Das Zimmer, in dem Paul lag, war in hellen Farben gehalten. Die Türen waren weiß, die Wände beige, und die Anzahl der auf verschiedene Art mit seinem Körper verbundenen Schläuche war unüberschaubar.
Maria näherte sich dem Bett.
»Hier können Sie sich hinsetzen«, sagte eine Krankenschwester hilfsbereit und zog einen Stuhl heraus.
Doch Maria wollte sich nicht auf den Stuhl setzen.
Stattdessen ließ sie sich auf der Bettkante nieder.
»Das geht natürlich auch gut«, beeilte sich die Krankenschwester zu sagen und nahm den Stuhl wieder weg.
Maria ließ ihren Blick über die Reste des Menschen im Bett wandern. Pauls einst so kräftiger Körper hatte sich während der Zeit am Beatmungsgerät verändert. Die Muskeln waren geschwunden, und er war stark abgemagert. Die Wangenknochen waren markanter als zuvor, und sogar die Finger sahen dünn aus. Und dann die Haare. Das dunkle, dichte Haar, schon während der Untersuchungshaft zu lang geworden, war jetzt in Unordnung.
»Sie müssen wissen, er spürt nichts«, sagte die Krankenschwester. »Er hat keine Schmerzen. Es kann helfen, das zu wissen, wenn man jemanden in diesem Zustand sieht.«
»Ich verstehe«, erwiderte Maria. Sie fragte sich, was die Krankenschwester von ihrer und Pauls Beziehung wusste. Wahrscheinlich überhaupt nichts.
Ray-Ray war in wahnsinniger Geschwindigkeit nach Uddevalla gefahren. Kaum ein Wort hatten sie gewechselt, ehe er vor dem Klinikeingang anhielt.
»Ich werde nur eben das Auto parken«, hatte er gesagt. »Dann komme ich rauf zu dir.«
»Danke«, hatte Maria geantwortet, »aber ich möchte mit ihm allein sein.«
»Dann warte ich draußen auf dem Flur.«
»Es könnte länger dauern. Wir wissen nicht, was passieren wird.«
»Ich warte.«
Ohne nachgesehen zu haben, wusste Maria es. Er stand vor der Tür und wartete, und da würde er stehen, bis sie wieder rauskam.
Auf einem der Displays flimmerte eine Kurve auf.
Die Krankenschwester beugte sich mit gerunzelter Stirn vor und drückte einen Knopf.
»Ich nehme an, es hat ihnen jemand erzählt, was passiert ist?«, fragte sie.
Maria nickte.
Ein Arzt hatte sie abgefangen und sich die Zeit genommen, es zu erklären. Als Folge einer Lungenentzündung, die er sich zugezogen hatte, als er Meerwasser in die Atemwege bekam, hatte Paul eine Blutvergiftung erlitten. Außerdem hatte er mehrere Pfropfen in einem Lungenflügel. Es sah schlecht aus. Richtig schlecht.
»Die nächsten Stunden werden entscheidend sein«, hatte der Arzt gesagt.
Die Krankenschwester strich Maria über den Arm.
»Sagen Sie Bescheid, wenn Sie etwas brauchen«, sagte sie. »Wir kommen sofort.«
»Danke.«
Die Schuhe der Krankenschwester quietschten, als sie das Zimmer verließ.
Eine lange Zeit verging. Maria dachte keinen einzigen konkreten Gedanken. Sie saß einfach da auf der Bettkante und ließ die Zeit fließen.
Dann streckte sie langsam eine Hand aus und legte sie auf die von Paul.
»Hallo«, flüsterte sie und drückte die Hand leicht.
Paul rührte keine Miene und erwiderte ihre Bewegung auch nicht.
Maria schluckte.
Es war nicht alles schlecht gewesen. Nicht immer. Nicht von Anfang an. Nicht, als sie füreinander neu gewesen und seine Dämonen noch nicht zu ihren geworden waren. Da hatte es viele Momente gegeben, die ganz oder zum Teil als glücklich beschrieben werden konnten.
Ich habe dich einmal geliebt, dachte sie und merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Warum zum Teufel hat das nicht ausgereicht?
Von der einst großen Leidenschaft war nichts mehr übrig geblieben.
Alles Schöne war verschwunden.
Jahre waren vergangen, ohne dass sie Liebe empfunden hatte.
Wie hatte sie nur die Kälte, in der sie lebte, so lange akzeptieren können?
Terror.
Sie hatte reinsten Terror erlebt.
Und dann hatte Paul seine selbstgebastelte Hölle damit gekrönt, dass er versuchte August umzubringen.
»Was, wenn dir das gelungen wäre«, flüsterte Maria. »Begreifst du denn, wie sehr du mich damit verletzt hättest?«
Die Tränen rannen, tropften vom Kinn auf das Bettzeug und auf Pauls Arm.
Das Beatmungsgerät blies neue Luft in seinen Brustkorb, der sich in einem Takt, den die Maschine bestimmte, hob und senkte.
Maria strich mit den Fingerspitzen über die Hand, die sie hielt.
Wie oft hatte sie vor Pauls Händen Angst gehabt, vor seiner Kraft, vor seinem Misstrauen.
Unzählige Male.
Doch hier und jetzt empfand sie keinen Zorn, keinen Hass.
Mehr Überlegenheit als hier würde sie nie empfinden. Paul war völlig hilflos. Schwer krank, wahrscheinlich dem Tod nahe.
»War es das wert?«, fragte Maria leise. »War es das wirklich wert, Paul?«
Sie strich die Tränen von den Wangen.
Einer der Apparate piepte, und sie hob sofort den Blick. Der Laut verklang, das Beatmungsgerät arbeitete weiter.
Maria schluckte.
»Ich brauche einen Abschluss«, flüsterte sie. »Begreifst du das nicht?«
Die Maschinen zischten und keuchten.
Der Brustkorb hob und senkte sich.
Und da.
Vielleicht war es nur ein unfreiwilliger Impuls, ein Muskelkrampf in einem Körper, der viel zu lange dagelegen hatte. Doch sie spürte es ganz deutlich.
Für einen schwindelerregenden Augenblick erwiderte Paul den Druck.
Nur ganz schwach, kaum spürbar, aber dennoch unmöglich zu verpassen.
Hier hast du deinen Abschluss, Maria.
Die Tränen flossen.
Ein Alarm ging los.
Laut und durchdringend.
Binnen weniger Sekunden war das Zimmer voller Pflegepersonal. Maria wich vom Bett zurück und stellte sich an die Wand.
Jemand legte einen Arm um sie.
Ray-Ray.
Minute um Minute verging. Dann veränderte sich die Energie im Raum. Alle eiligen Bewegungen hörten auf, die erhobenen Stimmen verstummten. Alles wurde still.
Der Arzt, der Maria empfangen hatte, tauchte in ihrem Blickfeld auf.
»Es tut mir furchtbar leid. Wir haben getan, was wir konnten. Und Paul ebenso.«
Maria nickte schwach.
»Das hat er gewiss«, flüsterte sie.
Es war vorüber.
Paul war tot.
Sie war frei.