Der Mutterbaum

Die ersten Bären, von denen ich jemals hörte, waren Bären, die nicht aus Gummi waren, aber Gummibärchen hießen. Danach bekam ich von meiner Oma eine süße Teddybärenmutter, mit der ich schmusen, in die ich weinen und die ich mit ins Bett nehmen konnte. Oma nahm allerdings ihre Glasaugen heraus, um zu vermeiden, dass ich sie rauskratze und runterschlucke. Wer möchte denn schon so ein Auge im Bauch haben, das von innen alles sieht? Den ersten echten Bären sah ich auf der Kirmes. Er saß traurig an einer rostigen Kette und blickte um sich. Es gibt, wie ich von Fräulein Langhout aus Java in der Schule lernte, alle möglichen Bären. Den schwarzen und den braunen Bären, den Lippenbären, den Brillenbären und den Panda und dann natürlich noch die menschliche Sorte: den weitverbreiteten Brummbären. Man sieht ihn im Fernsehen und begegnet ihm, falls man mal hinkommt, in Altersheimen und Regierungsgebäuden. Alle echten Bären sind eigentlich Raubtiere, aber sie sehen nicht so aus. Vor allem nicht, wenn sie noch klein sind. Dann möchte man sie mit nach Hause nehmen und knuddeln. Bären sind, wie der Fachausdruck lautet, Sohlengänger. Sie können eine Zeit lang schrecklich schnell laufen, vor allem wenn sie etwas Leckerem hinterherrennen oder -schwimmen.

Meine erste Geschichte schrieb ich für das Land van Ooit, ein Märchenland, wo Kinder die Chefs waren, und das für immer verschwunden ist, wonach es ein wirkliches Märchen wurde. Die Erzählung handelte von Kindern in einem abscheulichen Waisenhaus mit einer noch fürchterlicheren Direktorin und einem großen Bären aus Sternen, der alle Probleme der Kinder mit einem fantastischen Zauberschlag löste. Danach erfand ich eine Bären-Show fürs Fernsehen, um die Brummbären da aufzulockern. Kurz danach schrieb ich noch ein Liederprogramm für den World Nature Fund mit dem Titel: »In allen Liedern vom Bären geht es um Honig«. Während ich diese Vorstellung konzipierte, entdeckte ich, dass Bären überhaupt keinen Honig essen, und wenn, dann nur aus Versehen. Zu spät. Die CD lag schon in den Läden. Jetzt muss ich immer wieder erklären, dass ich mich geirrt hatte.

Ich brachte auch noch eine Zeitschrift raus, aber die ging pleite. Auch in den Geschichten vom Entenwaisenkind Alfred Jodocus Kwak kommt ein wichtiger Bär vor. Nämlich Professor Paljas von Pinguïn, ein Bär, der fast genauso viel weiß wie Google, wenn nicht mehr.

Ich sang einmal ein Bärenlied mit Worten von meinem alten Freund Theo Olthuis. Es ist ein trauriges Lied, das »Küsschen« heißt und von einem Schmusebären handelt, der verschwand: »Es ist etwas passiert: Meine Mutter ist verschwunden. Eine fremde Tante schmust jetzt mit Vater rum, sie macht das Essen und bringt mich abends singend ins Bett, ich muss ihr dann ein Küsschen geben. Bär, wo bist du? Bär, komm her, leg die Pfötchen fest um mich, brumm was Liebes! Gleich muss ich ins Bett und, wenn das Licht ausgeht, ein Küsschen geben.

Ich kipple mit dem Stuhl, es klirrt in der Küche. Wenn ich dürfte, dann lief ich ganz weit weg. Die Uhr schiebt den großen Zeiger langsam auf halb acht, meine Hände kleben. Bär, wo bist du? Bär, komm her, leg die Pfötchen fest um mich, brumm was Liebes! Gleich muss ich ins Bett und, wenn das Licht ausgeht, ein Küsschen geben …«

Und ja, dann gibt es noch einen Eisbären. Ich schrieb zusammen mit der Schriftstellerin Eva Schuurman das Kinderbuch Benjamin der Bär, über eine Eisbärenfamilie, die lange und glücklich auf dem Eis lebte.

»Ein Himbäreis? Hmmm lecker!« – »Ein Bärenmädchen!« – »Hey, warte, nicht weggehen!«, rief er im Traum. Als der Frühling kam und Benjamin IJsbrand Bär aufwachte, ging er kurz danach zum Wasser, um vorsichtig, ganz vorsichtig Fische zu fangen. Und da, da … am Ufer, unter hängenden Zweigen, sah er – und das war seltsam – das gleiche allerliebste braune Bärenmädchen aus seinen Träumen, in echt. Er wusste nicht, was er tun, was er sagen sollte, wollte weggehen, kam wieder zurück, wollte wieder weggehen, kam wieder zurück und rief: »Hallo! Warte! Nicht erschrecken. Ich bin b-b-bin … ich b-b-bin. Ich b-b-b-Benjamin. B… B… Benjamin. Und wie heißt du?« – »Anna.« – »Wohnst du hier?« – »Komisch. Ich dachte, dass dies der Wald ohne Bären wäre.« – »Das stimmt auch.« – »Aber du bist hier.« – »Du bist hier auch.« – »Ich bin gekommen, um hier mit meiner Mutter zu leben.« – »Ist sie auch so weiß?« – »Ja. Und deine?« – »Ich wohne hier mit meinem Vater.« – »Ist der weiß?« – »Nein, braun. Sonst wäre er doch nicht mein Vater.« – »Oh. Warum wohnt ihr denn nicht auf dem Eis, wenn ich fragen darf?« – »Das ist eine lange Geschichte.« – »Und?« – »Mein Vater fand, dass es in dem Wald durch die braunen Bären mit all den weißen Bären zu voll wurde«, sagte Anna. Sie imitierte sehr witzig ihren Vater: »Total verrückt. Das werd ich noch von all den Vorschriften. Total verrückt.«

Stell dir vor, dass du das bist, der weiße Bär auf der Eisscholle. Mit deinen Pfoten vor dem Kopf. Stell dir vor, dass du das bist, das Kalb in der Masthalle. Dass du das bist, der schreit. Stell dir vor, dass du das bist, der da liegt, unter den Trümmern, mit der Granate im Bauch. Stell dir vor, dass du zu den Blumen in der Vase summst und plötzlich auf dem Fenster in deinem Blut klebst. Stell dir vor, dass du das bist, der Baum am Weg mit der Kettensäge im Rücken.

 

Die Elfen nennen sie den Muttervater des Waldes. »Diese Buche ist«, sagt Lieke, unsere Waldführerin für heute, »einheimisch, weil die Äste männliche und weibliche Blüten tragen. So eine Mannfrau wie diese kann beinahe vierhundert Jahre alt werden.« Stell dir vor, in seiner Jugend führte Napoleon Bonaparte noch Krieg gegen die Russen und den Rest von Europa. Da lebten noch Götter wie Johann Sebastian Bach, Johann Wolfgang von Goethe, Georg Friedrich Händel, Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven, Wolfgang Amadeus Mozart, Jean-Jacques Rousseau, Voltaire.

»Wenn man 150 Jahre nebeneinandersteht«, zitiert Lieke die Worte der Schriftstellerin Bibi Dumon Tak, »entwickelt sich eine Beziehung. Es gibt nur wenig Bäume, die nur männlich oder nur weiblich sind. Viele Bäume sind beides. Eine Buche zum Beispiel – und dieser zig Meter hohe Riese.«

Dort, wo unsere weiße Villa auf dem Landgut de Paltz steht, stand früher neben diesem Koloss noch eine Buche. Diese musste gefällt werden, um Platz zu machen für die Villa, die beiden Bäume waren Freunde fürs Leben. Ihre Wurzeln waren verflochten wie Geliebte auf einer Matratze. Auch das hatten die sogenannten Elfen Lieke erzählt.

Es war vor ungefähr hundertsechzig Jahren zu Pfingsten, sie kamen mit Zugpferden, Wagen und Tauen, Fackeln, Äxten usw. Das war in dem Jahr, in dem Multatuli sein Buch Max Havelaar veröffentlichte und in dem der russische Schriftsteller Tschechow und sein Kollege, der Niederländer Frederik van Eeden, geboren wurden. Innerhalb eines Tages lag der Baum auf dem Boden. Der Stamm abtransportbereit, gebrauchsfertig für die Schreinerei, um daraus Treppenstufen oder Schränke zu sägen. Die dickeren Äste ordentlich zersägt und als Holzscheite für den Kamin gestapelt. Die kleineren hatten sie in einem hoch auflodernden Freudenfeuer verbrannt. Einer der Holzhacker hatte noch gefragt, nachdem er versehentlich mit einer messerscharfen Axt seinen Zeigefinger abgehackt hatte: »Kennen Bäume eigentlich Phantomschmerz?« Ein anderer: »Was ist das?« Das Schmerzgefühl in einem Arm, Bein oder einer Nase nach einer Amputation. Der Älteste von ihnen brummte: »Bäume fühlen das anders als wir.« – »Nicht weniger oder schlimmer?«, hatte ein anderer gefragt. Keine Ahnung.

Eine verkleidete Elfe, die so tat, als wäre sie eine junge Frau, war vom Rauch der verbrannten Zweige angezogen worden und hatte ungefragt den Männern erzählt: »Für unsere Ohren nicht zu hören, reden Bäume mit ihren Wurzeln miteinander. Ihre Stimmen reichen weit. Dafür gebrauchen sie, wie Menschen Smartphones, unterirdische Schimmelsporen.« Sie hatte traurig dreingeschaut, als sie sagte: »Wer warnt diesen Baum, wenn ein Feind kommt? In wessen Schatten kann er sich stellen, um keinen Sonnenbrand zu kriegen, wenn kein Baum mehr neben ihm steht? Und wer bietet ihm Schutz vor dem Wind?« Die Männer hatten sich angeschaut und verächtlich gelacht. »Muss die jetzt auch weg?«, hatte die Elfe gefragt und dabei auf die andere Buche gezeigt. »Nein, die darf stehen bleiben. Das neue Herrenhaus kommt hierhin, hier bei diesem Baumstumpf.« Die Elfe kniete sich nieder, legte ihre Hand auf den Boden und sang ein trauriges Elfenlied, und niemand konnte sie hören.

Das ist im Grunde das Problem. Wenn man nicht an Elfen glaubt, kann man sie nicht sehen, geschweige denn hören.

Auch Pflanzen können, lese ich in einem Buch des niederländischen Philosophen Jozef Keulartz, nicht nur unterirdisch durch die Wurzeln miteinander kommunizieren, sondern auch überirdisch über die Luft, wobei sie Duftbotschaften versenden, mit denen sie sich vor Parasiten warnen können. Pflanzen sind auch in der Lage, mit Tieren zu kommunizieren. Die Kommunikation ist lebenswichtig für ihre Selbstverteidigung. Werden Pflanzen von Parasiten befallen, dann produzieren sie nicht nur Warnstoffe, sondern auch Abwehrstoffe, mit denen sie den Befall abwehren. Sie versprühen manchmal auch Lockstoffe, mit denen sie Fressfeinde, sozusagen die Krokodile der Parasiten, anziehen nach dem Motto: Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde. Pflanzen wenden genau wie Tiere allerlei Formen von Mimikry an, um sich gegen Feinde zu verteidigen. (Bei Mimikry haben ein Tier oder eine Pflanze Ähnlichkeit mit einem anderen Tier oder einer anderen Pflanze, viel mehr als durch Zufall, Lebensform und gemeinsame Abstammung erwartet werden kann. Eine von beiden Gattungen macht die andere Gattung nach. Das Wort »Mimikry« bedeutet Nachahmung oder Camouflage.) Ein wunderbares Beispiel dafür ist der Vizekönigsfalter, der die Flügel des Monarchfalters – so heißt das kleine Wunder – in Form und Farbmuster imitiert. Monarchfalter sind wegen ihres giftigen Milchsafts, den sie als Larven konsumieren, ungenießbar. Dadurch, dass der bekömmliche Vizekönigsfalter sich nicht vom Monarchfalter unterscheidet, rühren Insektenfresser diese Schmetterlingsart nicht an. Man könnte von einem Lookalike-Verteidigungssystem sprechen.

In den Fünfzigerjahren trugen die meisten Mütter in den Niederlanden eine Julianadauerwelle, zur Abschreckung falscher Bernhards. Unsere alte Königin Juliana war ein Schatz. Ihr Mann Prinz Bernhard ein enthusiastischer Bonvivant. Eine andere häufig vorkommende Form von Mimikry ist die Vogelkackemimikry. Die Larven vieler Schmetterlingsarten ähneln ekligen Vogelexkrementen. Einige Spinnenarten machen von dieser Art Mimikry Gebrauch. Ihre ärgsten Feinde sind Vögel, und die sind nicht scharf auf Vogelkacke. Warum muss ich jetzt an Karneval denken?

 

»Wir sind jetzt hundertsechzig Jahre weiter«, sagt Lieke. »Manchmal, nachts, wenn es ganz, ganz still ist, kann man den Baum, der hier einmal stand, in Baumsprache trauern hören: Ich, ich, ich vermisse dich.« – »Wieso wissen Sie das?«, frage ich. »Das weiß ich«, antwortete unsere Waldführerin, »von dem alten Mann, der gekommen ist, um hier zu wohnen. Das kleine Schild da hat er hingesetzt. »UM DIE BUCHE MÄHEN VERBOTEN! WEGEN ERWARTETER BUCHENBABYS.« Wissen Sie, die Alten können nicht ohne die Kinder, die Kinder nicht ohne die Alten. Leben heißt, nicht ohneeinander zu können.«

 

Ich saß im bequemen alten Stuhl meiner Mutter vor dem Fenster und vermisste sie ein bisschen. Ich blickte zu einer hohen Eiche im Garten und dachte: Bist du vielleicht eine Mutter? Der Baum raschelte: Ich bin wie die Buche beides, auch ich habe männliche und weibliche Früchte. So steht es geschrieben in dem großen Buch der Wunder. »Es war einmal«, flüsterte der Baum geheimnisvoll, »es war einmal ein ›Etwas‹, das manche Menschen Gott nennen.« Gott dachte eines Tages: »Weißt du was? Ich werde was machen.« Ich fragte: »Eine Zeichnung?« – »Nein.« – »Ein Gedicht?« – »Nein.« – »Krach?« – »Nein.« Der Baum sagte: »Eine runde Welt. Eine ganze Welt mit allem drauf und dran, in einer Handvoll Tagen. Am sechsten Tag sagte Etwas: ›Lasst uns Menschen machen, die uns gleichen.‹« – »Uns?« – »Ja, uns.«

»Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib.« Ich wusste nicht mehr, was ich davon halten sollte. »Sagen Sie jetzt, dass Gott, Etwas, ein Mann und eine Frau ist?« – »Nein«, sagte die Eiche, »Gott hat genau wie wir männliche und weibliche Früchte.« In meinem Kopf begann es, Flocken der Erkenntnis zu schneien.

Meine Frau kam herein. »Hast du was? Du blickst so, wie soll ich sagen … seltsam. Woran denkst du?« – »Alles in Ordnung.« – »Gehst du mit mir spazieren? Es ist herrliches, klares Wetter. Zwei Grad unter Null, windstill, wie in Finnland.« Ich ziehe meine Gummistiefel an und stapfe in den knirschenden Schnee. Wir gehen eine Zeit lang. Ich höre in der Ferne den Zug, einen Bussard, das Geräusch auffliegender Reiher, sehe eine andere Fußspur im Schnee, die kurz darauf einfach aufhört. Hier ist jemand weggeflogen. Warum? Wohin? Was hörte er/sie? Was sah er/sie? Warum hier und nicht zwanzig Schritte davor? Wie hieß er/sie? Als wir zu Hause sind, mache ich den Fernseher an. Bin mitten in einem Dokumentarfilm.

»Das weltweite Klima der abgelaufenen drei Millionen Jahre«, sagt eine Stimme, »ist geprägt vom Kommen und Gehen von über sechzig Eiszeiten. Hauptsächlich verursacht durch eine sich verändernde Neigung der Erdachse. Die Dauer eines solchen Zyklus der veränderten Neigung beträgt etwa einundvierzigtausend Jahre. Eine Kamera zeigt uns Bilder von abbröckelndem Eis. Die letzte Eiszeit war vor achtzehntausend Jahren. Berechnungen haben ergeben, dass es noch mindestens fünfzigtausend Jahre dauert, bevor auf der Erde eine neue Eiszeit entstehen kann. Ich brauche mir also deswegen keine Sorgen zu machen. Das Klima kann jedoch auch außer Kontrolle geraten, meinen dieselben Wissenschaftler. Zum Beispiel, wenn die Ozeane zu sauer werden, der warme Golfstrom sich abschwächt und es zu wenig Eis gibt, um Sonnenlicht zu reflektieren, oder wenn Methan aus dem Meeresboden und dem Permafrost (das ist Boden, der mehr als zwei aufeinanderfolgende Jahre gefroren bleibt) freigesetzt wird. Aber wo endet die Veränderung? Darüber herrscht große Uneinigkeit. Jeder Experte hat eine andere Theorie.

Ich sehe jetzt Bilder von Feuer spuckenden Bergen. Das ultimative Weltuntergangsszenario liefert der Planet Venus. Von der Masse und der chemischen Zusammensetzung her ist Venus eine Schwester der Erde. Aber durch eine andere Zusammensetzung der Atmosphäre ist Venus ein Inferno, ein Krematorium.

Durch einen anfänglich minimalen Temperaturunterschied zur Erde ist in der Atmosphäre viel Wasserdampf entstanden. Dadurch hat sich der Planet »schnell« erwärmt, wobei Wasserdampf durch die Schwerkraft entwich und im Weltraum verschwand. Es gibt kluge, besorgte Köpfe, die denken, dass die Erde auch so enden kann, aber sie sind noch in der Minderheit. Sie wissen einfach zu wenig, um etwas anderes Sinnvolles darüber zu sagen. Seit ich diesen Dokumentarfilm sah, schaue ich unseren Toaster mit anderen Augen an.

Nachher kommt das Schneideteam zu uns aufs Land. In jedem Winter helfen mir ungefähr fünfzehn fröhliche ältere Menschen beim Beschneiden der Weiden. Wenn der Boden noch nicht gefroren ist, pflanzen wir zusammen auch junge Bäume. Ein bisschen weiter unten steht bei uns ein richtiger Wald voller Geburtstagsbäume.

Heute geht es schief, ich passe nicht auf. Während ich tagträume, knallt mir ein vier Meter langer abgesägter Ast auf den Kopf. Ich sehe Sterne, wie in einem Comic. Ich stütze mich an einen Zaun. Ich denke, während ich nach Luft ringe, seltsamerweise an einen Begräbniszug in Utrecht. Ich war ungefähr fünf, es war 1951. Vier schwarze Pferde mit Scheuklappen zogen einen niedrigen Anhänger, auf dem ein Sarg lag, bedeckt mit weißen Blumensträußen. Dahinter gingen die Trauernden mit schwarzen Mänteln und Hüten. Eine Hausfrau kam nach draußen und goss eine giftig dampfende Flüssigkeit in die Rinne. Die Pferde erschraken, stellten sich auf die Hinterbeine und gingen in fliegendem Galopp durch. Die Totenkiste kippte auf die Straße. Erst auf dem Janskerkhof konnte man die in Panik geratenen Tiere beruhigen. Niemand wurde verletzt. Außer dem Toten. Er brach sich ein Bein.

Ich liege, noch ein bisschen benommen, auf dem Sofa, soll ich ein Paracetamol nehmen? Ich öffne meinen Laptop. Mich interessiert, zu welcher Baumart die Weide gehört, zum Mann, zur Frau oder zu beidem? Sie scheint zweihäusig zu sein, also gibt es männliche und weibliche Weiden. Als ich weiterlese, sehe ich, dass ich kein Paracetamol zu nehmen brauche. Weiden hätten, so lese ich, eine heilsame Wirkung gegen Fieber, Arthritis, Schlaflosigkeit und übermäßigen Geschlechtstrieb. Der Effekt bei Fieber und Arthritis könne durch die enthaltenen Salicylate erklärt werden. Weidenbast gebrauchte man früher gegen Rheuma und Gicht. Durch das Kauen eines Stückchens Bast kann man Schmerzen lindern. Darin steckt nämlich Salicin, der Hauptbestandteil von Aspirin. Neben der Anwendung bei inneren Erkrankungen kann Weidenbast auch äußerlich heilende Wirkung entfalten. Es wirkt ansteckungshemmend, blutstillend, wundheilend und infektionsbekämpfend. So, ich kann also ruhig liegen bleiben und die Schürfwunde in Ruhe lassen. Ich habe ja meine Gartenapotheke.

In einem Schlummerschlaf sehe ich mich wieder auf dem Asphalt liegen nach einem Unfall mit einem Motorrad. Ich kam mit einer schweren Gehirnerschütterung davon. Mama streichelte meine Schläfen mit beiden Händen, tat danach, als würde sie die Hände waschen, und blies meine Schmerzen wie die Schirmchen einer Pusteblume in die Luft.

Ich denke, dass wir die Bäume nicht retten können, aber die Bäume uns. Inzwischen sehe ich, wie ein Eichhörnchen wie ein Baumakrobat vom Vater zur Mutter und dann zu einem uralten Mutterbaum springt, der sich um seine Nachkommen kümmert. Reine Luft, sauberes Wasser, aber er sorgt auch für die umliegende Begrünung, sodass Nachkömmlinge in einer gesunden Umgebung aufwachsen können. Wenn ein solcher Mutterbaum altersbedingt Ast für Ast langsam umkippt, schenkt er im Fallen seinem Nachwuchs noch zusätzlichen Kohlenstoff. So achtet er auf seine alten Tage darauf, dass seine Nachkommenschaft weiterwachsen kann.

Das tut Lisa, unsere Katze, auch. Sie springt mir auf den Bauch und legt dort einen toten Vogel hin. »Für dich«, miaut sie, »für den kleinen Hunger zwischendurch.« Wir haben Lisa sterilisieren lassen, nachdem wir verstanden haben, dass in unserem Land mehr Vögel und Säugetiere im Maul von Katzen sterben als durch Pestizide und Giftstoffe, Kollisionen mit Windrädern, Autos und Wolkenkratzern oder durch alle anderen von Menschenhand gemachten Ursachen. Laut eines Erwachsenen-Rapports laufen in den Niederlanden zweieinhalb Millionen Hauskatzen und hunderttausend streunende Katzen herum. Laut einer ziemlich konservativen Schätzung muss man davon ausgehen, dass sie miteinander jährlich ungefähr hundertfünfzig Millionen Beutetiere verspeisen, hauptsächlich Vögel, aber auch Säugetiere, Reptilien und Amphibien. Es gibt Menschen, die für die Einführung einer Anleinpflicht plädieren, aber das erweist sich als eine Kriegserklärung an Katzenliebhaber, für die diese Tiere heilig sind. Sie können oder wollen nicht akzeptieren, dass ihre niedliche, süß schnurrende Katze auch eine Killerin ist.

Es klingelt. Ich stehe mit einem dröhnenden Kopf auf. Ich denke: Lisa hat ein Glöckchen an ihrem Halsband und ein Röhrchen mit ihrer Adresse. Vor der Tür steht der Zeitungszusteller und Amateurbiologe Hans. Er gibt mir eine Karte mit der Aufschrift »HAPPY NEW YEAR«. »Gefallen?«, fragt er, während er auf seinen Kopf zeigt. »Ich hab einen Ast auf den Kopf gekriegt.« – »Ja, das kriegt man«, lacht der Mann, »wenn man so schön unter all den Mutterbäumen wohnt.«