Zum Siebzigsten
WAHRE LIEBE
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Ich hoff es geht dir gut
Lange nicht von dir gehört
Frag mich was du so treibst
Und warum du nicht mal schreibst
War schon lange her
Als unsere Wege sich trennten
Wir haben geglaubt
Es wird nie passiern
Und dann ist es doch geschehn
Und wir segelten hinaus
Unser Schiff hieß Wahre Liebe
Übers weite Meer
Der wilden Leidenschaft
Es kamen schwere Wetter
Die Wahre Liebe zerbrach
Die Strömung trieb mich ans Ufer
Und seitdem lieg ich nachts oft wach
Unsere Zeit verging im Fluge
Es war wie ein wilder Zauber
Wir durchwachten die Nächte
Und verträumten die Tage
Gestern noch siebter Himmel
Heute hängen die Wolken schwer
Und ich steh am Hafen
Und seh den Schiffen hinterher
Und wir segelten hinaus …
Hab vergessen
Wofür wir uns am Ende hassten
Doch wie wir uns liebten
Das vergess ich nie
Verlorene Träume
Manchmal hätt ich sie gern zurück
Komm mir doch entgegen
Nur ein kleines Stück
Und wir segelten hinaus …
N ach unserem letzten Konzert auf Helgoland bekam ich eine interessante Mail einer jungen Frau. Ich solle doch mal auf ihre Homepage schauen, dort würden ihre Konzerteindrücke nachzulesen sein. Nun, ihre Schilderungen schmeichelten mir, sie waren von Sympathie und Begeisterung getragen, obwohl es da etwas gab, worüber sie doch sehr verwundert war. Wie zu lesen war, schienen sich unverhältnismäßig viele «ältere Leute» im Publikum zu befinden, denen sie sich offenbar nicht zugehörig fühlte. Ich verstand nicht, was daran so ungewöhnlich sein sollte, ich gehörte ja mittlerweile selbst zu dieser Generation von «älteren Leuten», denen Musik immer noch etwas bedeutet.
Und wenn man, wie in meinem Falle, von der Musik durchs ganze Leben getragen wurde, dann hat man ihr auch einiges zu verdanken. Erlebnisse, um die mich heute viele beneiden, denn als das Wort Speichermedien noch gar nicht erfunden war, konnten Schallplattenumsätze für einen kreativen Musiker mit etwas Glück tatsächlich Lebensgrundlage sein. Davon kann man heute nur noch träumen, und darum bin ich meinem Schicksal dankbar, in einer Ära unterwegs gewesen sein zu dürfen, die mich vom Schwarz-Weiß-Fernsehen der 60er Jahre bis ins 21. Jahrhundert mit seinen Computern im Taschenformat führte.
Insofern ist meine Generation keine x-beliebige, denn sie hatte das große Glück, beim Urknall der Popmusik dabei gewesen zu sein; diese «älteren Leute» waren es, die die sexuelle Revolution auslösten, und sie waren es auch, die noch wussten, was es bedeutet, gegen Missstände aufzubegehren. All das gehörte zum Soundtrack ihrer Jugend. Es wurde «der Muff von tausend Jahren unter den Talaren» angeprangert und «Make love, not war» gefordert. Was davon übrig blieb, mag auf einem anderen Blatt stehen, für uns waren es Träume, die es wert waren, geträumt zu werden.
Wo bisher so etwas wie ein sittsamer Foxtrott oder Walzer den Ton angab, kam nun ein knallharter Beat mit einem «shot of rhythm and blues» daher. Mit ihm kam frischer Wind auf, der sich rasch zum Sturm entwickelte. In den Texten ging es nicht länger nur ums Herzeleid, jetzt sang man sich auch den Frust über die Schattenseiten des Lebens von der Seele. In der DDR kursierten in den Texten geheime Botschaften, die sich hinter Metaphern verbargen, deren Bedeutung nur Insidern bekannt war – es war eine Welt im Aufbruch. Eine ganze Generation fühlte sich in ihrem «musikalischen Zuhause» besser verstanden als von ihren Eltern. Bob Dylan verkündete «The times they are a-changing», und später legte Bruce Springsteen mit der Erkenntnis nach: «We learned more from a 3-minute record than we ever learned in school.»
Die 50er Jahre brachten erste Jugendidole hervor, Elvis Presley war der König, stellte alles bisher Dagewesene in den Schatten und war doch nur einer von vielen. Für ihre Fans waren sie Vorbilder, weil sie mit den Regeln des Establishments brachen. Das machte sie für uns zu Helden und ließ unsere Eltern entsetzt und fassungslos zurück. Während Deutschlands Schlagerkönig Freddy Quinn sein wahres Gesicht zeigte und uns in seinem Lied «Wir» als ungewaschene, langhaarige Gammler beschimpfte, sang seine Kollegin Manuela «Schuld war nur der Bossa Nova». Es war, als wäre der Duft der großen weiten Welt endlich auch bei uns angekommen. Für all das, was heute in jedem Oldie-Radio rauf und runter läuft, gab es in den 60ern illegale Piratensender, die außerhalb von Hoheitsgebieten ankerten und zu Gehör brachten, was das bürgerliche Radio seinen Hörern verweigerte.
Auch Manfred Weissleder, der Erfinder des Star-Clubs, überlegte damals, ein altes Feuerschiff zu kaufen, um es dem britischen Radio Caroline oder der holländischen Variante Radio Veronica gleichzutun. Als er jedoch feststellen musste, dass die deutschen Hoheitsgebiete bis weit über Helgoland hinausreichten, ließ er ab von seinem Plan.
Seitdem hat sich viel verändert, und ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass es je wieder eine Musikepoche geben wird, die so viel nie Gehörtes hervorzaubern könnte.
Und jetzt sollte der Typ, den Kuno Dreysse immer gern den Rattles-Schreier genannt hatte, tatsächlich 70 werden. Schon bei der Marke 65, als viele vertraute Gesichter aus den Plattenfirmen und Studios sang- und klanglos von der Bildfläche verschwanden und zu Scharen in Rente geschickt wurden, war ich zusammengezuckt. Egal, dachte ich, du bist weit gekommen, spielt jetzt auch keine Rolle mehr, dir kann keiner mehr was, bist ’ne echte Nummer geworden, und der Lebensmotor lief, abgesehen von einem folgenlos gebliebenen Vorderwandinfarkt und einem leichten Schlaganfall, mühelos weiter. Die Jahrzehnte meines Lebens flossen dahin, ohne dass es jemals Zeit für Langeweile gegeben hätte, und obwohl der Gedanke an die eigene Endlichkeit hin und wieder Trübsinn in mir aufflackern ließ, hoffte ich, es würde nur eine vorübergehende Erscheinung sein. Die näher kommenden Einschläge waren nicht zu ignorieren: John Lennon, George Harrison, Freddy Mercury, David Bowie, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Otis Redding, Marvin Gaye, Michael Jackson, Whitney Houston, George Michael …
Selbst hierzulande und sogar unter Jüngeren kannte der Sensenmann keine Gnade: Roger Willemsen, Jörg Fauser, Conny Plank, Wolfgang Welt, Peter Paul Zahl, Harry Rowohlt, Roger Cicero, Jan Fedder, Frank Dostal, Manne Praeker, Gottfried Böttger, Joy Fleming … Es kam mir vor, als sollte der ganze Wald abgeholzt werden.
Alter Bettnässer, dachte ich mir, wie hast du das bloß hingekriegt, musst dir keinerlei Sorgen mehr um dein Auskommen machen, deine freiwillig gezahlten Mindestbeiträge in die Rentenkasse hättest du dir auch sparen können – am Ende wurden mir monatlich 250 Euro überwiesen. Hast dir sogar ein Haus kaufen können, was meinen alten Freund Jörg Gülden bei seinem ersten Besuch sichtlich angetan mit dem Kopf nicken ließ: «Alles ersungen, alles ersungen.»
Nun, mit dem Singen allein war’s nicht getan, ich besaß einen Musikverlag, baute meine Schwimmhalle zum Tonstudio um und betrieb ein eigenes Plattenlabel. Im Laufe der Jahre hatte man kapiert, wie der Hase läuft, und aus dem Sänger und Musiker wurde ein Geschäftsmann in eigener Sache.
Doch all das konnte nicht darüber hinwegtrösten, dass mich des Nachts oft die übelsten Alpträume plagten, in denen ich immer wieder von bösen Mächten verfolgt wurde, in heller Panik um mein Leben rannte, bis mir in meiner Ausweglosigkeit nur der rettende Sprung ins Leere blieb und ich schweißgebadet aufwachte. Dass es bei jemandem, mit dem es das Leben immer gut gemeint hatte, zu Altersdepressionen kommen könnte, wollte mir nicht in den Sinn kommen; ich vernachlässigte meine Meditations- und Yogaroutine und fing an, mir hin und wieder, und dann immer öfter, eins auf die Lampe zu gießen, weil ich glaubte, das würde mir helfen, die bösen Geister zu vertreiben. Und selbst als mein Banker sich alle Mühe gab, mir zu versichern, dass ich alle Gründe hätte, sorgenfrei in die Zukunft zu blicken, fragte ich mich argwöhnisch, ob da nicht trotzdem irgendwo ein Haken sei. Als ich dann 2008 vor der Glotze hockte und die Berichte über die weltweite Bankenkrise sah, dachte ich: Jetzt haben sie dich.
Das Holz, aus dem ich geschnitzt bin, wusste mit dem Erreichten wohl nicht so recht umzugehen, ich war so etwas wie ein Emporkömmling, und da, wo ich herkam, war Schmalhans Küchenmeister.
Als Rüdiger, der Ex meiner Frau Heidi, der uns als Freund erhalten geblieben war, sich wegen einer harmlosen Operation ins Krankenhaus begeben hatte, besuchten wir ihn, und er meinte, ich solle doch mal ins Nebenzimmer schauen, dort läge einer, der behauptete, mich noch aus unserer gemeinsamen Kindheit auf St. Pauli zu kennen. Okay – ich war gespannt, was mich dort erwarten würde, und auch ein wenig skeptisch, denn seit damals war ein gutes halbes Jahrhundert vergangen, und es waren mir schon viele über den Weg gelaufen, die mir mit «Weißt du noch?» oder «Ich kenn da einen, der kannte mal einen» kamen und dann Geschichten erzählten, bei denen ich mich nur ratlos am Hinterkopf kratzen konnte. Mal waren wir zusammen bei der Bundeswehr gewesen oder hatten mal ein Bier miteinander getrunken, «mein Kumpel hat mal ’ne Gitarre von dir gekauft» oder «meine Schwester war mal ’ne Freundin vor dir».
Als ich dann nebenan ins Krankenzimmer trat, lag da einer, zu dessen Gesicht mir absolut nichts einfallen wollte; wie konnte ich mir sicher sein, dass wir uns jemals begegnet waren? Doch als er anfing, alte Storys zu erzählen und Namen zu nennen, kam Licht ins Dunkel längst vergessen geglaubter Erinnerungen. Auch wenn er sich stark verändert hatte, kam ich nicht umhin, in ihm einem alten Bekannten zu erkennen. «Mensch, Achim», sagte er, «schön, dich wiederzusehen. Du bist ja weggegangen, ich weiß nicht, ob es dich interessiert, aber die meisten aus unserer alten Clique sind ja jetzt hier.» Dabei vermied er es, das Wort Gefängnis auszusprechen, stattdessen hielt er sich die gespreizten Finger vor die Augen, als wären es Gitterstäbe.
Ich mochte gar nicht daran denken, was aus mir hätte werden können, wäre ich nicht weggegangen, und es erschien mir wieder einmal merkwürdig surreal, daran erinnert zu werden, von wo ich einst aufgebrochen war. Dass ich dabei den Kontakt zu vielen meiner alten Kumpels verloren hatte, schien mir das bei weitem kleinere Übel.
Und jedes Mal, wenn ich bei meinen «Solo mit euch»-Konzerten allabendlich als Storyteller meine Geschichten zum Besten gab, kam es mir seltsam unwirklich vor, dass ich das, von dem ich da erzählte, tatsächlich erlebt hatte. Wie sagte mir Falk, mein sehr geschätzter Steuerberater, über viele seiner alten Freunde aus dem Studium: «Achim, mach weiter, solange du kannst, ich kenne so viele Topmanager, denen nach ihrer Pensionierung die Decke auf den Kopf fiel, weil sie sich ihres Lebensinhalts beraubt fühlten und nichts mehr mit sich anzufangen wussten.»