Frau van Veen, wollen Sie kaufen eine Geige?«, sagte der Zigeuner (den man damals noch so nannte) mit einem deutschen Akzent. »Schöne Geige, beinahe Stradivari. Hundert Gulden. Schönes Geschenk für Söhnchen. Braucht nicht mehr zu pfeifen. Nein? Sie wollen nicht kaufen Geige? Okay. Darf ich Ihnen dann aus der Hand lesen? Nahe Zukunft?«
Meine Mutter gibt dem Mann die Hand.
»Ah, Frau van Veen. Ich sehe, dass Sie in naher Zukunft werden kaufen Geige.«
Es gibt Plätze, wo die Sonne niemals hinkommt. Da findest du Menschen, die einsamer sind als du. Sie schlurfen Mauern entlang. Sie starren Figuren an, die man nur mit Augen anfassen darf. Dort gibt es Plätze, an denen der Mond eingerahmt ist. Lokale ohne Uhr, in denen es nie regnet. Man sieht dort Gäste, die zu sich selbst laut mit ihrer Mutter reden. Stiller oder lautstärker nach jedem Schluck. Dort gibt es Plätze, wo es nie schneit. Da findet man sie im Stockdunkeln. Sie sitzen mit Eimern voller Popcorn auf dem Schoß und starren auf das, was sie auch hätten sein können. Es gibt dort Menschen wie dich und mich.
Zum fünften Mal spielt der Barkeeper für mich, für mich allein, »Don’t Know Why« von Norah Jones.
Der Mann, den ich im Spiegel der Bar sehe, sagt annähernd verständlich zu einem Barkeeper: »Jeder Gedanke sendet eine Frequenz direkt ins Universum. Da wird der Gedanke reflektiert. Kommt also zu dir zurück.« Der Mann nimmt einen Schluck. »Wussten Sie das?«
»Nein. Wenn ich das wüsste, dann wäre ich heute Lehrer.« – »Nein, tut mir leid. Das war schon Ihr drittes letztes Glas. Das Leben beginnt morgen wieder früh mit den Kindern und so. Echt, wir schließen jetzt. Gehen Sie ins Bett. Es war ein harter Tag.«
»Soll ich Ihnen zur Tür helfen?«, fragte der Portier des Hotels. »Sie nach oben bringen? Sorry, das ist eine Kreditkarte. Damit geht keine Zimmertür auf. Ist das Ihr Mantel? Ihr Koffer? Ihre Geige? Träumen Sie schön.« – »Wissen Sie«, fragte ich den Mann verwirrt, bevor er die Tür hinter mir zumachte, »wie schwierig es ist, ohne Auto einen Parkplatz zu finden?«
Als ich klein war, dachte ich: Wenn meine Schwester ihren Po verlieren würde, das will ich nicht, aber wenn sie ihren Po verlieren würde, bekäme ich ihr Fahrrad. Wenn auf Jopie ein Betonblock fallen würde, das will ich nicht, aber wenn auf Jopie ein Betonblock fallen würde, dann wäre ich in unserer Fußballmannschaft Mittelstürmer. Wenn mein kleiner Neffe durch eine Kreissäge seine Füße verlieren würde, das will ich nicht, aber wenn er durch eine Kreissäge seine Füße verlieren würde, dann dürfte ich mit seiner kleinen Trommel beim Umzug vorausgehen. Wenn die Arme von Anneliesje durch etwas Unbegreifliches wie Würfelzucker im Tee schmelzen würden, das will ich nicht, aber wenn ihre Arme im Tee schmelzen würden, dann dürfte ich an ihrer Stelle mit Sharon Frank im Gebouw voor Kunsten en Wetenschappen das Doppelkonzert für zwei Geigen von Johann Sebastian Bach spielen.
Das Financieel Dagblad lud mich ein, über ein paar gute Dinge in meinem Leben zu schreiben in dreihundertsiebzig bis dreihundertachtzig Wörtern, nicht mehr und nicht weniger.
Eisblumen auf Fenstern, frischer Schnee.
Mutter, die mit Erwachsenenhänden in der Spüle meine kleinen Fäuste mit grüner Seife wäscht, einen Tropfen Salzwasser von meinen Wangen abwischt.
Vorn im Kindersitz auf dem Batavus-Fahrrad meines Vaters sitzen.
Mein erster Erwachsenenkuss hoch oben in den Tiroler Alpen.
Zu sehen, wie Kinder geboren werden.
Die Wörter »Erstauflage« in einem kleinen Band mit zaghaften Gedichten.
Der Gang zu einem Mikrofon, den Kopf voller Pläne.
Das Anspitzen eines Bleistifts, ganz vorsichtig, damit die Mine nicht bricht, oder das ebenso behutsame Schälen eines Apfels.
Die Stille am vierten Mai, dem niederländischen Volkstrauertag. Und dann das Läuten der Glocken.
Immer das Meer zu sehen, egal bei welchem Wetter.
Bewunderung zu empfinden für Mozart, Schubert, Bach, Glass.
Alten Whisky zu trinken, junge Schnäpse, stillen Rotwein.
Ein Stückchen Leberwurst mit einer Perlzwiebel darunter auf einem Zahnstocher.
Lesen, schreiben, schmusen, spazieren gehen und wieder von vorn.
Das Ausschalten des Geschirrspülers, unserer hat ein kleines Lämpchen, das anzeigt, dass er fertig ist. Das langsame Ausräumen der Teller, Tassen, Gläser und der Töpfe. Das Einsortieren der Gabeln, Löffel, Messer zu den Gabeln, Löffeln, Messern.
Genau zu wissen, dass ich nicht meine Gedanken bin.
Der Duft von Kaffee mit Zimt.
Eine Fliege, die meine wippenden nackten Füße neugierig machen.
Ein Schokoladenbrötchen.
Zwei Zitronenfalter, die von Blume zu Blume flattern.
Eine leichte Brise.
Eine Elster, die eine Amsel verjagt.
Eine Frau, die »Protect Bronze« auf meinen kahlen Kopf schmiert.
Jemanden zu hören, der glücklicherweise aufhört zu mähen.
Die Erkenntnis, dass ich mich noch an schöne Dinge erinnern und mich auf sie freuen kann.
Cecilia Bartoli singen zu hören, John Lennon, Edith Leerkes oder Piaf.
Geigenstunden von Fräulein Doornekamp zu bekommen.
Utrecht, 31. August 1976
Lieber Herman,
gestern las ich in der Zeitung, dass unser großer Meister Wim Kan Dir den Louis Davidsring überreicht hat. Es ist der größte Preis, der Dir zuteilwerden kann, sehr, sehr herzlichen Glückwunsch. Möge dieser Ring ganz lange in Deinem Besitz bleiben und Dir viel Glück bringen. Dass Du Deine Kunst noch sehr lange ausüben kannst zu Deiner Freude und der Deines Publikums, ist mein inniger Wunsch.
Nochmals herzlichen Glückwunsch und viele herzliche Grüße, auch an Marlous von
To Doornekamp
1962 machte ich die Aufnahmeprüfung am Utrechter Konservatorium. Da stand ich würdevoll auf der Bühne in einer gepflegten neuen, mit meiner Mutter bei C&A gekauften grauen Hose. Mit einem Hemd, mit Krawatte und einem dunkelblauen Sakko mit silbernen Knöpfen. Begleitet von dem echten Pianisten Laurens van Rooyen, spielte ich ein kleines Violinkonzert von Corelli. Klappte picobello, bis ich vor lauter Begeisterung beim Presto den Notenständer mit einem vehementen Aufstrich umwarf. Laurens hatte es nicht mitgekriegt. Während ich verzweifelt meine Notenblätter aufsammelte, pfiff ich meine Partie todernst weiter. Ein schallendes Gelächter erhob sich vom Kommissionstisch. »Es ist gut«, sagte Herr van den Boogert, »oder?«, während er seinen Kollegen hinter dem Tisch zunickte. Er wischte die Gläser seiner Brille sauber und fuhr fort: »Junger Mann, du bist von Herzen willkommen.« Als ich perplex den Flur entlangging, wo mein Vater, meine Mutter und Fräulein Doornekamp auf mich warteten, brauchte ich nichts zu sagen, meine Miene war so glücklich, dass Worte überflüssig waren.
Fräulein Doornekamp war eine alleinstehende Frau. Sie wohnte in einem gepflegten Zweizimmerappartement am Wasser, gegenüber dem Muntgebouw, dem Gebäude, wo unsere Münzen geprägt werden. Zehncentstücke, Viertelgulden, Cents, Gulden und Reichstaler. Gedenkmünzen wie die von der ersten Mondlandung. Alles stand bei ihr so angeordnet, als wäre es dort gewachsen. Die Pflanzen auf der Fensterbank, die Bücherreihen in dem Bücherschrank, die glänzende Kommode, die Tischlampe, die Porzellantassen und die Teekanne auf dem Tisch.
Meine erste Geigenstunde bekam ich von ihr auf der Musikschule in der Lange Nieuwstraat. Aber das fand sie zu unruhig mit dem Verkehr und den Glocken vom Dom. »Komm lieber zu mir nach Hause, Herman.« Niemand nannte mich damals Herman, es hieß immer Herre, Jochie oder Hempie. Hempie, weil mein Hemd immer aus der Hose hing.
Ihre Welt war eine Welt der Kultiviertheit, Fantasie, Ästhetik. Ich fand sie spannend. Das Fräulein trug Nylonstrümpfe mit einer Naht und einen edlen Plisseerock. Ich fragte mich, warum sie mittwochnachmittags Sonntagskleidung trug. Das Fräulein hatte Zeit für mich und Aufmerksamkeit. Es war eine neue Mutterschaft, mit der ich es zu tun hatte. In den ersten Monaten zauberte ich nur Gekrächze und Gewimmer aus der Geige, unerträglich anzuhören. Aber wenn Fräulein Doornekamp vorspielte, hörte ich den Topf voller Gold am Ende des Regenbogens. Sie hat mir beigebracht, die Geige zu lieben. Wenn ich eine Note spielte, die da gar nicht stand, sagte sie: »Lieber Junge, du schummelst.«
Eine Geige ist sowohl ein Solo-Instrument als auch ein Ensemble-Instrument. Man kann sich also am Zusammenspiel erfreuen als auch alleine spielen. Ich betrachte mich in erster Linie als Sänger, aber eine Geige, die singt, ist fast so schön wie eine vom Atem getragene Stimme. Beim Singen kann man die Kontrolle über die Emotionen verlieren durch Ermüdung, Frustration oder Machtlosigkeit. Mit der Geige ist die Beherrschung einfacher, weil sie ein technisch-handwerkliches Instrument ist. Meine Verbindung zur Geige basiert auch auf dem Geruch, einer Mischung aus Harz, Holz und Öl. Nach einem hektischen Tag kann ich noch so unruhig in die Garderobe kommen, wenn ich meinen Geigenkasten öffne und den Geruch schnüffle … komme ich zur Ruhe. Es ist beinahe ein Ritual, der Auftakt zum Glück. Dafür brauche ich immer noch eine Geige.
Die Geige war für mich, wie schon gesagt, ein Wendepunkt. Auf der Straße war das Leben rau, man stand still oder man rannte, man schrie oder man flüsterte. Ich war ein Junge, der bei der Aufstellung für ein Fußballspiel so ungefähr als letzter gewählt wurde. Ich war auf keinem Gebiet schlecht, aber ich ragte außer beim Singen sonst nirgendwo heraus. Bis ich das Instrument in die Hände bekam. Ich konnte glänzen, die Geige wurde eine starke Waffe. Kein Mädchen hatte Augen für mich, bis ich anfing zu spielen.
Sechs Jahre habe ich Geigenunterricht bei To Doornekamp gehabt. Unterricht in Streicharten, allen möglichen Fingerpositionen, im Entwickeln eines Vibratos, Doppelgrifftechniken, Unterricht im Umschlagen von Notenblättern, Verbeugen nach einem Konzert, Auf-die-Bühne-Kommen und Von-der-Bühne-Gehen. Unterricht in Kompositionslehre am Beispiel großer Komponisten. Sechs sorglose Jahre. Sie zu kennen, ihre Aufmerksamkeit zu spüren, gab mir Selbstvertrauen. Ich hatte tatsächlich eine Mutter an meiner Seite. Sie sagte manchmal: »Was für ein tolles Hemd, warum guckst du so traurig?« Oder: »Was hast du gemacht? Wie geht’s dir in der Schule? Hast du schon eine Freundin? Du musst mal das hier lesen. Geh mal zum Streichquartett ins K&W (gemeint ist das Gebouw voor Kunsten en Wetenschapen, ein berühmter Musiksaal in Utrecht, Anm.d. Übersetzers). Und Sonntagmittag spielt das Concertgebouw-Orchester Mahler im Radio.«
Meine ganze Mittelschulzeit hat sie bereichert mit ihrer Aufmerksamkeit für mein Wesen. Sie ließ mich bei Konzerten spielen, lieh mich an Ensembles aus. Fräulein Doornekamp war meine Geheimwaffe. Ich wollte sie niemals enttäuschen. Sie bereitete mich engagiert auf die Aufnahmeprüfung des Utrechter Konservatoriums vor, regelte meine Gesangs-, Harmonielehre- und Solfègestunden. Ihr verdankte ich, dass ich die Prüfung mit Bravour bestand. Ich wurde Musikstudent.
Neulich fand ich in einer Schachtel mein eingerahmtes Konservatoriumsdiplom: Musikunterricht-Akte A. Utrecht, 12. Juni 1962. Unter dem Stempel »Je maintiendrai« steht: »Der vom Minister von Kultur, Freizeit und Sozialarbeit berufene Regierungskommissar bescheinigt, dass diese Urkunde überreicht wurde nach einem Examen, das gemäß der staatlichen Anforderungen und Rechtsvorschriften unter seiner Aufsicht abgehalten wurde.«
Ohne meine Geigenmutter hätte ich weder die Anforderungen noch die Rechtsvorschriften erfüllt.
Ich weiß nicht, wie es mit Fräulein Doornekamp ausgegangen ist. Meine Eltern wohnten im selben Block wie sie, mit Aussicht auf die Bäume. Sie grüßten sie noch lange von mir. Und immer ließ sie zurückgrüßen. Bis meine Eltern, schon in ihren Achtzigern, umzogen; Mama ins Krankenhaus und Papa zu uns. Seitdem habe ich nichts mehr von dem noch älteren Fräulein gehört und sie nichts mehr von mir, bis ich hörte, was man schließlich hört: Es ist vorbei.