Das Fernsehen

 

Strich blieb nach der PK unauffindbar, vermutlich hat er sich in irgendeinen Fresstempel verkrochen. Der Gourmandteufel möge ihn holen!

Ich gondle mit Häberli zum Sendezentrum des Schweizer Fernsehens. Dessen Räumlichkeiten liegen weit draußen im Zürcher Industriegebiet, noch hinter den qualmenden Kaminen der Müllverbrennungsanlage Hagenholz.

Längst ist es dunkel geworden. Der Schnee auf den Straßen ist nur noch rußgeschwängerter grauer Matsch, im besten Fall silbergrau oder zinkfarben, am Straßenrand bereits pechschwarz.

»Jedes Volk hat das Fernsehen, das es verdient«, hustet Häberli plötzlich neben mir. Natürlich kann er es auch jetzt nicht lassen, eine seiner stinkenden Gauloises zu rauchen.

»Spricht das nun für oder gegen uns?«, frage ich meinen Kollegen.

»Weiß ich nicht. Ich habe keinen Fernseher«, sagt er.

Ich schiele zu ihm rüber. Seine zerzauste Erscheinung nährt in mir gewisse Zweifel, ob er wirklich der richtige Begleiter für den Besuch einer Medienanstalt ist. Aber Michael und Bea sind beschäftigt und ich habe schließlich vor ein paar Stunden lauthals nach Häberli geschrien.

Wir kommen kaum vorwärts auf dem Weg Richtung Oerlikon, alle paar Dutzend Meter steht wieder ein Auto mit Sommerreifen quer. Meine Gedanken schweifen weit ab. Zu Daktari, der Serie mit Clarence, dem schielenden Löwen, und dem umtriebigen Schimpansen Judy. Das ist das früheste Fernseherlebnis, an das ich mich erinnere. Mein Bruder und ich konnten es sonntags kaum erwarten. Wir fieberten der neuesten Folge vom frühen Morgen an entgegen wie ausgehungerte Eichhörnchen einer Schale Haselnüsse, stets in großer Angst, Vater wolle doch noch irgendeinen sinnlosen Ausflug mit uns unternehmen. Einen Ausflug, zu dessen Ehren wir läppische Krawättchen und weiße Hemden hätten anziehen müssen.

Es war eine andere Zeit. Eine Zeit, in der es nur das Schweizer Fernsehen gab und sonst gar nichts. Gut, den Tessiner Kanal konnten wir auch noch empfangen und bei gutem Wetter eine flimmernde ARD. Aber letztlich sahen alle Menschen, die fernsahen, dasselbe und unterhielten sich am nächsten Tag darüber. Am Samstagabend ergoss sich der pausbäckige Oberspießer Kurt Felix über die Deutschschweiz und am Montag lief Flipper.

Als wir größer wurden, räumte Francis Durbridge die Straßen. Das Messer. Ich habe keine Ahnung mehr, worum es in dem Mehrteiler ging. Aber ich weiß noch, dass er furchterregend war und es am Montag auf dem Pausenplatz nur zwei Kategorien von Kindern gab: die, die es gesehen hatten, und die Weicheier und Warmduscher.

Heute können wir über Kabel rund vierzig Sender empfangen. Jeder erlebt sein eigenes, individuelles Fernseherlebnis und muss es mit niemandem teilen. Und kann es auch mit niemandem teilen. Außer mit seinen Familienangehörigen vielleicht, wobei das Erlebnis nur dann befriedigt, sofern man Herr über die Fernbedienung ist.

Meine Frau Leonie und ich wechseln uns damit im Prinzip ab, wobei sie häufiger am Drücker ist, weil sie meist früher zu Hause eintrifft. Sie schwärmt für Arztserien, in denen scharfe Krankenschwestern knackige, junge Ärzte anhimmeln, die im Viertelstundentakt krebskranke Kinder heilen oder Querschnittgelähmte zu rassigen Tennisspielern zusammenflicken. Des Weiteren steht sie auf französische Autorenfilme, Reportagen aus der Tierwelt und Literatursendungen.

Nichts davon interessiert mich. Bei einigen Informationsmagazinen des Schweizer Fernsehens werden wir uns noch am ehesten einig. Beim Kassensturz am Dienstag oder der Rundschau am Mittwoch.

Schaffe ich es einmal, die Fernbedienung vor Leonie in die Hände zu bekommen, schalte ich nach der Tagesschau auf amerikanische oder, noch lieber, britische Komödien um. Sofern gerade dann welche im Angebot sind. Wenn nicht, kachle ich einfach durch die Kanäle, bis mir die Gehirngänge wackeln.

 

Endlich erkenne ich das vertraute Signet unseres Fernsehens, rot leuchtet es uns von einem Hochhaus entgegen. Das Gelände ist von Maschendrahtzaun umsäumt, die zentrale Einfahrt abgeriegelt. Ich steuere den Volvo auf einen riesigen, naturbelassenen, holprig-dreckigen Parkplatz rund hundert Meter weiter und hieve mich aus dem Fahrzeug. Möwen kreischen vom Himmel, die Luft riecht modrig, die Temperatur ist im Laufe des Tages gestiegen und liegt nur noch knapp unter null. Häberli stupst mit der Spitze seines abgewetzten rechten Halbschuhs in eine Eisschicht, die eine gewaltige Pfütze bedeckt. Fasziniert beobachtet er, wie das Eis zersplittert und brauner Schlamm zwischen den Ritzen emporschießt. Dann zieht Häberli den Fuß blitzschnell zurück und zündet sich breit grinsend die nächste Zigarette an. Ich deute mit einer Kopfbewegung an, dass ich ihn für einen ziemlichen Kindskopf halte, und wir schlendern zurück zum Haupteingang. Ich erkenne zahlreiche graue Gebäude unterschiedlicher Größe, die sich um ein fünfzehnstöckiges Hochhaus tummeln. Irgendjemand hat mir einmal gesagt, hier draußen arbeiten tausendfünfhundert Leute.

»An diesem Ort entstehen also all die tollen Sendungen«, sage ich zu Häberli.

»Hm«, brummt er.

»Hattest du denn früher mal einen Fernseher?«

»Vor der Scheidung, Boss«, antwortet er. »Anschließend legte ich mir ein Aquarium zu.«

Ich hätte es mir denken können.

Das Portierhäuschen ist belagert von Journalisten anderer Medien, die sich umgehend auf uns stürzen, als sie uns erkennen. Ich drängle mich zwischen ihnen durch, als wären sie Luft, und mache dem Uniformierten hinter der Glasscheibe klar, dass wir erwartet werden. Er greift zum Hörer und bittet uns, kurz Platz zu nehmen, man hole uns gleich ab. Ich bekomme mit, wie sich einer der Journalisten lautstark über unsere Vorzugsbehandlung beschwert und ein anderer am Natel einen Kollegen beschimpft, der offenbar schon in den Innenbereich des Sendezentrums gelangen konnte.

Eine untersetzte Brünette mit wallendem Haar und einem plüschigen, dunkelblauen Anzug schleust uns schließlich durch diverse Drehtüren zum Lift eines dreistöckigen Nebengebäudes. »Ressortleiter Tommy Schlatter erwartet Sie«, flötet sie uns zu.

Wir fahren in den zweiten Stock und folgen der Frau durch einen öden, nach Plastik riechenden Gang, von dem acht Büros abgehen. Wir passieren eine Tür aus Milchglas, hinter der Toiletten und ein Treppenhaus liegen. Ich stehe kurz davor, die Brünette zu fragen, wohin sie uns denn führe. Aber sie wird schon wissen, was sie tut. Kein Mensch kreuzt unseren Weg, die Büros scheinen alle verwaist zu sein. Nochmals ein langer Gang. Graubraun gesprenkeltes Linoleum auf dem Boden, Wände aus beigefarbenen Kunststoffplatten. Alle zehn Meter ein in die Wand geschraubter, roter Aschenbecher, alle fünfzehn Meter eine nackte Neonröhre an der Decke, alle zwanzig Meter eine Glastür, alle dreißig Meter ein Feuerlöscher. Schritt Schneider jeden Tag durch diese öden Gänge? Wahrscheinlich konnte er direkt bis an das Gebäude heranfahren und einen anderen Eingang nehmen.

Endlich sind wir am Ziel. Die Brünette schickt uns in ein geräumiges Büro, in dem drei Leute sitzen und unglücklich in die Welt schauen. Ein Vierter lehnt lässig am Fenstersims.

»Dies hier sind die Herren Staub und Häberli von der Zürcher Kantonspolizei«, erläutert die Frau und huscht aus dem Raum im Vertrauen, dass sich die Fernsehleute schon noch selbst vorstellen werden.

Wer der Chef ist, ist allerdings sofort klar: der massige Mann, der nachdenklich in seinem Stuhl hängt, einem blau überzogenen Ungetüm mit Armlehnen und Rollen. Der Mann zupft sein abgetragenes, hellgraues Jackett zurecht, fährt sich über sein glatt rasiertes, speckiges Doppelkinn, schüttelt seine grauen, unfrisierten Haare und lässt seinen Blick missmutig über uns gleiten.

»Schlatter, Ressortchef Quiz und Spiele«, stellt er sich vor. »Dies hier sind die beiden Redaktoren der Sendung Coolrun: Monique von Weissenfluh und Peter Passen. Der Lange dort am Fenster ist Regisseur Victor Stucki. Wir haben Sie früher erwartet.«

Ich betrachte mir die Leute etwas genauer. Monique von Weissenfluh ist auffallend hübsch: pechschwarze Haare, fein geschnittene Gesichtszüge, ein Lächeln zwischen Überlegenheit und Unschuld. Sie dürfte noch keine dreißig sein, trägt einen engen, grasgrünen Kaschmirpullover, einen ockergelb-grau karierten Rock und kniehohe, hellbraune Lederstiefel.

Passen neben ihr sieht aus wie ein Lackaffe. Jedes Härchen sitzt perfekt und seinen Anzug muss er einer Waschmittelwerbung entliehen haben. Immerhin entdecke ich in seinem Allerweltsgesicht dunkle Augenringe, als litte er seit Monaten an schwerer Schlaflosigkeit.

Der Regisseur auf dem Fenstersims sieht nicht viel munterer aus, seine x-förmigen Storchenbeine hängen an ihm wie tote Schläuche und das solariumgebräunte Gesicht ist schwer zerknittert.

Die Brünette von vorhin kehrt zurück. Sie trägt ein Tablett herein, auf dem weiße Tassen, eine Thermoskanne sowie ein Rahmkrüglein und bunt bedruckte Zuckerbeutel liegen.

»Bedienen Sie sich«, fordert uns Schlatter auf und deutet großmütig auf die Köstlichkeiten.

»Darf man hier rauchen?«, fragt Häberli der Ordnung halber, während die Gauloise in seinem Mund bereits qualmt.

Schlatter lässt über sein mächtiges Pult einen abgenutzten Aschenbecher in Richtung Häberli schlittern, während seine Augen kurz aufblitzen. Offenbar erwartet er, dass wir das Gespräch beginnen.

»Yves Schneider«, sage ich, Schlatters Offerten komplett ignorierend. »Hatte der Mann Feinde?«

Schlatters Mundwinkel zucken kurz nach oben. »Neider vielleicht. Aber Feinde? Nicht dass ich wüsste.«

»Er war nicht ganz einfach«, mischt sich die fesche von Weissenfluh ein. »Ein liebenswerter Chaot, auch wenn er uns gelegentlich zur Weißglut getrieben hat.«

»Weshalb denn?«

Sie gönnt mir ein sonniges Lächeln und ich überlege mir, ob ich sie auch schon einmal auf dem Bildschirm gesehen habe. Aber ich kann mich nicht erinnern.

»Er erschien häufig zu spät oder überhaupt nicht zu Sitzungen und verschlampte chronisch alle Ablaufpläne und Moderationstexte«, erzählt sie.

»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

»Gestern, da haben wir den ganzen Tag geprobt. Und anschließend natürlich gesendet.«

»Ab zwanzig Uhr?«

»Zur Primetime, ja«, nickt sie eifrig.

Ich blicke mich um. Die Regale in dem Raum quellen über vor Videokassetten und schludrig beschrifteten Ordnern, auf dem Fenstersims neben Regisseur Stucki dösen ein paar schrumplige Topfpflanzen.

»Aha«, sage ich und betrachte mir das Schauspiel, wie Häberli mit zusammengekniffenen Augen Kaffee aus seiner Tasse schlürft. Vielleicht wirkt er auf die Anwesenden ja wie ein spleeniger, aber unter der Oberfläche hoch konzentrierter Profi. Mich zumindest irritiert er.

Sonst aber offensichtlich niemanden. Während mich die von Weissenfluh noch immer anstrahlt, blicken Schlatter und Passen gelangweilt in die Ferne und Regisseur Stucki konsultiert gähnend seine Uhr. Auch sie hatten einen langen Tag. Aber ein wenig gesprächiger könnten die Leute trotzdem sein.

»Kommt, erzählt mal was, wir wollen alle nach Hause«, fordere ich sie auf. »Ihr seid die Letzten, die Schneider lebend gesehen haben. Wie war er drauf? Hat er sich irgendwie ungewöhnlich verhalten?«

Die vier schauen sich an. »Nicht wirklich«, meint Passen schließlich mit gerunzelter Stirn.

»Das heißt?«, insistiere ich.

»Er war noch nervöser als sonst«, sagt die von Weissenfluh.

Ich wundere mich etwas über ihr Lächeln, immerhin ermitteln wir hier in einem Mordfall.

»Der Mann war schwer zu führen«, ergänzt Schlatter. »Ein Springinsfeld. Ein Irrwisch, wenn Sie so wollen. Aber als Moderator war er spitze. Sehr beliebt.«

»Hatte er Freunde hier?«

Schlatter kratzt sich am Kinn. »So gut kannte ich ihn natürlich auch nicht. Aber bei den Leuten von der Produktion war er sicher nicht unbeliebt.«

»Allerdings«, lässt sich Stucki vernehmen und blickt schon wieder auf seine Uhr. »Wir hatten viel Spaß mit ihm.«

Es fällt mir schwer, aus den Antworten der vier Fernsehschaffenden herauszufiltern, was für ein Mensch Yves Schneider war. Ein lustiger Chaot? Eine selbstgefällige Diva? Ich schiele hinüber zu Häberli und wäre froh, ihm würde auch einmal eine Frage einfallen. Aber vermutlich träumt er von seinem Aquarium oder einem Lastwagen voller Gauloises.

»Wohin ging Schneider gestern nach der Sendung?«, will ich wissen.

»Wir verzogen uns alle in die Giesserei Oerlikon und tranken noch eine Runde«, erzählt Monique von Weissenfluh. »Das ist so üblich.«

»Was heißt ›alle‹?«

»Na, alle eben. Licht, Bau, Requisite, Bildtechnik, Kameraleute, Ton, Skript, Regie. Ein Teil der prominenten Gäste auch. Francine Jordi, Katja Alves, Patrick Frey. Insgesamt ungefähr fünfundzwanzig Leute.«

»So viele?«, rutscht es mir heraus.

»Die Fernsehproduktion ist eine komplexe Sache«, äußert sich Schlatter und rollt mit seinem Stuhl einen halben Meter nach vorn.

»Wann hätte Schneider denn wieder zur Arbeit antreten sollen?«

»Als ob ihn das je gekümmert hätte«, prustet Passen heraus. »Wir mussten froh sein, wenn er zu den Regiebesprechungen erschien.«

»Er hat einen Moderatorenvertrag und wird nach Anzahl der Sendungen bezahlt!«, fährt Schlatter ihn an.

»Genau«, geifert Passen zurück. »Und daneben moderiert er Mode- und Marketingevents, eröffnet Möbelausstellungen und so weiter. Für zweitausend Franken pro Abend! Trotzdem schrie er ständig nach mehr Honorar.«

»Das sind Interna, Peter!«, zischt ihn Schlatter an.

»Na und?«, gibt Passen zurück.

Endlich ist es interessant geworden. Passen mochte Schneider ganz und gar nicht, so viel ist klar. Bei der von Weissenfluh bin ich mir noch nicht ganz sicher.

»Nehmen Sie's uns nicht übel, aber der Ordnung halber muss ich Sie fragen, wo Sie heute Morgen zwischen sieben und neun Uhr waren«, werfe ich in die Runde.

Schlatter und Passen starren mich an, als käme ich eben von der Steinigung ihrer Mütter, und selbst das wärmende Lächeln der von Weissenfluh ist plötzlich weg. Stuckis Miene kann ich nicht beurteilen, weil er aus dem Fenster hinausblickt.

»Stehen wir unter Verdacht, oder was?«, schnaubt Schlatter.

»Natürlich nicht«, sage ich. »Und damit es so bleibt, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie meine Frage einfach beantworten würden.«

Schlatter gefällt das alles nicht, das ist offensichtlich. Dennoch räumt er nach einer Weile ein, er sei mit dem Hund draußen gewesen. Jawohl, in Mönchaltdorf, wo er wohne, und nein, gesehen habe ihn niemand bei dem Sauwetter.

Passen will mit dem Auto unterwegs gewesen sein, und zwar aus dem Aargau nach Zürich. »Sicher haben Sie irgendwo Aufnahmen einer Überwachungskamera, die das beweisen.«

Stucki gibt an, ab acht mit einem Kollegen in Uster Squash gespielt zu haben.

Und die von Weissenfluh meint forsch: »Ich war bei einem Mann. Bei wem, sage ich nicht.«

Passen wirft ihr einen verächtlichen Blick zu und Stucki lacht kurz hämisch auf.

»Wer übernimmt denn nun die Sendung?«, frage ich weiter.

Schlatter wirft theatralisch die Hände in die Luft. »Coolrun stand und fiel mit Schneider. Es ist noch nicht mal klar, ob wir die Sendung weiterlaufen lassen.«

»Was?!«, empört sich Passen. »Das kann doch wohl nicht wahr sein! Da verlieren wir womöglich noch den Job wegen dieser Koksnase!«

Er bemerkt seinen Versprecher in jenem Moment, in dem er ihn begeht. Bleich sackt Passen zurück in seinen Stuhl.

»Koksnase?«, lächle ich süffisant in die Runde.

»Sechzigtausend Leute in diesem Land nehmen Koks«, relativiert die von Weissenfluh rasch. »Und lediglich die Hälfte davon ist abhängig.«

»Darunter Yves Schneider?«

»Ach Unsinn«, wehrt Schlatter ab. »Süchtig war er nicht, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«

»Er schuldet mir noch Geld«, klagt Passen. »Das kann ich jetzt wohl abschreiben.«

»Wie viel denn?«

Passen verstummt. Ich lasse es vorläufig dabei bewenden, bin mir jedoch intuitiv sicher, dass wir uns noch etliche Male mit den Fernsehleuten unterhalten müssen, bis wir den Fall gelöst haben.

»Ich will eine Liste aller Leute, mit denen Schneider hier beruflich oder privat zu tun hatte«, sage ich. »Des Weiteren hätte ich gern seinen Arbeitsvertrag, seine Personalakte sowie Zugang zu seiner Mailbox. Können wir sein Büro sehen?«

»Ich bringe Sie nachher hin«, sagt die von Weissenfluh und Passen wirft ihr erneut einen gehässigen Blick zu.

Häberli entzündet seine nächste Gauloise. Draußen hallen Schritte durch den Gang. Ich erhebe mich und John tut es mir nach, wobei Asche von seiner Zigarette auf den Boden fällt.

»Könnte es sein, dass Schneiders Auto irgendwo hier auf dem Gelände steht?«, überlege ich laut.

»Auf seinem Parkplatz steht die Angeberkarre jedenfalls nicht«, frotzelt Passen.

»Na schön, dann bräuchten wir nur noch ein Foto, auf dem Sie alle zu sehen sind.«

»Wenden Sie sich deswegen an unsere Presseabteilung«, meint Schlatter schnoddrig.

»Geben wir den Herren doch einfach das Tele mit!«, kommt uns die von Weissenfluh zu Hilfe. Sie schnappt sich eine Illustrierte von Schlatters Tisch und überreicht sie mir. »Hier finden Sie eine Reportage über die Entstehung von Coolrun, samt einem Gruppenfoto des Teams. Darauf können Sie uns alle sehen.«

»Toll«, sage ich lahm. »Verbindlichsten Dank für Ihre Kooperation.«

Schlatter verzieht säuerlich sein Gesicht, Passen blickt zur Seite und Stucki konsultiert schon wieder seine protzige Uhr. Wir verabschieden uns und folgen Monique von Weissenfluh zu Schneiders Büro. Es macht einen überaus aufgeräumten, wenig genutzten Eindruck. An den Wänden kleben stilsicher ausgesuchte Kunstplakate, Pult und Schränke sind praktisch leer.

»Kennen Sie sein Passwort?«, deute ich auf den Dell-Computer auf Schneiders Pult.

»Wo denken Sie hin?«, lacht die von Weissenfluh. »Aber ich könnte nachfragen, ob jemand von der Informatik Zeit für Sie hat.«

»Bitte sehr«, fordere ich sie auf und sie klemmt sich sofort hinters Telefon.

»Warten Sie! Es reicht, wenn in ein, zwei Stunden jemand kommt«, bremse ich sie sogleich wieder. »Als Erstes müssen wir unsere Spezialisten anfordern. Ich denke, wir nehmen einfach mal den Computer vom Netz und versiegeln das Büro.«

»Wie Sie meinen«, sagt sie.

»Bald wird es hier von Leuten wimmeln«, erkläre ich. Eigentlich will ich damit ausdrücken, dass jetzt der geeignete Zeitpunkt dafür wäre, falls Sie uns noch etwas unter sechs Augen sagen möchte. Etwas gärt in ihr, das spüre ich deutlich. Aber sie will es nicht herauslassen.

»Ich kann Ihnen gerne noch eine Videokassette der letzten Sendung mitgeben«, sagt sie lediglich.

»In eurer Sendung wird ziemlich großzügig mit Geld um sich geworfen«, ertönt Häberlis kratzende Stimme unverhofft doch noch.

»Die Gewinne sind von der Lottoswiss gesponsert«, entgegnet die von Weissenfluh ihm freundlich und ich betrachte sie fragend. »Man kauft am Kiosk ein Coolrun-Los«, klärt sie mich auf. »Dann rubbelt man entweder ein Feld für einen der Sofortgewinne auf oder den peppigen Coolrun-Aufdruck. Geschieht Zweiteres, kann man das Los einschicken. Rund drei Millionen Lose gelangen so jährlich hierher. Wir ziehen dann jede Woche nach einem komplizierten Verfahren live den Hauptgewinn. Eine Viertelmillion Franken.«

»Wow!«, entfährt es mir.

»Meine Ex schickt auch immer Lose ein. Aber sie gewinnt natürlich nie«, sagt Häberli und ich könnte nicht sagen, ob er das jetzt bedauert oder begrüßt. Er hantiert mit verkniffenem Gesicht an dem Polizeisiegel herum, das wir nachher an die Tür pappen werden.

»Darf ich Sie hinausbegleiten?«, fragt mich die von Weissenfluh. »Da kann ich Ihnen auch gleich noch das Studio und Schneiders Garderobe zeigen.«

»Aber gern«, sage ich. »Und bitte sorgen Sie dafür, dass jemand kommt und diese Tür verriegelt.«

»Mach ich«, erwidert sie und tippt drei Ziffern in ihr Natel.

»Bist du so weit?«, frage ich John Häberli und er nickt geistesabwesend.

 

Ein paar Minuten später ist die Tür durch einen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes verschlossen und von Häberli versiegelt. Wir folgen der von Weissenfluh über Gänge und Treppen hinunter ins Studio zwei und geraten in die Proben für eine Gesundheitssendung. Der Moderator staucht gerade ein paar Menschen in weißen Kitteln zusammen, die offenbar nicht begriffen haben, dass sie nie länger als zwanzig Sekunden am Stück reden dürfen. Die von Weissenfluh dirigiert uns weiter in den Regieraum: sirrende Technik, Hunderte blinkender Lämpchen, fünf nachlässig gekleidete Leute vor riesigen Mischpulten. Niemand schenkt uns Beachtung. Im Studio zwei tobt der Gesundheitsmoderator munter weiter, wie wir auf diversen Monitoren erkennen können.

Wir verschwinden wortlos und gehen eine dunkle Treppe hinunter. Die von Weissenfluh schreitet zügig vor uns her.

»Da ist übrigens das Lottostudio«, deutet sie im Vorbeigehen auf eine unauffällige Metalltür.

»Da drin werden die sechs Richtigen gezogen?«, frage ich.

»Lottomaschine und Kameras laufen vollautomatisch«, bestätigt sie. »Die Kugeln werden von einem Vertreter der Lottoswiss jedes Mal extra hergebracht. Der ganze Rest wird von der Regie aus ferngesteuert.«

Sie strebt weiter, ich entdecke rechter Hand eine Reihe von unauffälligen Türen.

»Die Künstlergarderoben«, erklärt die von Weissenfluh. »Da, Nummer zwei, hier bereitete sich Yves gestern auf seinen Auftritt vor. Sofern man bei ihm von Vorbereitung sprechen kann.«

»Können wir den Raum sehen?«, will ich wissen.

Sie telefoniert erneut mit dem Mann vom Sicherheitsdienst. Der kommt umgehend und schließt die Tür auf. Die Garderobe erweist sich als bescheidener als erwartet: ein Einzelbett, ein abgetrennter Bereich mit Toilette, Lavabo und Dusche, ein Tisch, ein Stuhl, ein Fernseher und eine Minibar. Ich kann nichts Auffälliges entdecken. Der Raum wurde erst kürzlich klinisch rein gesäubert, der Geruch von Chavelwasser hängt immer noch in der Luft.

»Hier ruhen die Stars?«, frage ich skeptisch.

»Von Köbi Kuhn bis DJ Bobo«, bestätigt sie mir. »Die Garderoben liegen sehr praktisch, da vorn ist gleich der Hauptausgang des Gebäudes.«

Tatsächlich sind es nur wenige Meter bis zu dem Portierhäuschen.

Die von Weissenfluh begleitet uns hinaus in die nach wie vor sehr frische Luft. »Hat mich gefreut«, schüttelt sie uns beiden fest die Hand und bleibt unschlüssig stehen.

Will sie uns vielleicht doch noch etwas beichten? Nein, sie macht kehrt, geht zurück in das Gebäude und lässt uns in der Kälte stehen.

»Diese Lose sind einer der vielen Spleens meiner Frau«, brabbelt Häberli. »Ich spiele lediglich Lotto. Wird allerdings auch von der Lottoswiss veranstaltet.«

»Aha«, sage ich und setze mich in Richtung unseres Wagens in Bewegung.

»Interessant, dass die ein eigenes Studio dafür haben. Du kennst doch das Zahlenlotto, Boss, oder?«, redet Häberli weiter. »Die Chance auf sechs Richtige beträgt eins zu acht Komma zwei Millionen. Das entspricht in etwa der Wahrscheinlichkeit, dass ich in Grönland gleichzeitig von einem Albino-Nashorn überrannt und vom Blitz getroffen werde. Obwohl, ich habe dir ja erzählt, dieser Blitz, der direkt in den Mast unseres Fischerboots einschlug auf dem Obersee damals, ich glaube, es war anno 1967 …«

Ich lasse ihn schwafeln und melde mich vom Auto aus bei der Einsatzzentrale zurück. Bestelle ein Team, das sich Schneiders Büro vornehmen soll, und gebe die Suchanzeige nach seinem Lamborghini auf. Dann brause ich los.

»Ist recht ernüchternd zu sehen, wo die Sendungen produziert werden«, deute ich zurück auf die monströsen Gebäude, in denen nur noch wenige Fenster erleuchtet sind. »Ich hab's mir glamouröser vorgestellt.«

»Ist halt eine Fabrik wie jede andere«, meint Häberli.

»Aber eine mit einem hehren Auftrag«, gebe ich zu bedenken. »Informieren, unterhalten, bilden, aufklären – das braucht schon was. Die Leute vor den Bildschirmen erwarten schließlich einiges.«

»Die würden sich besser auch ein Aquarium kaufen, Boss. Das würde ihnen vermutlich mehr bringen.«

Ich werfe schweigend einen schnellen Blick auf Häberli. In seinem zerknitterten Anzug sieht er aus wie Columbos abgestürzter älterer Bruder mit Zigarette statt Zigarre im Mund. Mit seinen Lungen könnte man vermutlich ein Fußballfeld teeren. Es grenzt an ein Wunder, dass er überhaupt noch atmen kann.

»Gib mir auch eine Zigarette, John. Meine liegen im Büro.«

 

Am nächsten Morgen ist unser Team endlich wieder komplett. Wir sitzen in unserem quadratischen, fensterlosen, schmutzig gelben Sitzungssaal an den hufeisenförmig angeordneten Pulten. Es riecht nach feuchten Schuhen und Pulmexsalbe, kaltes Licht fällt aus den nackten Glühbirnen. Bea schnäuzt sich neben dem verstaubten Hellraumprojektor gerade in ein besticktes Taschentuch und Mario, adrett gekleidet wie immer, hüstelt. Auch Gret ist bei uns. Ihre Stimme gleicht zwar immer noch eher einem Röcheln als dem Gesang einer Nachtigall, aber dafür sieht sie schon wieder blendend aus. Sie gefällt mir einfach. Und wenn sie sich ihre schulterlangen weißblonden Haare aus der Stirn streicht und mich mit ihren eisblauen Augen ernst betrachtet, frage ich mich jedes Mal, ob uns nicht doch mehr verbindet als Respekt und große Sympathie. Beziehungsweise mehr verbinden sollte. Aber ich rufe mich dann regelmäßig zur Ordnung und halte mir konsequent vor Augen, dass ich keineswegs unglücklich verheiratet und zudem viel zu alt für sie bin.

Gret stöhnt demonstrativ auf, als sich Häberli umständlich die nächste Zigarette anzündet. Auch Michael wirft ihm einen verärgerten Blick zu. Eigentlich müsste ich John Häberli zum wahrscheinlich hundertsten Mal auf das geltende Rauchverbot in unserem Sitzungssaal hinweisen. Aber für den Moment bin ich einfach nur zufrieden, dass mein ganzes Team anwesend ist. Um zehn muss ich bei unserem Kommandanten, dem Phantom, antreten und es wäre schön, ihm von Fortschritten berichten zu können.

»Willkommen zurück, Kollegen«, beginne ich also. »Michaels Zusammenfassung der bisherigen Ermittlungsergebnisse habt ihr gelesen. Ebenso Strichs Spurenanalyse vom Tatort, den Obduktionsbericht und die Zusammenfassung dessen, was die Kollegen in Schneiders Büro vorgefunden haben – nämlich gar nichts. Weiß sonst irgendjemand etwas Neues?«

»Schneider war vielleicht spielsüchtig«, vernehme ich die staubtrockene Stimme John Häberlis.

»Wie bitte?«

»Kasino Baden«, sagt er lakonisch und nimmt einen tiefen Zug von seiner filterlosen Gauloise.

»Komm, erzähl schon«, fordere ich ihn auf.

John nickt bedeutungsschwanger, holt hörbar Luft, drückt dann aber zuerst die nur bis zur Hälfte gerauchte Zigarette im Aschenbecher vor ihm aus.

»John!«, ermahnt ihn Michael.

»Ich kenne ja Turi Müller«, schwadroniert Häberli endlich los. »Ihr wisst schon, Müller Hoch- und Tiefbau. Den Kollegen, mit dem ich einst diesen Rekordwels aus dem Walensee zog. Ein Riesenfisch. Wäre er mir beispielsweise beim Tauchen begegnet – ich wäre böse zusammengefahren, das kann ich euch sagen! Der Kerl zog an der Rute, wir kippten fast vom Boot …«

»Wir kennen die Geschichte, John«, unterbreche ich ihn. »Wo ist denn nun der Zusammenhang zwischen diesem Teufelsfisch und dem Spielkasino?«

Häberlis Redefluss versiegt und er forscht in seinem zerknitterten Jackett nach einer neuen Gauloise. Ich spüre, dass er im Begriff ist, mir den letzten Nerv zu rauben. Der Mann ist kaum je anwesend und tut den lieben langen Tag, was er will. Entweder faselt er stundenlang konfus herum oder er sagt gar nichts, wie gestern bei unserem Besuch in der Fernsehanstalt. Das Einzige, was dagegen spricht, ihn frühzeitig in Pension zu schicken, ist, dass er manchmal doch recht brauchbare Ideen hat. Nur fehlt mir zunehmend die Geduld zu warten, bis sie kommen. Auch Bea klopft bereits nervös mit den Fingern auf den Tisch und Michael verdreht seine Augen.

Endlich brennt die verfluchte Zigarette zwischen Häberlis gelb verfärbten Fingerkuppen und er redet weiter: »Turi Müller ist ein ziemlich vermögender Mann. Aber einfach und bescheiden geblieben und ein begnadeter Fischer, wie erwähnt. Er besucht des Öfteren das Spielkasino Baden und erzählte mir, dass Yves Schneider dort Stammgast war und nur so mit Geld um sich warf. Ich traf Turi gestern spät nachts in der Bierhalle Wolf.«

»Welch selbstloser, mutiger Einsatz«, unke ich, aber Häberli kümmert das nicht. Wie alles, was ich zu ihm sage.

»Das würde erklären, warum Schneider sowohl bei seinem Freund Marc als auch bei Werber-Ernie und Redaktor Passen Schulden hatte«, meint Michael. »Und weshalb er so penetrant mehr Lohn forderte.«

»Möglich. Wir gehen der Sache auf jeden Fall nach«, halte ich fest. »Es wundert mich nur, dass die Presse noch nichts davon mitgekriegt hat.«

»Allwissend sind die auch nicht«, äußert sich Gret erstmalig und fährt gleich fort: »Die Tatsache, dass die Tatwaffe ein Sturmgewehr 90 der Schweizer Armee war, deutet meiner Ansicht nach darauf hin, dass die Tat nicht von allzu langer Hand vorbereitet wurde.«

»Wieso?«, fragt Bea.

»Eine Militärknarre ist das, was die Mehrheit der Männer in unserem Land am schnellsten zur Hand hat«, beantwortet Gret die Frage.

Damit hat sie absolut recht. Jeder, der in der Schweiz Militärdienst leistet, und das ist immer noch die klare Mehrheit aller Männer, bewahrt seine Armeewaffe zu Hause auf, sei es das Sturmgewehr 90 oder die Armeepistole SIG P220 für Offiziere. Wenn die ewigen, langweiligen Militärwiederholungskurse mit vierzig endlich vorbei sind, darf man das metallene Ungetüm behalten. Auch bei mir verrostet eins im Keller.

Den meisten Polizisten ist diese Praxis ein Dorn im Auge. Selbstmorde, Nachbarschaftsstreitigkeiten, Amokläufe wie jener in Zug 2001, bei dem vierzehn Menschen starben, oder Familiendramen wie die Hinrichtung der Schweizer Skirenngröße Corinne Rey-Bellet im Mai 2006 durch ihren Mann: Sturmgewehre und Offizierspistolen kosten in der Schweiz jedes Jahr mehr Menschenleben als sämtliche Lawinen, Giftpilze, Badeunfälle und Flugzeugabstürze zusammen. Mehr als dreihundert, laut einer Studie der Uni Lausanne. Dass die Armee nach Hinweisen durch Angehörige, Hausärzte oder Psychologen jährlich rund fünfzig Militärwaffen von potenziellen Gewalttätern konfisziert, nützt da gar nichts. Ebenso wenig fruchten Volksinitiativen von Frauenzeitschriften und Petitionen linker Kreise, die den Wahnsinn beenden wollen. Die schussbereite Knarre im Keller ist ein Schweizer Dogma und der Bundesrat hütet sich wohlweislich, gegen die Waffen- und Schützenlobby anzugehen.

»Eine spontane Tat also?«, frage ich in die Runde.

»Genau. Mord im Affekt«, spekuliert Gret und ein paar Sekunden lang wird es ruhig im Saal.

»Wir nehmen sie uns alle noch mal vor«, erläutere ich dann das weitere Vorgehen. »Die beiden Redaktoren, den Regisseur, den Ressortleiter, Schneiders Lebenspartner Marc und seine beiden WG-Kumpane. Darüber hinaus brauchen wir eine detaillierte Aufstellung von Schneiders Vermögensverhältnissen. Kümmere du dich darum, John. Dann müssen wir endlich Schneiders verdammtes Auto finden, ein brandneuer schwarzer Lamborghini Gallardo kann doch nicht einfach wie vom Erdboden verschluckt sein! Mach du das, Mario. Michael und Gret organisieren die Vernehmungen. Bea, du sprichst mit Schneiders Mutter und seiner Schwester. Das wär's, Leute, an die Arbeit!«

Stühle scharren über das abgeschabte Linoleum und Häberli kippt den Inhalt des vollen Aschenbechers in den Papierkorb neben der Tür. Irgendwann einmal wird er sicher noch einen Brand verursachen.

Zurück in meinem Büro zünde ich mir eine Muratti an und versuche, mich auf das Gespräch mit dem Phantom vorzubereiten. Unser Polizeikommandant ist ein zittriger Greis, der seit Ewigkeiten kurz vor der Pensionierung steht und an schwerer Diabetes und Gicht leidet. Aber er ist noch immer im Amt. Vor allem deshalb, weil es unmöglich scheint, einen Nachfolger zu finden, der bei allen Abteilungen auf Akzeptanz stößt.

Viele behaupten, ich würde auf den Posten aspirieren, was völlig aus der Luft gegriffen ist. Wenn ich etwas hasse, sind es Sitzungen. Und wenn ich etwas noch mehr hasse, sind es Sitzungen mit politischen Vorgesetzten und ihren Lakaien. Ich sitze lieber frierend im Wald und beschäftige mich mit erschossenen Fernsehmoderatoren.

Zugegeben, ich habe mal kurz überlegt, wie es wäre, wenn man mir den Job wirklich anbieten würde. Insbesondere, weil mich das, was mir an Gerüchten hinsichtlich der bisherigen Bewerber zu Ohren gekommen ist, wirklich erschaudern lässt. Die beste Kandidatur ist noch jene von Christa Briner von der städtischen Ermittlung, mit der wir damals die S-Bahn-Erpressergeschichte gemeistert haben. Aber Christa hat sich bei den Politikern mit ihren brachialen Umgangsformen längst um jede faire Chance gebracht.

Meine Speedmaster sagt mir, dass es zwanzig vor zehn ist. Ich rufe Leonie an.

»Fred, ich bin bei der Arbeit«, klagt sie.

»Ich auch. Sag, haben wir heute Abend schon etwas vor?«

»Ich bitte dich, Fred! Wir gehen zusammen essen, weißt du das denn nicht mehr? Ich hab's dir doch am Dienstag noch selbst in die Agenda geschrieben! Du hast versprochen, du würdest in einem geeigneten Lokal einen Tisch reservieren. Sag bloß nicht, dass du heute Abend arbeiten musst! Bei allem Verständnis, aber …«

»Wäre dir das Kasino Baden recht?«, fahre ich dazwischen und ihr Redestrom versiegt schlagartig.

»Hört sich nicht uninteressant an«, räumt sie schließlich ein. »Wie bist du denn auf diese Idee gekommen?«

»Du neigst dazu, mich zu unterschätzen, Leonie. Manchmal habe ich durchaus meine lichten Momente.«

»Scheint tatsächlich so«, meint sie anerkennend. »Sorry, wenn ich etwas abweisend geklungen haben sollte. Mir gehen hier heute alle ziemlich auf die Nerven.«

»Keine Ursache. Ich hol dich um sieben ab. Oder ist das zu spät?«

»Treffen wir uns doch einfach um halb sieben in der Bar der Kronenhalle.«

»Gerne. Ich freue mich.«

»Ich mich auch, Meister! Einen schönen Tag noch. Ach ja, und schau heute lieber nicht in den Blick, die überschlagen sich fast mit wilden Gerüchten und Spekulationen.«

 

Das Phantom empfängt mich wortlos. Es lauert zusammengesunken in einem schweren, weinroten Lederstuhl und deutet mit seinem zittrigen Zeigefinger auf den Blick, der vor ihm liegt. TV-Macher in Angst: Polizei hilflos!

»Wir arbeiten hart«, sage ich und gebe eine Zusammenfassung unserer bisherigen Erkenntnisse zum Besten.

»Dürftig, sehr dürftig«, murmelt das Phantom. »Brauchst du mehr Leute?«

»Im Moment nicht. Aber danke für das Angebot«, verneine ich seine Frage.

»Falls noch eine weitere Fernsehgröße stirbt, sind wir angeschmiert«, sagt er und fuchtelt aufgeregt mit der Zeitung vor mir herum.

Ich habe allen Respekt vor meinem Vorgesetzten, aber dass ausgerechnet er paralysiert den Blick vor mir hin und her schwenkt, macht mich ernsthaft sauer. »Herrgott, Fritz! Das kann doch nicht dein Ernst sein! Wenn irgendwo ein Fahrlehrer erschossen wird, bedeutet das doch auch nicht, dass jetzt alle Automobilisten dieser Welt auf der Abschussliste stehen, oder? Yves Schneider wurde erschossen und sonst niemand! Ein fünfunddreißigjähriger, chaotischer, schwuler Schwafler, der zufällig fürs Fernsehen arbeitete! Wir ermitteln auf die übliche Art. Mit Hochdruck. Was erwartest du denn?«

Das Phantom grinst plötzlich und fragt mich augenzwinkernd: »Willst du nicht mein Nachfolger werden?«

Damit bringt er mich total aus dem Konzept. Ich versuche, Zeit zu gewinnen. »Hörst du denn jetzt wirklich auf?«

»Ich kann nicht mehr, Fred. Und ich will einen anständigen Mann als Nachfolger.«

Ich bin tief gerührt. Immerhin unser Kommandant hält mich für fähig.

»Ich überleg's mir«, sage ich. »Aber ich glaub, ich bin nicht der Typ dafür.«

»Meinst du, ich war das?«, schleudert er mir entgegen.

»Also, ich geh jetzt wieder zurück in mein Büro«, stammle ich unsicher. »Ich werde dich auf dem Laufenden halten.«

Das Phantom sinkt zurück in seinen Sessel und gähnt.

Einigermaßen benommen wanke ich aus seinem Büro. Ich, Fred Staub, Kommandant der Zürcher Kantonspolizei? Immerhin könnte ich hier dann ein wenig ausmisten. Oder mir ein neues, gediegenes Pult liefern lassen. Leonie wäre stolz auf mich und Tochter Anna vielleicht auch. Sohn Per hingegen würde mich mit Häme überschütten. Und erst die Kollegen von den anderen Abteilungen und der Stadtpolizei, allen voran Christa Briner! Ich kann ihre dummen Sprüche jetzt schon hören … Mehr Lohn brauche ich jedenfalls nicht, ich konnte bislang auch so immer alles bezahlen, wonach es mich gelüstete.

Erst löse ich diesen Fall, nehme ich mir vor. Danach sehen wir weiter.