Über den mit blauem Filz ausgelegten Spieltischen hängen mächtige Kronleuchter. Ihr Beleuchtungseffekt wird durch die dichten Rauchschwaden, die aus den Zigaretten der gierig spielenden Massen aufsteigen, allerdings leicht getrübt. Zum edel schummrigen Ambiente tragen auch die in dunklem Blau-Rot gehaltenen Teppiche, die bunt illuminierte, üppig bestückte Bar sowie die hellblauen Uniformen der Croupiers und Saalangestellten bei.
Ich sehe nach der Uhrzeit. Viertel nach neun. In einer Dreiviertelstunde habe ich einen Termin beim Geschäftsführer dieses Etablissements. Weiß er, dass ich bereits hier bin? Wahrscheinlich schon, denn die Hallen quellen über vor Überwachungskameras und mein Bild war jüngst mehrfach in der Zeitung.
Meine Frau und ich vertreiben uns die Zeit an einem Roulettetisch. Leonie liegt leicht im Minus und ich beschränke mich darauf, ihr skeptisch zuzugucken. Sie spielt immerhin sehr vorsichtig. Während es um sie herum im Minutentakt monsunartig Jetons auf den Tisch regnet, lässt Leonie auch einmal eine Runde aus und setzt nur kleine Beträge. Gerade bugsiert sie einen mageren Zehn-Franken-Jeton auf Rot und lehnt sich entspannt zurück. Die Kugel springt wild umher in dem rotierenden Roulettekessel, fokussiert von Dutzenden von gierigen Blicken, und fällt schließlich in das Fach der roten Dreißig.
»Trente, rouge.«
Die bebrillte, dunkelblonde Croupière scharrt die Jetons der Verlierer vom Tisch und zahlt die Glückspilze aus, die richtig spekuliert haben. Auch Leonie kriegt einen Zehner, den sie sofort erneut auf Rot setzt.
»Faites vos jeux!«, rollt die Kugel bereits wieder.
Durch Leonies Gewinn ermutigt, werfe ich meinerseits einen Zwanziger-Jeton auf Impair, die ungeraden Zahlen also, weil ich der Leuchtsäule über dem Spieltisch entnehme, dass zuletzt fünf Mal hintereinander gerade Zahlen gefallen sind.
Die Kugel hüpft und klimpert – heraus kommt die rote Zwölf. Leonie gewinnt schon wieder, mein Zwanziger wird hingegen weggewischt.
So nicht, sage ich mir, und setze gleich nochmals zwanzig auf Impair. Ich zünde mir eine Muratti an und sehe entsetzt, wie die Kugel ins Fach der Sechsundzwanzig fällt. Schon wieder eine gerade Zahl, unglaublich! Der Rechen in der Hand der Croupière kennt keine Gnade. Dutzende Jetons, darunter auch meiner, verschwinden klackernd in einer Spalte, die vor der Croupière in den Tisch eingelassen ist.
Leonie hingegen hat schon wieder gewonnen, diesmal, indem sie auf Schwarz gesetzt hat. Ihr Lächeln zwischen Triumph und Häme treibt mich weg vom Roulettetisch. Ich trete ein paar Schritte zur Seite, ziehe heftig an meiner Zigarette und blicke mich um. Drei lustig scherzende, ansonsten aber kampferfahren wirkende Männer lungern auf einer verchromten Wendeltreppe herum, die zu einer Tür hinaufführt, hinter der sich wohl das Chefbüro befindet. Eine vorbeihastende Mitarbeiterin strahlt mich an. Ältere Männer kritzeln an Stehtischen hoch konzentriert Notizblöcke voll, im irrationalen Glauben wohl, sie könnten irgendein Gewinnsystem herbeianalysieren.
An einem der Roulettetische steht Victor Stucki, der baumlange Regisseur mit den Storchenbeinen. Was will der denn hier?
Ich schlendere zu ihm hinüber und sage von hinten über seine Schulter hinweg: »Guten Tag, Herr Stucki, welche Überraschung, Sie hier anzutreffen!«
Er wendet sich langsam zu mir um und die junge Blondine neben ihm tut es ihm nach. »Ach, Sie sind's«, meint er missmutig. »Privat oder bei der Arbeit?«
»Beides, Herr Stucki. Und Sie? Vergnügen Sie sich öfters hier?«
»Wäre das ein Verbrechen?« Stuckis blonde Begleiterin mustert mich feindlich. Sie ist sicher mindestens zwanzig Jahre jünger als er, ihr Ausschnitt ist gewaltig.
»Yves Schneider war hier Stammgast«, kläre ich den Regisseur auf.
»Was Sie nicht sagen!«
Blödes Arschloch, denke ich mir und überlege, wie ich ihm das Leben schwer machen könnte. Aber ich wüsste nicht, warum er nicht in diesem Kasino sein dürfte. Dass gestern sein Kollege brutal erschossen wurde, ist schließlich kein Grund.
»Waren Sie mal gemeinsam mit ihm hier?«
»Nicht dass ich wüsste. Wir hatten privat keinerlei Kontakt.«
»Ist das Ihre Freundin?«, deute ich auf die Jungblondine.
Die kneift ihre grellrot geschminkten Lippen zusammen und betrachtet mich wie ein bösartiges Insekt.
Stucki blafft mich an: »Muss ich das beantworten?«
Verschiedene Leute an den Spieltischen haben sich inzwischen neugierig zu uns umgedreht. Ich blase zum Rückzug.
»Viel Glück«, verabschiede ich mich. »Möge die Kugel mit euch sein!«
Ich drücke den Stummel meiner Muratti in einen der herumstehenden Aschenbecher und tröste mich mit ein paar Gratiserdnüssen an der Bar. Stuckis Anwesenheit irritiert mich. Verdienen diese Fernsehleute alle so viel Geld? Ich versuche, von Weitem zu erkennen, mit welchen Einsätzen der Regisseur spielt. Mit wesentlich höheren jedenfalls als Leonie, muss ich feststellen. Eben schlendert er, seinen langen Arm um die Blondine gelegt, zum einzigen Blackjack-Tisch, der schon in Betrieb ist.
»Beim Blackjack hast du als Spieler die besten Chancen«, hat mir Häberli am Nachmittag noch treuherzig versichert und nach meiner Pleite beim Roulette bin ich versucht, Häberlis Rat eine faire Chance einzuräumen. Ich dränge mich ebenfalls an den Tisch, mitten zwischen einen giftig dreinblickenden Aargauer mit einer Rolf-Knie-Krawatte und eine asiatisch aussehende, aber Berner Dialekt parlierende Dame in einem roten Abendkostüm, die mit stoischer Ruhe Fünfhundert-Franken-Jetons auf den Spieltisch wirft. Stucki nervt meine Anwesenheit sichtbar. Aber einfach klein beigeben und gehen will er nicht, im Gegenteil, er wechselt gerade eine Zweihunderternote in Jetons um.
Wir spielen ein paar Runden gegen den Bankier, im steten Bestreben, den geforderten einundzwanzig Punkten möglichst nahe zu kommen, ohne über sie hinauszuschießen. Die Einzige, der die Karten wirklich gut gesinnt sind, ist die Asiatin. Bei mir läuft es miserabel und auch Stucki muss bald frisches Geld aus seinem Jackett fischen. Der Aargauer verlässt nach einer weiteren Niederlage gegen den Bankier sogar wutschnaubend den Tisch und stürmt an die Bar, wo er nach einem Gin Tonic schreit. Kurz darauf gehen dann auch Stucki und seine Blondine.
Ich bleibe noch eine Weile und verliere munter weiter, weil der herausgeputzte Bankier ein Wunderblatt nach dem anderen präsentiert. Schließlich streiche auch ich die Segel. Während eine schmuckbehängte deutsche Rentnerin meinen Platz einnimmt, schlendere ich zurück zum Roulettetisch.
Leonie rutscht maulend ein Stück zur Seite, der Jetonberg vor ihr ist weiter angewachsen.
Ich setze erneut auf Impair. Um mich herum werfen die Leute Spielchips auf den grünen Filz, als wären es Kieselsteine. Tausende von Franken liegen da in Form bunter Plastikscheiben. Die Kugel hüpft, die Spannung steigt, einige wenden ihren Blick ab, vielleicht beten sie. Pling, es fällt die Achtundzwanzig und die junge Croupière scharrt das Plastiktreibgut mit stoischem Gesichtsausdruck vom Feld. Immerhin, ein paar Jetons muss sie auch herausrücken, zum Beispiel für diejenigen Spieler, die auf Schwarz gesetzt hatten – zu denen unter anderem natürlich Leonie gehört.
Vier Runden später besitze ich noch einen einzigen, läppischen Zehnerjeton. An den Stehtischen grübeln die älteren Herrschaften immer noch und füllen selbst gebastelte Tabellen mit Gewinnsystemen aus. Die rot gewandete Asiatin am Blackjacktisch setzt unterdessen Tausender, der Aargauer bearbeitet in der Eingangshalle draußen den Bankomaten.
Wieder Pair, die Sechs diesmal. Es ist einfach nicht zu fassen. Dass auch Leonie zur Abwechslung einmal verliert, ist ein schwacher Trost.
Ich werde noch ein letztes Mal auf die vermaledeiten ungeraden Zahlen setzen – irgendwann müssen sie doch kommen! Ungeduldig wedle ich mit einer Hunderternote herum, bis mir die Croupière endlich einen Jeton dafür gibt. Einen Hunderter, obwohl mir fünf Zwanziger eigentlich lieber gewesen wären. Egal. Ich lege das Teil entschlossen auf Impair. Leonie betrachtet mich sorgenvoll.
Der Roulettekessel dreht sich, ich folge den Bocksprüngen der Kugel gebannt – und muss entgeistert zur Kenntnis nehmen, dass sie auf die Vierzehn fällt. Als mein Hunderter mitleidlos vom Tisch gefegt wird, raune ich Leonie frustriert zu, ich müsse jetzt ohnehin zum Geschäftsführer.
»Ich spiele noch ein paar Runden«, meint sie leichthin. »Danach findest du mich an der Bar.«
Ich steige die Wendeltreppe hoch. Die Sicherheitsleute lassen mich ohne weiteres Aufheben passieren, der Geschäftsführer erwartet mich.
Er entpuppt sich als ungefähr vierzigjähriger Österreicher mit einem freundlichen Gesicht. Der Mann trägt einen sehr teuren Anzug, stellt sich als Hermann Schönfelder vor und leiert ungefragt seinen beruflichen Werdegang herunter: Ingenieurstudium der Elektrotechnik, Betreuer von Spielanlagen auf einem Kreuzfahrtschiff, Ausbildung zum Croupier bei Casino Austria International. Geschäftsführer von Kasinos in Australien, Norwegen und Tschechien. Seit drei Monaten hier in Baden. Er schenkt mir Mineralwasser in ein bereitstehendes Glas und fragt mich, wie mir sein Kasino gefällt.
»Ihr Kasino ist okay«, antworte ich. »Nur die Karten und Zahlen gefallen mir nicht.«
»Dafür läuft es bei Ihrer Frau«, lächelt er und ich wundere mich ein wenig, woher er das weiß.
»Yves Schneider«, komme ich zum Punkt.
»Lieber Herr Staub, Sie wissen natürlich, dass wir Ihnen gar nichts über unsere Kundschaft erzählen dürfen.«
»Tun Sie's trotzdem!«
»Sonst nehmen Sie nämlich unser prächtiges Kasino auseinander, sehe ich das richtig?«
»Sagen wir so: Wir brauchen diese Information und es wäre uns sehr recht, wenn wir sie möglichst unkompliziert bekommen könnten.«
»Na schön«, lenkt Schönfelder erstaunlich schnell ein. »Schneider war jede Woche mindestens einmal hier und spielte ausschließlich Blackjack. Teilweise mit beachtlichen Einsätzen.«
»Was bedeutet ›beachtlich‹?«, frage ich nach.
»Ganz so detailliert weiß ich das natürlich nicht. Aber ich habe mir vorhin eine Videoaufzeichnung von letzter Woche angesehen. Vom vergangenen Sonntag, um genau zu sein. Da spielte er mit Hundertern.«
»Und mit welchem Erfolg?«
»Man könnte von einer ziemlichen Pechsträhne sprechen«, sagt Schönfelder. »Er hat viertausendachthundert Franken verloren.«
»Aha. Mit wem war er denn hier?«
»Mit einem jungen Herrn. Ich habe Ihnen einen Ausdruck der Überwachungskamera angefertigt.«
Schönfelder überreicht mir einen Videoprint. Schneiders Zockerkumpan ist deutlich zu erkennen. Sein Lebenspartner Marc ist es aber nicht und auch sonst kein mir bekanntes Gesicht.
»Sie sind sehr kooperativ«, räume ich ein.
»Wenn herauskommt, dass Schneiders Tod auch nur im Geringsten etwas mit unserem Kasino zu tun hat, wäre das für uns sehr unangenehm«, sagt Schönfelder. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns als wohlwollende Partner betrachten könnten.«
Nicht, wenn beim Roulette weiterhin solche Scheißzahlen fallen, hätte ich beinahe gesagt. Doch ich kann es mir zum Glück verkneifen. Immerhin scheint der Mann ein mit allen Wassern gewaschener Profi zu sein, der sein Metier versteht und begriffen hat, wann im Geschäftsinteresse mit der Polizei zusammenzuarbeiten ist.
»Könnten Sie abklären, seit wann Schneider Ihr Etablissement besuchte und ob er dabei auch gelegentlich in anderer Begleitung hier war?«
»Das müsste möglich sein«, bejaht Schönfelder die Frage.
»Ich melde mich wieder bei Ihnen«, sage ich und erhebe mich. »Ich gehe jetzt noch mal nach unten. Mal sehen, ob Fortuna zur Besinnung gekommen ist.«
»Viel Vergnügen, Herr Staub. Und grüßen Sie Ihre reizende Frau von mir. Wenn Sie mögen, lade ich Sie beide gerne noch zu einem Glaserl Schampus ein.«
»Das wird nicht nötig sein«, lehne ich das Angebot freundlich ab. »Also, ich melde mich. Und besten Dank!«
»Keine Ursache.«
Ich steige wieder hinab ins Gewusel. Leonie kommt strahlend auf mich zu und präsentiert mir stolz eine Handvoll gewonnene Jetons.
»Was fielen denn für Zahlen?«, frage ich sie. »Sicher weitere zwanzigmal hintereinander gerade, oder?«
»Nachdem du weg warst, kamen nur noch ungerade Zahlen«, erzählt sie und pufft mir scherzhaft in die Rippen. »Hast du was herausbekommen?«
»Mehr, als ich dachte«, antworte ich. »Aber denk nicht, dass der Fall jetzt gelöst ist.«
Leonie hakt sich unter, wir holen an der Garderobe unsere Mäntel und steuern auf den Ausgang zu. Wir verlassen das Kasino um 22.25 Uhr und ich schalte mein Natel wieder ein. Es scheint dem aufgeregten Gepiepe nach inbrünstig darauf gewartet zu haben. Vier Nachrichten auf der Combox und drei Kurzmitteilungen. Man könnte meinen, ich hätte Geburtstag.
Meine Stimmung verschlechtert sich rapide, als ich sehe, dass die Nachrichten allesamt von Michael und Gret stammen und jeweils um einen schnellen Rückruf gebeten wird. Leonie blickt mich fragend an. Da ich keine andere Wahl habe, rufe ich Michael zurück.
Er nimmt sofort ab: »Endlich, Fredy! Wir haben einen neuen Toten im Kanton.«
»Ein Fernsehmensch?«
»Ist noch unklar, wahrscheinlich nicht. Der Mann hat sich wohl erschossen und sieht übel aus. Sein Haus brennt noch. Aber das Beste kommt erst.«
»Schieß los!«, dränge ich ihn.
»In der Brusttasche seines Hemdes steckt eine große Fotografie von Yves Schneider!«
»Heilige Scheiße!«, entfährt es mir und Leonie bleibt abrupt stehen. »Wo seid ihr denn jetzt?«
»Vor dem brennenden Haus. In Wasterkingen.«
»Wie heißt das Nest?« Seit 1984 bin ich Kantonspolizist. Aber immer noch gibt es in diesem Kanton Orte, von denen ich nie zuvor gehört habe.
»Wasterkingen«, wiederholt Michael. »Im Rafzerfeld, hinter Hüntwangen, an der Grenze zu Deutschland.«
Leonie neben mir wippt mit ihrem Fuß nervös auf und ab und schlottert demonstrativ.
»Muss ich vorbeikommen?«, frage ich überflüssigerweise.
Ich muss, das ist klar. Michael beantwortet meine Frage deshalb erst gar nicht.
»Wie fahre ich am besten?«
»Autobahnkreuz Zürich Nord. Vorbei am Flughafen nach Bülach. Weiter geradeaus nach Eglisau. Durch den Ort, dann kommst du irgendwann an ein Rondell. Dort geht's rechts nach Hüntwangen. Kurz nach der Ortseinfahrt siehst du …«
»Warte, ich muss mir das aufschreiben«, unterbreche ich ihn und bitte Leonie um einen Stift.
Sie hat sofort einen zur Hand und reicht ihn mir stirnrunzelnd. Ich klemme mir das Natel zwischen Kinn und linke Schulter und kritzle den weiteren Verlauf der Strecke in einen kleinen Notizblock, den mir Leonie gütigerweise hält, während ich schreibe.
»Ich bin unterwegs«, verabschiede ich mich in resigniertem Tonfall.
»Was ist los, Fred? Ich dachte, wir hätten wieder mal einen Abend für uns. Angefangen hat's doch gut. Oder nicht?«
Ich umarme sie hilflos. Natürlich wäre mir nichts lieber, als jetzt einfach mit ihr nach Hause zu fahren. Noch einen kleinen Cognac zu nehmen. Den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen.
»Ich hab mich doch auch gefreut«, jammere ich. »Aber ich kann es nicht ändern! Sie haben eine Leiche gefunden, die einen eindeutigen Zusammenhang mit Schneider hat. Ich muss an den Tatort, so sehr es mir auch zuwider ist.«
»Du Ärmster«, höhnt Leonie und entwindet sich theatralisch meinen Händen. Sie ist derlei Irritationen unseres Privatlebens durchaus gewöhnt und hat sich nie nachhaltig darüber beschwert. Sie tut es auch jetzt nicht. Ich selbst ärgere mich weit mehr über die Störung.
»Sei nicht böse«, sage ich und ziehe meine Frau erneut an mich.
»Bin ich nicht«, meint sie. »Mach mir einfach keinen Unsinn da draußen.«
Ich gebe ihr einen Kuss und sie erwidert ihn heftig. Vielleicht breche ich heute einfach die ungeschriebenen Regeln und fahre trotz des neuen Leichenfundes nach Hause. Leonie wäre hocherfreut. Und hoch empfänglich, wie mir ihre emsige Zunge signalisiert. Wir umfassen einander mit allen Gliedern wie Schlingpflanzen, von Weitem könnte man uns für liebestolle Teenager halten.
Was würde es schon ändern, wenn ich die Leiche einfach meinen Kollegen überließe? Michael und Gret sind beide mindestens so schlau wie ich. Was sehen sie nicht, was ich sehen könnte? Irgendein kleines Detail vielleicht. Den Hauch einer Stimmung. Einen verborgenen, unsichtbaren Zusammenhang.
»Macht es dir was aus, mit dem Taxi nach Hause zu fahren?«
»Aber ja«, flötet Leonie und wir halten uns noch ein paar Sekunden mit wildem Knutschen auf. Dann boxt sie mir sanft und scherzhaft in den Bauch, löst sich und stolziert zurück zum Eingang des Kasinos.
Schande, verfluchte!
Ich eile zu unserem Toyota in der Tiefgarage des Kasinos und bin wenig später bereits auf der Autobahn. Das Radio lasse ich aus. Wenn ich schon mitten in der Nacht mutterseelenallein auf einer verwaisten Autobahn zu einem Tatort rasen muss, dann will ich wenigstens meine Ruhe haben. Ich komme am Flughafen vorbei, der um diese Uhrzeit beleuchtet ist wie eine intergalaktische Raumstation. Dafür ist es zwischen Bülach und Eglisau zappenduster. Wie viel habe ich eigentlich getrunken in diesem Kasino? Längst habe ich das Fernlicht eingeschaltet, weiß reflektierende Leitplanken leiten mich über einen kurvenreichen Hügel. Endlich, Eglisau. Die Brücke über den Rhein. Das von Michael erwähnte Rondell. Links ein gigantisches Kieswerk. Eine schnurgerade Straße. In weiter Entfernung kommen mir zwei Autos entgegen. Einen Campari, rund drei Deziliter Wein zum Essen und zwei Bier in der Spielhalle, gebe ich mir die späte Antwort auf meine Frage. Die Autos nähern sich schnell, ich schalte das Fernlicht aus. Zu viel habe ich getrunken. Mein Blut müsste außerirdisch sein, sollte es nicht mehr als die erlaubten 0,5 Promille Alkohol aufweisen. Die Autos schießen an mir vorbei wie Raketen.
Endlich Hüntwangen, das Restaurant Linde linker Hand. Schon wieder ein Kreisel. Ich drücke mein Gesicht nahe an die Windschutzscheibe. Da, ein weißes Ortsschild, es ist tatsächlich Wasterkingen. Ein ewig langer Maschendrahtzaun, der wohl das Kieswerk begrenzt. Die Straße ist menschenleer. Und wirklich lang. Ich frage mich schon, ob ich richtig bin, als unverhofft die angekündigte Einfahrt auftaucht. Ich bremse abrupt und die Hinterräder brechen auf dem steifgefrorenen Schneematsch ein wenig aus. Ich solle die zweite Einfahrt nehmen, hat Michael gesagt. Ist weiter vorn noch eine? Unschlüssig rolle ich im Schritttempo weiter und da sehe ich sie. Das hysterische Geschrei einer Feuerwehrsirene dröhnt in meinen Wagen. Ich fahre an einem hell beleuchteten, vereisten Dorfbrunnen und einem grün schimmernden Volg-Schild vorbei ein Sträßchen hoch. Komme aber nicht sehr weit, weil der Weg von mehreren Feuerwehrfahrzeugen blockiert ist. Ich lasse meine Karre stehen und laufe zu Fuß hinauf. Es riecht nach Rauch, Pferdedung und verbrannter Erde.
Nun bin ich auf einer Anhöhe. Mir bietet sich ein surrealer Anblick. Eben noch von trägem Dunkel umspült, brandet mir jetzt gleißendes Licht entgegen. Scheinwerfer funkeln, Ventilatoren rotieren, weißer Schaum spritzt, glühende Funken wirbeln in den Himmel. Es ist ein abstraktes Geschmiere in Orange, Schwarz und Weiß, in dem die Konturen fließend ineinander überzugehen scheinen. Ich höre kommandierende Feuerwehrmänner, brechende Balken, zischende Schläuche, berstendes Glas, aufgeregt palavernde Anwohner. Das stattliche Bauernhaus im Zentrum des Geschehens qualmt gewaltig. Rote Feuerwehrautos bilden ringsum eine Art speiende Wagenburg und wässern aus allen Rohren.
Grets schlanke Figur löst sich aus dem Farbenbrei und tänzelt auf mich zu. Sie packt mich am Oberarm und lotst mich zu einem etwas abseits stehenden Ambulanzwagen. Darin liegt auf einer Spitaltrage der Tote.
»Wir mussten ihn von dem Haus wegbringen, sonst wäre er verschmort«, erklärt sie mir.
»Was genau ist denn passiert?«, frage ich sie.
»Um 21.30 Uhr brach das Feuer aus, sagen die Leute. Vom Erdgeschoss aus. Jemand rief die Feuerwehr. Die kam schnell und stürmte tollkühn in das brennende Gebäude. Im oberen Stock fanden sie diesen Mann hier und schleppten ihn hinaus. Er war aber bereits tot. Schusswunde im Kopf.«
»Sicher?«
»Ohne Zweifel. Einer der Dorfbewohner ist Veterinär und erkennt, wann es sich bei einer Verletzung um eine Schusswunde handelt und wann nicht. Außerdem lag neben dem Toten eine Armeepistole.«
»Was ist mit diesem Foto von Schneider?«, will ich wissen.
Gret zieht es, sicher verstaut in einem Plastikbeutel, aus ihrer gelben Schutzjacke. Schneider, wie er leibte und lebte. Im A6-Format, ein anzügliches Grinsen im Gesicht. Auf der Rückseite in krakeliger Handschrift seine Telefonnummer.
Ich trete fast in einen Pferdekothaufen, als ich in das Ambulanzfahrzeug klettere. Ein Mann in weißer Krankenhauskleidung sitzt neben dem Toten und blättert gelangweilt in der Mittelland-Zeitung.
»Sind Sie endlich der Kriminaltechniker?«, pflaumt er mich an.
»Nein, ich bin der Weihnachtsmann«, gebe ich zurück. »Ich wünsche, den Toten zu sehen.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, meint der Mann und widmet sich wieder seiner Lektüre. Ich verspüre nur geringe Lust, die schmierige Plane, die den Toten bedeckt, zurückzuschlagen.
»Die Schusswunde im Kopf ist das Einzige, was Rückschlüsse auf Gewalteinwirkung zulässt«, hilft mir Gret.
Ich überwinde mich, greife nach dem Plastik und ziehe es sorgsam zurück. Der Anblick ist zum Glück weniger schlimm als erwartet: Rund um das Einschussloch an der rechten Schläfe wurde die Leiche bereits gesäubert, ihre Augen sind geschlossen. Der Mann ist etwa vierzig und glatt rasiert. Das mittellange Haupthaar ist grau, die Zähne sind ähnlich gelb verfärbt wie die von Häberli. Das Gesicht ist verzerrt, weniger vor Angst und Schmerz, als vielmehr vor Überraschung. Ausgetreten ist die Kugel hinter dem linken Ohr.
»Trug er außer dem Foto sonst noch etwas bei sich?«, frage ich Gret.
»Nein«, antwortet sie und die Zeitung neben uns raschelt.
»Gute Unterhaltung noch«, wünsche ich dem Mann von der Ambulanz, als wir aus dem Wagen steigen.
»Es könnte Selbstmord sein«, sage ich zu Gret.
Sie stimmt mir grundsätzlich zu, wirft aber die Frage auf, warum der Mann dann vorher sein Haus angezündet habe. »Die Waffe, die neben dem Toten gefunden wurde, liegt in meinem Wagen«, ergänzt sie.
Wir drücken uns an dem qualmenden Haus vorbei. Der Dachstock ist halb eingestürzt, einige Trümmer davon schmauchen im Garten, geborstenes Glas glitzert im Scheinwerferlicht. Es handelt sich um ein sehr altes Bauernhaus. Steinerner Treppenaufgang zur Haustür. Zwei Stockwerke über mächtigen Kellerräumen. Sprossenfenster, Blumenkästen, Fensterläden. Ein zerdrückter Mercedes mit Zürcher Kennzeichen unter einer eingestürzten Pergola.
Gret läuft vor mir her, ihre weißblonden Haare blenden mich fast in dem stechenden Licht. Ich sehe Michael im Gespräch mit einigen Anwohnern. Auch unsere Abteilungspfeife Mario strolcht herum, in einer protzigen orangefarbigen Feuerwehrjacke. Bea hingegen versinkt in einem türkisblauen Skianzug und kredenzt den erschöpften Feuerwehrmännern Kaffee aus ihrer roten Thermoskanne.
Wir spazieren weiter zu Grets Dienstwagen, der etwas abseits steht. Außerhalb des Lichtkreises rund um das Haus ist es stockfinster, der Boden ist gefroren. Aus einem nahen Stall meckern Schafe, ein fahler Mond steht am Himmel.
Gret reicht mir schweigend die Pistole. »Eine SIG, neun Millimeter. Das Magazin ist halb leer, es wurde kürzlich aus der Waffe geschossen.«
»Auf den Toten«, mutmaße ich und sehe, dass Michael angelaufen kommt, mit Mario im Schlepptau.
»Hallo, Fredy«, begrüßt Michael mich und fragt Gret: »Hast du die Fingerabdrücke?«
»Klar«, sagt sie und zeigt uns ein paar saubere Abdrücke, die sie dem Toten abgenommen hat. »Jetzt schauen wir mal, ob wir auf der Pistole dieselben finden.« Gret öffnet den Kofferraum, hievt eine blaue Plastikkiste heraus und macht es sich dann im Wagen gemütlich.
»Willst du nicht auf die Spurensicherung warten?«, frage ich sie durch das halb geöffnete Fenster.
»Ich bitte dich, Fred, das gehört doch zur Grundausbildung! Ich kann das selbst.«
»Wenn du meinst.«
»Der Tote heißt Antonio Antoluzzo«, berichtet mir Michael. »Die Dorfbewohner behaupten, sie würden ihn kaum kennen. Er habe das Haus vor zwei Jahren einer Erbengemeinschaft abgekauft und nur selten genutzt.«
»Was reden sie sonst noch?«
»Die Leute sind verdammt misstrauisch. Gesehen oder gehört hat natürlich niemand was. Die Nachbarn in der Siedlung dort drüben haben immerhin die Feuerwehr gerufen.«
»Vorhin habe ich jemanden das Wort ›Schwuchtel‹ tuscheln hören«, mischt sich Mario ungefragt ein.
Michael straft ihn mit einem bösen Blick.
»Tut mir leid, Michael«, windet sich Mario. »Aber ich dachte, es könnte wichtig sein.«
»Schon okay«, meint Michael großmütig. »Ich erschrecke nur immer ein wenig, wenn ich den Begriff so unvermittelt höre. Tatsächlich faselte auch der Veterinär abschätzig etwas von einem ›Freund‹ des Toten, als ich ihn danach fragte, ob Antoluzzo allein lebte.«
»Sind identisch, die Abdrücke«, prahlt Gret aus dem Auto heraus. »Es sieht wirklich alles nach Selbstmord aus.«
»Sollen wir jetzt jubeln, oder was?«, versetze ich ihr einen kleinen Dämpfer.
»Was wollte dieser Antoluzzo denn mit Schneiders Bild?«, äußert sich Mario schon wieder ungefragt.
»Klär mal das Autokennzeichen des zertrümmerten Autos ab«, scheuche ich ihn weg. »Los, los, das kann wichtig sein!«
Er verzieht sich beleidigt und Gret steigt wieder aus dem Wagen. Michael starrt nachdenklich in den Himmel.
»Wir müssen mehr über den Toten wissen«, sage ich. »Gibt's hier einen Gasthof oder so was?«
»Versuchen wir's rauszufinden«, schlägt Michael vor und strebt zurück zu der Menschenansammlung um das inzwischen nur noch leicht qualmende Haus.
Es bedurfte ein paar Worte. Zunächst freundliche, verständnisvolle, danach weise, ehrliche und zuletzt bestimmte, fordernde. Schlussendlich gab der feiste Wirt der Traube nach und machte sein eben erst geschlossenes Lokal außerplanmäßig wieder auf. Darin sitzen wir jetzt dicht gedrängt im Rauch der Pfeifen, Stumpen und Zigaretten. Die paar mürrisch dreinblickenden Dorfbewohner, die uns nach langem, eindringlichem Zureden hierher begleitet haben, haben sich hinter dem Dorfveterinär zusammengerottet. Der zumindest scheint uns zu unterstützen und gab mir auf dem Weg zur Traube den weisen Ratschlag, als Erstes eine Runde Obstschnaps zu offerieren. Das mache ich denn auch und tatsächlich, die Stimmung in dem niedrigen, mit Tannenholz verkleideten Raum hellt sich sofort etwas auf. Die Mutigeren beglotzen bereits lüstern unsere Gret, während die anderen immerhin schon tuscheln. Von mir aus können sie zwanzig Flaschen des regionalen Birnenschnapses saufen und Gret nach ihrer Telefonnummer fragen, solange sich nur ihre Zungen lockern. Meine eigene Zunge allerdings zerspringt fast, als ich, vom Veterinär ermuntert, das erste Glas des Fusels in mich hineinschütte, ex und hopp, wie es in der Dorftradition zu liegen scheint. Der Veterinär heißt im Übrigen Samuel Heer und könnte einem alten Schweizer Schwarz-Weiß-Film entsprungen sein: müde, aber gütige braune Augen und ein hellgraues Ziegenbärtchen, Hände wie ein Schlosser, die Körperhaltung verspannt wie ein störrischer Esel.
»Also, Leute«, schwinge ich mich zu einer kleinen Ansprache auf. »Wasterkingen ist ein friedliches Dorf, das weiß ich wohl. Man kennt sich und man grüßt sich und wer Mist baut, darf nicht damit rechnen, damit durchzukommen. Wir sind ja nicht in der Stadt, oder?«
Der eine oder andere brummelt Laute der Zustimmung, Heer schiebt mir wortlos ein weiteres Glas Birnenschnaps zu.
»Dieser Antoluzzo ist möglicherweise irgendwie in den Mord an dem Fernsehmoderator Schneider verwickelt«, fahre ich fort. »Ihr wollt ja gewiss nicht, dass morgen die gesamte Schweizer Presse in euer Dorf einfällt, oder?«
Ich hole tief Luft und stürze den zweiten Schnaps hinunter. Er raubt mir den Atem und verätzt mir die Luftröhre und die Magenwände. Aber niemand soll sagen, dass ich in diesem lausigen Provinznest nicht mein Bestes gegeben hätte.
»Großartig, dieser Obstler«, krächze ich und lamentiere weiter: »Falsche Bescheidenheit oder Vorsicht ist fehl am Platz. Erzählt uns, was ihr über Antoluzzo wisst, und wir rauschen ab und ihr habt wieder eure Ruhe. Ihr Wasterkinger lasst euch ja sicher nicht den Mund verbieten, wenn ich euch richtig einschätze.«
Ich ernte zustimmendes Gemurmel und ein hagerer Typ in einem speckigen Jeansoverall will wissen, ob es wahr sei, dass Antoluzzo Selbstmord begangen habe. Keine Ahnung, woher er die Information hat. Aber ich rücke lieber mit allem heraus, was wir haben, als nochmals einen dieser Teufelsschnäpse zu trinken.
»Selbstmord ist derzeit am wahrscheinlichsten, da liegt ihr richtig«, bestätige ich.
»Man hört, Antoluzzo habe erst vor Kurzem im Lotto gewonnen«, poltert ein dicker Mann mit aufgedunsenem Gesicht und einer Pfeife im Mund. »Da bringt man sich doch nicht um!«
»Und warum sollte er vorher das Haus anzünden, ist doch vollkommen idiotisch«, fällt der Hagere ein.
Weitere Stimmen melden sich: »Über drei Millionen waren es angeblich.«
»Kein Wunder hatte er viel Besuch in letzter Zeit!«
»Seltsames Gesindel lungerte hier herum.«
»Dieses Drama überrascht mich gar nicht, der Mann war doch nicht ganz dicht.«
»Grüßte niemanden und veranstaltete Schwulenorgien.«
»Keinen Franken ließ er im Dorf zurück, lag wohl unter seiner Würde.«
»Habe nie begriffen, warum er diesen Hof gekauft hat.«
Ich werde nächste Woche einen Vorrat an Birnenschnaps in unserem Zürcher Verhörraum einlagern, nehme ich mir vor. Das Zeug wirkt wie ein Zaubertrank. Aus eben noch misstrauischen Schweigern sprudelt der Klatsch heraus wie Quellwasser aus einem löchrigen Berg. Antoluzzo war also schwul und fühlte sich in Wasterkingen nur sehr bedingt zu Hause, was ich ihm bestens nachfühlen kann. Was aber war das für eine Geschichte mit dem Lottogewinn?
»Er hat im Zahlenlotto gewonnen?«, hake ich nach.
»Todsicher, ich hab's auch gehört«, meint eine der wenigen Frauen im Raum, eine dürre Person mit feuerrotem Wuschelhaar in einem selbst gestrickten, bunt gescheckten Wollpullover. »Anschließend kaufte er in Deutschland drüben seinen Mercedes.«
»Sein Liebhaber plauderte das jedenfalls großkotzig herum«, stimmt ihr der Hagere im speckigen Overall zu. »War gekleidet wie ein Transvestit, aber soweit zu ertragen, die Tunte. Weit gesprächiger jedenfalls als Antoluzzo.«
»Trank Antoluzzos Liebhaber Birnenschnaps?«, wage ich einen Einwurf.
»Er hat bei mir im Volg zwei Flaschen davon gekauft«, prahlt der feiste Pfeifenraucher aus den hinteren Reihen. »Ehrlich, erst letzte Woche.«
»Wisst ihr, wie die Tunte heißt?«, frage ich weiter.
»Hollenstein«, schallt es im Chor zurück.
»Arbeitet beim Fernsehen«, fügt die Wuschelhaarige hinzu.
»Beim Fernsehen?«
Michael, Gret und ich schauen uns vielsagend an.
»René mit Vornamen«, ergänzt jemand.
Michael erhebt sich sachte und gibt mir zu verstehen, dass er nach draußen geht, um zu telefonieren.
»Wie war das mit diesen Schwulenpartys?«, frage ich, nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen ist.
Einen kurzen Moment wird es ruhiger. Veterinär Heer zupft nervös an seinem Ziegenbart herum und weiter hinten im Raum zischt die Wuschelhaarige ihren Mann an.
»Los, Leute, es hört ja niemand mit«, ermuntere ich das Publikum, aber niemand getraut sich so richtig.
»Es kam vor, dass an einem Freitag- oder Samstagabend plötzlich viele hübsch zurechtgemachte junge Männer im Dorf aufkreuzten«, äußert sich Veterinär Heer schließlich vorsichtig. »Aus Antoluzzos Keller dröhnte dann bis in die frühen Morgenstunden laute Musik.«
»Heute auch?«
»Wir bekamen nicht mal mit, dass Antoluzzo im Dorf war«, nuschelt der Dicke mit der Pfeife.
»Und dieser René Hollenstein? War der heute zufällig hier?«, will ich wissen.
Allgemeines Kopfschütteln. Geflüster. Vierzehn Individuen zähle ich im Raum und doch wirken sie wie eine homogene Masse.
»Nein, Hollenstein sahen wir zuletzt am vergangenen Sonntag«, sagt Heer schließlich.
Michael kommt zurück und deutet mir auf der Türschwelle an, dass er mich unter vier Augen sprechen will. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Gret wirklich allein in diesem Spunten zurücklassen kann. Aber ich rapple mich dann doch hoch und torkle zu Michael. Der Schnaps zeigt spürbar seine Wirkung.
»Entschuldigt einen Moment, man schreit nach mir«, speise ich die Masse ab. »Ich komme gleich zurück. Nehmt ruhig noch eine Runde Klaren auf meine Kosten. Wäre ja eine Sünde, wenn die Flasche nicht leer würde an einem solchen Tag.«
Anerkennende Laute ertönen, ein paar Leute klatschen sogar. Wenn ich so weitermache, wählen sie mich nächstes Jahr noch zum Gemeindepräsidenten.
»Was gibt's?«, frage ich Michael, als wir vor der Tür stehen.
»Ich habe diesen René Hollenstein erreicht«, berichtet er. »Er wohnt in Zürich, im Kreis 4, nahe der Bäckeranlage, will aber sofort herkommen.«
»Sehr gut.«
»Ein Fernsehmann, da klingelt es natürlich laut in meinen Ohren.«
»Und wie«, stimme ich ihm zu.
Michael stapft rhythmisch auf den schneebedeckten Boden und lässt seine Arme kreisen, es zieht deutlich wieder an. Mich scheint der Birnenschnaps allerdings gegen die arktischen Temperaturen immun gemacht zu haben.
»Er kommt direkt zu Antoluzzos abgebranntem Haus«, sagt Michael. »Ich gehe dann mal dorthin.«
»Ich schließe mich an.«
»Geh zurück zu Gret«, rät er mir lächelnd. »Denk daran, dass hier in Wasterkingen die letzte Hexe im Kanton Zürich hingerichtet wurde.«
»Ist das so?«
»Das ist so, Fredy. 1701 war das. Und auch der legendäre Mord an Paula Roth, der als ›Hexe vom Albulatal‹ bezeichneten Bellaluna-Wirtin, wurde 1988 hier ausgebrütet. Ich glaube sogar, in der Traube. Ich ruf dich an, wenn Hollenstein da ist.«
Geschlagen wanke ich zurück. Michael ist ein wandelndes Lexikon der Kriminalgeschichte. Ich frage mich wieder einmal, wozu er überhaupt einen Vorgesetzten braucht. Zumal einen, der heute deutlich mehr getrunken hat, als ihm guttut. Vor meinem benebelten geistigen Auge erscheint bereits der Pöbel, der Gret auf den Scheiterhaufen zerrt.
Als ich zurück in die Traube poltere, erlebe ich jedoch eine Überraschung: Gret amüsiert sich königlich und prostet mit geröteten Wangen gerade dem alten Veterinär zu, der ungeniert ihre spitzen Brüste mustert. Als sie mich sieht, kippt sie das Glas, ohne eine Miene zu verziehen, in einem Zug hinunter. Heftiger Applaus belohnt diese Heldentat. Vielleicht sollte ich mich auf den Posten des Kommandanten zurückziehen und die Feldarbeit jüngeren Kräften überlassen.
Aber vorher genehmige ich mir noch ein Glas Birnenschnaps.