr schließlich doch klar geworden, welchen Fehler sie begangen hatte. Das konnten weder Roland noch Maria sicher sagen, aber jetzt wussten sie wenigstens mehr.
Paul war bewaffnet.
Und er hatte einen Fluchtwagen mit falschen Nummernschildern. Die Beamtin hatte ihn mit alldem versorgt, und jetzt hatte sie die Polizei über die falschen Nummern und auch darüber informiert, welche Waffe Paul besaß. Sie wäre von Liebe verblendet gewesen, hatte sie gesagt, doch sowie Paul draußen gewesen war, hatte auch ihre Rolle in dem Drama ein Ende gefunden.
Ray-Ray hielt Marias Arm, während sie Rolands Bericht lauschten, und sie bemühte sich, den Arm nicht wegzuziehen.
Sie war es so leid, gestreichelt zu werden.
Sie war es so leid, Angst zu haben. Und sie war so wütend auf Paul, der sich die Freiheit nahm, ihr Leben zerstören zu wollen.
»Seine Flucht muss nicht unbedingt etwas mit dir zu tun haben«, sagte Roland. »Aber wir gehen natürlich keine Risiken ein. Die Zeugenaussage der Justizbeamtin bestätigt nur, was wir bereits wussten, nämlich dass die Flucht gut geplant war und dass Paul gefährlich ist.«
Ray-Ray wurde zornig.
»Verdammt noch mal, ist doch klar, dass er auf der Flucht ist, um sich an Maria zu rächen«, sagte er.
»Oder an August«, ergänzte Maria.
»Oder an August«, stimmte Ray-Ray zu.
Obwohl sie vorhin erst mit August telefoniert hatte, wollte Maria ihn am liebsten sofort wieder anrufen. Das war ein irrationaler Gedanke. Sie hatten sich zweimal innerhalb von nur wenigen Minuten gesprochen. Sie würde ihn nur erschrecken, wenn sie wieder anrief. Er stand in seinem Laden, sicher umgeben von Kunden. Die Aussage der Frau hatte im Grunde nichts verändert.
Ray-Ray sah, wie frustriert sie war und sagte:
»Roland, wir haben hier einiges zu tun. Ist es okay, wenn wir uns später bei dir melden?«
»Absolut. Ich wollte nur noch sagen, dass die Gerichtsmedizin sich gemeldet hat. Axel hat sich im Fallen das Genick gebrochen und zusätzlich eine Gehirnblutung zugezogen. Das Verletzungsbild zeigt ansonsten eindeutig, dass er gestoßen worden ist. Das verändert nichts in der Ermittlung, aber jetzt haben wir unsere Theorie formell bestätigt bekommen. Aber ihr wolltet auch noch etwas erzählen, oder?«
Maria erklärte, was sie über das Alibi von Elias erfahren hatten.
Sie hörte, wie Roland Luft holte, während er zuhörte.
»Ist euch klar, was ihr da sagt?«, fragte er, als Maria geendet hatte. »Soll Elias am Abend und in der Nacht hin und zurück gefahren sein? Das ist eine verdammt lange Reise.«
»Wir wissen das«, entgegnete Ray-Ray. »Aber wir können die Information nicht ignorieren.«
»Selbstverständlich nicht«, sagte Roland. »Nehmt Elias ordentlich in die Zange, wenn ihr ihn befragt. Wann wird er wieder nach Stockholm fahren?«
»In ein paar Tagen, nehme ich an«, sagte Maria. »Er hat nicht genau gesagt, wann.«
»Könnte Elias der Erpresser von Axel gewesen sein?«, fragte Roland. »Ich meine, vielleicht ist der Konflikt ein ganz anderer, als wir vermuten.«
»Das können wir natürlich überprüfen«, meinte Ray-Ray. »Aber wenn du jetzt die Erpressung erwähnst, dann würde ich gerne noch berichten, was wir bei Patricia Thynell erfahren haben.«
Ray-Ray fasste kurz zusammen, was bei dem Verhör mit Patricia herausgekommen war.
»Diese Briefe, von denen sie sagt, sie hätte sie gelesen«, begann Roland, »hat die schon mal irgendjemand anders erwähnt?«
»Nein, niemand. Aber Gunnar hat behauptet, Axel habe kein Alibi für den Mord gehabt, und angedeutet, Mary könnte mehr dazu erzählen. Er scheint also schon irgendeine Art von Einblick zu haben.«
»Wissen wir etwas über die Verbindung zwischen Elias und diesen anderen Menschen – Gunnar, Mary und Patricia? Hat Elias Patricia auf den Bildern erkannt?«
»Nein«, sagte Maria. »Und soweit wir wissen, hatte Elias keine Beziehung zu irgendeiner Person auf Hovenäset. Als er aus dem Leben seines Vaters verschwand, hat er mit allen anderen gebrochen.«
Sie sah das nachdenkliche Gesicht von Elias vor sich, als er ohne jede Sentimentalität seinen Konflikt mit Axel erklärt hatte, und dann den gestressten Blick von Mary Thynell, als sie gefragt wurde, warum sie ihre eigene Tochter auf den Fotos in Axels Karton angeblich nicht erkannt hatte.
Zwischen allen diesen Personen gab es eine Verbindung, doch wie die aussah, ging über ihre Vorstellung. Und noch weniger war ihr klar, inwieweit Gunnar Wide in diese Geschichte verwickelt war.
»Dann machen wir Folgendes«, sagte Roland. »Ihr zwei versucht, Elias zu erreichen und bestellt ihn zu einer neuen Vernehmung ein. In der Zwischenzeit sorge ich dafür, dass eine Streife den Auftrag bekommt, für den Rest des Arbeitstages in regelmäßigen Abständen an Strindbergs Laden vorbeizufahren. Er hat ja seinen Personenalarm, aber ich möchte auf der sicheren Seite sein.«
Maria lächelte angestrengt zum Telefon hin.
»Danke«, sagte sie.
»Bis später«, erwiderte Roland.
Ray-Ray startete den Wagen.
»Auf nach Hovenäset«, sagte er. »Am liebsten würde ich Elias überraschen. Oder sollen wir ihn anrufen?«
Das Auto setzte sich in Bewegung.
Ray-Ray hielt das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß wurden, und seine Miene war verbissen.
»Ich denke, wir sollten ihn anrufen«, sagte Maria. »Wir haben ja bisher einen sehr offenen Kontakt zu ihm gehabt, und außerdem ist er auf eigene Initiative mit diesem Karton bei August vorbeigekommen. Ich habe nicht das Gefühl, als würde er sich vor uns verstecken.«
»Klug«, sagte Ray-Ray, »ruf ihn an, und sag ihm, dass wir auf dem Weg zu ihm sind.«
Maria hielt den Blick auf die Straße gerichtet, während im Telefon die Klingeltöne zu hören waren.
Draußen vor dem Fenster sauste die Winterwelt vorbei. Sonne und Frost und Schnee widersprachen allem, was das Leben derzeit schwer machte. Dennoch war sie dankbar für all die Schönheit. Ohne den Kontrast hätte sich das Dunkle allzu belastend angefühlt.
Als Elias schließlich ranging, war Maria ein wenig überrumpelt.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte sie, »wir müssten Ihnen noch ein paar abschließende Fragen stellen. Sind Sie auf Hovenäset, oder wo halten Sie sich gerade auf?«
»Ich war eben in Kungshamn, um etwas zu erledigen«, erwiderte Elias. »Aber jetzt sitze ich im Auto und bin auf dem Weg ins Hostel. Können wir uns nachher dort treffen?«
Seine Stimme klang ebenso entspannt wie zuvor, als sie mit ihm gesprochen hatten.
Maria dachte nach.
»Das klingt gut«, sagte sie schließlich. »Mein Kollege und ich warten auf dem Parkplatz.«
»Gut«, antwortete Elias, »ich komme gleich.«
Maria und Ray-Ray bogen auf den Hovenäsvägen ein und fuhren die kurze Strecke zum Skolbacken, von wo aus man zum Hostel raufkam.
»Wir nehmen ihn nicht zu hart ran«, sagte Ray-Ray, als er den Wagen auf dem Parkplatz des Hostels abgestellt hatte. »Jedenfalls nicht, bevor wir nicht wissen, in welchem Zustand er sich befindet.«
Maria nickte zustimmend.
Um das Auto herum war alles still.
Nicht einmal ein Hundebesitzer kam vorbei.
Ray-Ray trommelte mit den Fingern auf das Armaturenbrett.
»Er sollte in ein paar Minuten hier sein«, sagte er. »Schließlich saß er schon im Auto.«
»Gib ihm zehn«, meinte Maria.
Sie holte wieder ihr Handy heraus.
Schnell schrieb sie eine kurze Nachricht an August.
Wollte nur hören, ob alles ok ist.
Die Antwort kam schon eine Minute später.
Alles gut. Kuss.
Maria wand sich.
Sie musste sich jetzt entspannen, sonst wurde sie verrückt.
Eine Weile verging.
»Jetzt ist Schluss«, sagte Ray-Ray entschlossen. »Ruf Elias noch einmal an. Wenn er nicht antwortet, müssen wir um Verstärkung bitten. Dann hat er uns offensichtlich reingelegt.«
Maria rief an.
Ein Klingelton nach dem andern ertönte, und dann landete sie auf einer Mailbox.
Sie probierte es noch einmal.
Dasselbe Ergebnis.
»Verdammte Scheiße!«, brüllte Ray-Ray.
Während er anrief und Roland um Verstärkung bat, öffnete er die Autotür und stieg aus. Maria tat es ihm nach.
Elias hatte sich entschlossen, der Polizei aus dem Weg zu gehen.
Und so verhielten sich nur Menschen, die etwas zu verbergen hatten.