»Ich habe Axel geliebt. Aus ganzem Herzen. Aber er hat mich niemals geliebt. Er wollte nur Denise. Und das hat so furchtbar wehgetan.«

Binnen eines Moments war die Zeit eingefroren.

Ola bewegte keinen Muskel, er schaute nur seine Mutter an.

Was um alles in der Welt erzählte sie da?

»Ich erinnere mich, wie du Axel angeschaut hast«, sagte er. »Ich habe gesehen, dass du verliebt warst. Aber ich dachte … ich nahm einfach an, dass es nicht wirklich war.«

»Das war es auch nicht«, erwiderte seiner Mutter. »Jedenfalls nicht für ihn. Aber für mich war es das. Eine kurze Zeit lang glaubte ich tatsächlich, die Liebe würde auf Gegenseitigkeit beruhen und er hätte vor, Denise zu verlassen. Aber so kam es nicht. Das war ungeheuer schmerzhaft für mich.«

Ola spürte, wie ihm schwindlig wurde.

Eigentlich wollte er nichts mehr von dem wissen, was seine Mutter auf dem Herzen hatte. Nicht ein Wort mehr. Trotzdem hörte er zu und stellte auch Fragen.

»Ihr hattet eine Affäre«, sagte er.

»Ja, so kann man es vielleicht nennen. Aber ich habe das damals nicht so genannt. Ich hielt es für eine richtige Beziehung.«

Ola hatte seine Mutter schon oft traurig gesehen, aber noch nie zuvor so demütig. Das machte ihn weich.

»Ich habe niemals etwas zu jemandem gesagt«, sagte Mary leise. »Es war eine so dumme Geschichte, und ich fühlte mich so schrecklich einsam. Und ich habe nie aufgehört zu hoffen. Nicht einmal, als er mit Denise nach Chicago gezogen ist, wollte ich aufgeben. Er hatte etwas ganz Besonderes, etwas, was man bei nicht vielen Männern sieht.«

Ola schluckte.

»Was hat das hier mit dem Brand zu tun?«, fragte er.

Elias starrte zu Boden und schien sich weit weg zu wünschen. Widerwillig antwortete er:

»Im Spätherbst dieses Jahr, ein paar Wochen, nachdem Patricia sich gemeldet und von Vaterschaft geredet hatte, rief Mary mich an und erzählte mir, sie habe Patricia dabei erwischt, wie sie Briefe von Papa an Mary gelesen habe. Briefe, in denen Papa sich dafür bedankte, dass Mary ihm, als Lydia Broman starb, mit einem Alibi ausgeholfen hätte. Deine Mutter meinte, Patricia habe vor, Papa zu erpressen, und wir müssten es irgendwie schaffen, sie daran zu hindern.«

Ola wunderte sich, dass er überhaupt noch erstaunt sein konnte.

»Du hast Axel ein Alibi im Fall des Mordes an Lydia gegeben?«, fragte er seine Mutter. »Warum das denn?«

Seine Mutter räusperte sich, um besser hörbar zu sein.

»Weil er das brauchte. Hinterher habe ich im Laufe der Jahre den Fall verfolgt, habe Zeitungsartikel und so weiter gesammelt. Einfach nur, um Bescheid zu wissen, nichts anderes. Die Leute reden ja so viel darüber, dass alles schiefgegangen wäre und die Polizei den Mörder nie gefunden hätte. Ich teile diese Auffassung nicht. Und Axel war unschuldig, das heißt, diese Lüge hat nichts gekostet. Aber dann hat er mir erzählt, dass Patricia sich bei ihm gemeldet habe und dass sie Geld wolle.«

Ola wusste nicht mehr, was er von alldem halten sollte.

Das Bild von Patricia in ihrer vermüllten Wohnung flimmerte an ihm vorbei.

Sie hatte gesagt, sie habe etwas am Laufen gehabt, das ihre Finanzen von Grund auf verändern würde. Aber es sei nichts draus geworden, und deshalb schien sie enttäuscht zu sein. Ola hatte nicht einmal im Entferntesten gedacht, dass es sich um etwas so Brutales wie Erpressung handeln könnte.

»Ein paar Wochen vergingen«, sagte seine Mutter. »Die ganze Geschichte schien sich hinzuziehen. Doch eines Nachmittags vorige Woche kam Axel hierher und erzählte, es gäbe jetzt ein Datum für die Übergabe des Geldes. Aber er hatte ja kein Vermögen. Deshalb hatte er sich überlegt, dass er in der folgenden Nacht sein Bootshaus abbrennen würde, um Geld zu bekommen. Und sowie die Versicherung bezahlt hätte, würde er alles Geld Patricia geben. Aber das war nicht das Einzige, was er ihr geben wollte.«

Seine Mutter hielt inne, um Luft zu holen. Elias und sie wechselten einen neuerlichen Blick.

»Du musst wissen, Axel und ich haben auch noch ein anderes Geheimnis miteinander geteilt«, begann sie zögernd. »Eines, das mit unserer Beziehung zu tun hatte und unsere beiden Familien betraf.«

»Okay?«, fragte Ola.

Im Stillen dachte er:

Bring it on.

»Axel hatte sich entschieden, Patricia dieses Geheimnis zu erzählen, und zwar so bald wie möglich. Und das war schlichtweg inakzeptabel. Das durfte nicht geschehen, auf gar keinen Fall.«

»Ich war derselben Meinung«, sagte Elias mit Nachdruck. »Durch die Erpressung hatte Patricia gezeigt, dass man sich auf sie nicht verlassen konnte. Sie würde so ein Geheimnis niemals für sich behalten können, sie würde sich damit interessant machen wollen.«

Ola sah von einem zum anderen.

»Wovon redet ihr?«, fragte er. »Ihr benehmt euch wie Teenager. Was für ein absurdes Geheimnis ist das denn?«

Niemand antwortete.

»Aber jetzt sagt doch etwas!«

Die Stimme seiner Mutter war dünn wie Nebel, als sie schließlich sprach.

»Ich bin schwanger geworden.«

Ola sah auf.

»Was?«

»Nachdem ich mit Axel zusammen gewesen war, wurde ich schwanger. Und ich habe mich entschieden, das Kind zu behalten.«

»Aber …« Ola unterbrach sich und versuchte es dann noch einmal. »Wo … ich meine … wo ist denn das Kind hin? Hast du es weggegeben?«

Das war eine unsinnige Frage. Wie sollte denn eine ganze Schwangerschaft vor allen anderen verborgen worden sein? Das hier musste ja in moderner Zeit geschehen sein. Da machte man sowas nicht. Oder täuschte er sich?

Seine Mutter schüttelte sanft den Kopf.

»Nein«, flüsterte sie. »Das habe ich nicht getan.«

Das Unerhörte in dem, was er hier erfuhr.

Dass es ein Geschwister gab.

»Aber wo ist dieses Kind jetzt?«, fragte Ola. »Wer …«

Er verstummte.

Ein Kind war geboren worden. Und es war nicht weggegeben worden. In Olas Familie gab es nur zwei Kinder. Ihn selbst und seine Schwester.

Seine Mutter legte den Kopf schief und sah ihn flehend an.

»Verstehst du jetzt?«, fragte sie. »Verstehst du, warum ich das nicht erzählen wollte? Durch diese Geschichte ist bereits so viel Elend gekommen.«

Ola konnte nicht einmal mehr schlucken.

Verstehst du jetzt?

Nein, dachte er. Ich verstehe nicht.

Oder doch?

Von oben waren leichte Schritte zu hören und etwas, das wie ein Ball klang, der über den Fußboden rollte.

Das war natürlich Sam, der einen Fußball jagte.

Sam, der nicht wusste, dass er einen neuen Papa bekommen hatte.

Die Erkenntnis traf Ola wie ein Blitz.

Verstehst du jetzt?

Nein, ich weigere mich, dachte Ola.

Ohne ein Wort zu sagen, sank er auf einen der Küchenstühle.

Seine Mutter suchte seinen Blick, aber Ola war zu schockiert, um sie anzusehen.

»Mein ganzes Leben«, flüsterte er. »Eine einzige, lange Lüge.«

Seine Mutter schluchzte.

»So was darfst du nicht sagen«, flüsterte sie.

Elias sah ihn von der Seite mit hartem Blick an.

Sein Handy klingelte plötzlich. Er antwortete kurz, er säße im Auto auf dem Weg nach Hovenäset.

»Das war die Polizei«, sagte er, als er aufgelegt hatte. »Wir müssen das hier jetzt beenden.«

Ola sah ihn eindringlich an.

»Du hast es gewusst«, sagte er. »Alle wussten es. Nur ich nicht.«

»Nein«, erwiderte seine Mutter scharf. »So war es nicht, so ist es nicht.«

Ola ignorierte sie. Sein Körper fühlte sich betäubt an und das Gehirn träge.

»Wie lange weißt du es denn schon?«, fragte er Elias.

Als würde er sich schämen, vermied Elias, ihm in die Augen zu sehen.

»Bald sechs Jahre«, sagte er. »Papa und ich standen einander sehr nahe. Manchmal hat er gefragt, ob ich jemanden kennengelernt hätte, und da habe ich einmal aus Witz erzählt, dass ich natürlich jemanden kennengelernt hätte, und zwar Patricia Thynell. Dann habe ich aber gesagt, dass wir uns nur ein einziges Mal und nicht mehr getroffen hätten, aber Papa war trotzdem zutiefst schockiert. Und da … ja, da hat er mir alles erzählt.«

Elias schüttelte den Kopf, und sein Blick war jetzt zornig.

»Wie auch immer«, sagte er. »Papa hat mit Mary gesprochen, und sie hat mich total erschüttert angerufen. Das Wichtigste sei, dass Patricia auf keinen Fall etwas davon erfahren würde, denn das würde sie nicht überleben.«

»Aber so ist es doch auch!«, rief Mary.

Ola traute seinen Ohren nicht.

Immer dieses Beschützen von Patricia.

Elias schnaubte.

»Ich habe mich, nicht zuletzt um meiner selbst willen, darauf eingelassen zu schweigen. Ich habe gepackt und bin umgezogen, habe Göteborg nur wenige Wochen später verlassen. So habe ich mich mit meinem Vater zerstritten. Ich konnte ihm unmöglich verzeihen, dass er nichts erzählt hatte.«

Ola kämpfte damit zu verstehen, was hier geredet wurde.

Seine Mutter weinte leise.

»Es tut mir alles so leid«, sagte sie. »Aber das Wichtigste ist und bleibt, dass Patricia geschützt wird.«

Ola fuhr zusammen.

»Geschützt?«, fragte er. »Das ist doch nicht dein Ernst. Wen hast du denn noch während all dieser Jahre geschützt? Papa vielleicht?«

Als wäre es zu einem Fluch geworden, widerstrebte es ihm mit einem Mal, das Wort Papa auszusprechen.

»Papa wusste es. Und ihm gefiel es überhaupt nicht, dass wir über all das schwiegen. Er fand, ihr Kinder hättet ein Recht, es zu wissen, aber er respektierte meinen Wunsch, nichts zu sagen. Zu Anfang war das einfach. Axel wohnte die ersten zehn Jahre ja gar nicht hier. Das hat Bertil aber gestört. Er hielt das für einen Fluchtversuch, womit er in gewisser Weise auch recht hatte. Deshalb hat er Axel einmal jährlich eine Erinnerung an seine Sünde geschickt. Immer ein aktuelles Foto von Patricia. Das habe ich aber erst erfahren, als es schon ein paar Jahre lang so lief.«

Ola schüttelte den Kopf und sah von Elias zu seiner Mutter.

»Wovon redest du? Warum hat er Bilder von Patricia an Axel geschickt? Ich war es doch, der …«

Ola verstummte, als seine Mutter sich die Hand vor den Mund schlug.

Der Boden öffnete sich unter ihm, noch ehe seine Mutter zu reden begann, noch ehe ihm das Ausmaß der Katastrophe klar wurde.

»Aber mein lieber Ola, doch nicht du bist Axels Kind. Es ist Patricia. Verstehst du nicht? Sie hat ein Kind mit ihrem eigenen Bruder.«