Die Hotelbar war so gut wie verlassen. Ich saß auf dem Rand meines Barhockers und unterhielt mich mit meiner toten Mutter über die Relativität von Schwestern. Eine Dame auf hohen, zwickenden Hacken, schon lange keine zwanzig mehr, nahm neben mir Platz und fragte: »Bist du zu spät gekommen?« – »Vielleicht«, sagte ich. Sie flüsterte: »Du weißt doch, dass ich die Liebste bin.« – »Darf ich fragen, wie Sie heißen?« – »Claire …«, sagte sie lächelnd. »Hallo, Claire.« Sie ergriff mein Weinglas und goss den ganzen Inhalt in ihr Glas, nahm ein Schlückchen, hob den Blick, senkte ihn dann und glitt mit ihrer freien Hand in meine Hosentasche. Sie kitzelte mit zwei Fingern meine Eier und gab mir danach einen gewagten Kuss.
Mehr weiß ich nicht mehr. Wir haben in unserem anderthalb Kilo schweren Gehirn eine elektronische Datenverarbeitung von sechsundachtzig Milliarden Neuronen, die blitzschnell in Form von elektrischen Impulsen hin- und herschießen. Da oben kann viel schiefgehen.
»Mata Hari unter dem Hammer. Irgendwo auf einem Dachboden ist eine Schachtel mit Sachen der vermeintlichen Spionin und Tänzerin gefunden worden. 2017 wurde vom Amsterdamer Auktionshaus De Zwaan eine Anzahl persönlicher Gegenstände von Margaretha Zelle alias Mata Hari versteigert, darunter Schmuck und Unterwäsche. Gesamterlös: Siebzehntausend Euro. Fast das Zehnfache des Schätzwertes«, lese ich in der Zeitung. Ich schrieb über diese Frau aus Friesland das Theaterstück Schuldig oder naiv?, weil ich nach der Lektüre vieler Bücher über diese Dame der Meinung war, dass Mata Hari in erster Linie der Naivität schuldig gewesen ist und von den Medien und der Politik als pikante Ablenkung gebraucht wurde. Wie man in einem solchen Fall dann sagt: »Eine teure Hure, die wohl, weil sie doch … es kann ja nicht anders sein. Hab ich immer schon gedacht.« Dass Bewunderung in Hass umschlägt, das gibt es seit jeher. Oder, wie der Soziologe Abram de Swaan sagt: »Bewunderung ist nichts anderes als domestizierte Missgunst.« Es gab, es gibt keinen echten Beweis. Ich falte die Zeitung zu und denke an Tante Ella.
Meine Mutter war mit zwei Frauen befreundet, die wir heute Sexarbeiterinnen nennen. Eine war eine gute Freundin, die bezahlte Liebe als Liebhaberei betrieb, eine enthusiastische Hobbyistin. Die andere war eine gute Bekannte, die eine Professionelle war. Sie wohnte zwei Laternenpfähle weiter oben auf unserer Seite der Straße. Ich nenne sie in dieser Version der Geschichte Tante Ella.
Alle Frauen in unserer Straße nannten wir Tante. Tante Tbc wohnte in einer Scheune hinten im Garten von Tante Scherenschleifer. Da durften wir als Kinder nicht hin, da konnte man sich anstecken. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Tante Jesses-Maria-und-Joseph! war Witwe. Nicht dass sie das war, aber sie wollte nichts mehr von ihrem Mann Koos, dem Straßenarbeiter, wissen. Koos war fremdgegangen mit Tante Pferdeschlachter. Für sie war mein Onkel Koos gestorben. Die Tante hatte, nachdem sie den Ehebruch entdeckte, alle Sachen von Koos aus dem Fenster geschmissen, auch seine ganze Briefmarkensammlung. Onkel Koos war dann als Kostgänger bei Tante Lumpenschneider gestorben. Unsere Tante Anna nannten wir Tante Fingerhut. Sie machte aus alten hässlichen Kleidern neue hässliche Kleider. »Mein Junge«, sagte sie an einem Samstag, »mein Bügeleisen ist kaputt, und ich habe kein Geld für ein neues. Komm, Junge. Es könnte sein, dass ich dir gleich eine Frage stelle, wenn ich das tue, sagst du dann bitte ›Nein‹?« Wir machten uns auf den Weg in die Galeries Modernes in Utrecht. Ich sah, wie sie da eine Schachtel nahm, in der ein nigelnagelneues Bügeleisen steckte. Sie ging entschlossen zur Kasse: »Junge Frau, dieses Bügeleisen hatte ich meiner Schwester zum Geburtstag gekauft, aber ihr Mann hatte auch eins gekauft. Und sagen Sie selbst, was soll man mit zwei von diesen Bügeleisen anfangen? Darf ich dieses zurückgeben?« – »Kein Problem, haben Sie den Kassenbon noch?« – »Herman, hast du noch den Kassenbon?« – »Sie haben keinen Kassenbon? Tja, dann können wir Ihr Bügeleisen leider nicht zurücknehmen.« – »Schade. Dann nehme ich es wieder mit nach Hause.«
Tante Ella praktizierte zu Hause. Ich schrieb einmal ein Lied darüber: Ein Mal klingeln – Kunde, zwei Mal klingeln – Stammgast, drei Mal klingeln – Frau, vier Mal klingeln – Familienmitglied, fünf Mal klingeln – ich mit der Zeitung. Sie war eine Kreuzung aus dem Filmstar Doris Day und einem Pudel. Sie hatte besondere Augen. Grünlich wie ein seltsames Tier. Sie trug meistens Schwarz mit etwas Rotem. Oft einen engen Bleistiftrock mit Schlitz und Nylonstrümpfe mit einer Naht über der Wade. Strapse. Ihre Brüste trieben wie zwei Kinderköpfchen in einem U-Boot-Ausschnitt. Schlanke Fesseln, ein unwahrscheinliches Lachen, Augenaufschlag wie eine Eule, HEMA-Haarlack, Bienenkorbfrisur mit Pony. Roch immer nach einem Hauch Schweiß. In meinen Pubertätsjungenträumen ging ich regelmäßig als der große unbekannte Stille zu ihr. Ich habe auf diese Weise öfter mit ihr geschlafen als mancher Kunde. In diesem Traum kam mir einmal auf der Treppe Max entgegen. Er war auch verliebt in Ella. Wir haben auf der Treppe gekämpft wie zwei läufige Kater. Ich verlor, weil Max träumte, er wäre Filmheld Eddie Constantine.
Ella hatte eine Schwäche für weiße Pudel, ihr Haus stand ganz im Zeichen des Pudels. Dort hingen Gemälde mit Pudeln, Vorhänge mit Pudeln, Geschirrtücher, Handtücher, Waschlappen mit Pudeln, Pudelkissen, eine Pudel-Teemütze, und sie trug Pudelpuschen. Ella glich ihren Pantoffeln. Über ihrem Kamin hing eine Reproduktion von Mata Hari mit einem Pudel. Das erklärt vieles.
Bevor ich mitbekam, was Ella machte, klingelte ich einmal bei ihr, um den Abonnementbeitrag für die Zeitung einzukassieren. Da kam zufällig mein Freund Robbie vorbei und rief: »Hurenbock!« Ich verstand das nicht. Sprach mit meinem Vater darüber. »Herre, Ella ist lieb zu unglücklichen Männern und nimmt dafür Geld.« – »Also so was Ähnliches wie ein Doktor?« – »Genau, mein Junge.«
Tante Ella hatte keine Kinder, also wurden meine Schwestern und ich aus Mutters Freundlichkeit manchmal an sie ausgeliehen. Zur Geselligkeit oder für einen Job.
»Herman, gehst du mal bitte ans Telefon?«, rief Ella. »Ich sitze auf dem Klo.« – »Tante, es ist ein Kees.« – »Sag ihm, dass ich in ihn für fünfundzwanzig Gulden verliebt sein kann, und für fünfunddreißig Gulden spiele ich auch Blockflöte.« Ich verstand es immer noch nicht.
Es war Sommer. Tante Ella hatte einen Kunden, der einmal pro Jahr vorbeikam, weil er beim Zirkus arbeitete. Der Mann stand darauf, Durchschnittsfamilie zu spielen. Nach dem Lieber-Gott-segne-diese-Speise-Amen ging er ins Bett, gefolgt von Tante Ella in einem Baby Doll. Wir, die sogenannten Kinder, waren dann fertig und durften wieder nach draußen. Das traf sich gut, wir wollten uns in den Zirkus hineinschleichen, weil wir die uns versprochenen Karten nicht bekommen hatten.
»Sie suchen Jungs, die im Tausch für Freikarten mithelfen, den Zirkus aufzubauen«, sagte mein Freund Jan, »kommst du mit?« In dem Moment, in dem das Zeltseil hochgezogen werden sollte, kamen Jan und ich auf dem Utrechter Neude-Platz an. Wir mussten sofort an die Arbeit. Mit mindestens fünfundzwanzig Mann zogen wir wie die Galeerensklaven in Ben Hur Stück für Stück das riesige Zirkuszelt um die schon aufgebauten Tribünen hoch. »Eins, zwei, eins, zwei!«, schrie ein Gigant von einem Kerl mit einem Schnurrbart wie ein Walross. Ich glaube, es war ungefähr sechs Grad über null, doch der Typ brüllte mit entblößtem Oberkörper. Er hatte einen ungeheuren Bauch, den er offensichtlich auf seinem Schambein festgenietet hatte. Als das Zelt stand, wurde applaudiert.
Überall Betriebsamkeit. Pferde wurden gestriegelt, Seehunde bekamen Fisch. Braunbären Fleischstücke, Elefanten wurden angekettet, Löwen brüllten, Akrobaten spannten Kabel zwischen Masten, Kleinwüchsige bauten die Kasse auf und danach einen Triumphbogen mit Lämpchen, unter dem noch am gleichen Abend das hochgeehrte Publikum gehen würde. »He Jungs!«, rief eine Frau, die ein bisschen meiner Tante Jans ähnelte. »Helft ihr mir mal eben mit der Kiste?« Wir schleppten sie in einen Wohnwagen, in dem es innen so zirkusecht aussah, dass es irreal wirkte. Auf einem Kästchen stand eine Glaskugel. Sollte die Frau Wahrsagerin sein? Sie schien meine Gedanken gelesen zu haben. »Nein«, sagte sie, »die Kugel benutze ich für die Rechnungen, damit sie nicht wegwehen. Die Zukunft sehe ich in den Teeblättchen. Danke. Ach ja, kannst du mir noch kurz mit der Wäsche helfen? Alles, was im Korb liegt, musst du zum Trocknen aufhängen. Wäscheklammern liegen da.« Sie steckte sich eine Zigarette an. »Auch eine?« Ich hätte besser nicht Ja gesagt. Rauchen musste man offensichtlich geübt haben. Sie musste über meinen Hustenanfall schrecklich lachen. »Wie heißt du? Gehst du noch zur Schule? Was willst du werden?« – »Auf alle Fälle etwas mit Musik.« Der Mann mit dem Schnurrbart kam herein. Wasser lief ihm die Schläfen entlang. »Hast du Kaffee?« – »Nein, aber der ist schnell gemacht. Das ist mein Assistent«, sagte sie, während sie mir zuzwinkerte und anfing, an einer Kaffeemühle zu kurbeln. Der Mann holte keuchend einen Koffer aus einem Schrank und machte ihn auf. Ich sah eine rote Perücke, allerlei Schuhcremedosen und eine Handvoll Clowns-Nasen mit einem Gummiband. »Sind Sie …?« Der Mann zog eine Augenbraue hoch. »Was meinst du?« Ich finde Clowns unheimlich, dachte ich. Aber so etwas konnte man natürlich nicht sagen, wenn man einem gegenübersaß. Ich hatte, als ich klein war, von meiner Tante Rico eine Puppe bekommen. Einen Clown aus Holz, eine Marionette, die ich unter meinem Bett versteckt hatte, weil ich fand, dass sie gruselig blickte. »Kommst du zur Vorstellung?« – »Wenn wir Karten bekommen.«
Direkt vor dem großen Finale wurden wir erwischt. Ich wurde am Schlafittchen gepackt und von einer kräftigen Männerhand nach draußen geschleppt. »Und wen haben wir denn hier?«, fragte ein Mann den Typen, der mich gefangen hatte. Ich wurde ans Licht gezerrt und angestarrt von Tante Ellas Zirkuskunden. »Mein Sohn«, sagte er verwirrt.
»Mama, wir haben uns in den Zirkus geschlichen. Da waren Elefanten, die in meine Ohren trompeteten und auf ihren Hinterbeinen stehen konnten. Seehunde, die Volleyball spielten, ein Löwenbändiger ohne Bein, Tiger, die durch brennende Reifen sprangen, wirklich wahr, und Akrobaten. Da war ein Messerwerfer, der mit seinen Messern auf einen Apfel auf dem Kopf eines Schneewittchens im Bikini zielte. Und danach schoss er mit Pfeil und Bogen Engelchen, die durch die Luft schwebten, vom Himmel. Ein Mädchen in meinem Alter, das mit einem kleinen Schirm aus Schmetterlingen über ein Seil ging, das an der Sonne und dem Mond festgemacht war. Sie stürzte nach unten und fiel in ein Netz, und danach landete sie wieder auf dem Seil. Und eine Schlangenfrau, sie konnte aus ihrem Körper einen Knoten machen. Da waren Cowboys und Indianer mit einer Postkutsche.« – »Waren da keine Clowns?« – »Doch, aber die fand ich unheimlich. Außer einem, der von ganz hoch in einen Eimer Wasser tauchte.«
Danach erzählte mir mein Vater einen Witz von einem Clown im Krieg: Der Clown, der Clown da in der Manege ist ein Jude!, schrie jemand im Publikum. Kurz darauf kamen Männer in Uniformen herein. Einer überreichte dem Clown einen Haftbefehl. Mit zitternden Händen riss der Clown den Briefumschlag auf. Tränen liefen ihm über die Wangen. Ein Mädchen in der ersten Reihe rief: »Clown, Clown, warum musst du jetzt weinen?« Der Clown sah sie an und sagte: »Ich kann nicht lesen.«